Geister der DDR

Die Berliner Mauer 1962: Geister aus der DDR-Vergangenheit spielen im Buch "Die komische Frau" eine tragende Rolle.
Die Berliner Mauer 1962: Geister aus der DDR-Vergangenheit spielen im Buch "Die komische Frau" eine tragende Rolle. © Deutschlandradio
23.08.2010
Eine junge Frau fühlt sich von Geistern der Geschichte verfolgt und kann schließlich nicht mehr unterscheiden, was Realität und Fiktion ist. Das neue Buch von Ricarda Junge vereint Genre-Elemente aus Krimi, Generationenporträt und Ost-West-Roman.
Gleich hinter der Berliner Karl-Marx-Allee gehen seltsame Dinge vor. In einem Haus, in dem hauptsächlich alte Leute wohnen, scheinen sich Geister eingenistet zu haben, Geister der Verstorbenen. Das glaubt zumindest die Protagonistin von Ricarda Junges neuem Roman. Lena ist Schriftstellerin in Auftragsnot und zieht mit ihrem Freund und dem kleinen Sohn in dieses Haus, dass Teil der pompösen Staatsarchitektur der frühen DDR war und nun immer noch die Bewohner von damals hat – nur eben gealtert. Menschen, die ans System glaubten und in ihm aufgestiegen waren.

Nun taucht dort die aus dem Westen stammende junge Familie auf. Dabei begegnen ihr die Alten nicht feindselig, sondern einfach nur mit dem Wissen, dass da ein Stück andere Welt einbricht. Die Welt von prekär lebenden Kreativarbeitern, die von ihren Aufträgen einigermaßen auskömmlich leben können – aber ebenso wissen, wie es ist, wenn die Einnahmen stocken oder für eine Weile ganz ausbleiben. Lenas Freund ist Journalist, träumt aber eigentlich von linken Gesellschaftsprojekten, lehnt sogar Aufträge ab, die er politisch nicht vertreten kann, weil etwa der falsche Auftraggeber dahinter steht.

Dann bekommt er ausgerechnet ein Jobangebot von der deutschen "Vanity Fair", inzwischen ja längst verblichen. Er nimmt an und ist kaum mehr zu Hause. Dort ist aber Lena umso mehr. Sie lernt die Bewohner des Hauses kennen. Und damit auch die Geister dieses Ortes. Verstorbene, die plötzlich sichtbar werden, wenn auch nur als Schatten oder Ahnung, eben wie die "komische Frau" aus dem Romantitel. Lenas kleiner Sohn fürchtet sich vor ihr, glaubt sie zu sehen, wo sie nicht ist, und dann bekommt Ricarda Junges souverän und gleichzeitig kühl erzählter Roman einen Dreh in Richtung Krimi.

Genretypische Spannung kommt auf, als sich die Protagonistin fragt: Wer hat die Heizungen aufgedreht? Warum war die Herdplatte eingeschaltet? Woher kommen die Flecken auf dem Boden? Warum brennt die Kerze auf dem Tisch? Und wer hat die Tür von außen verschlossen? Sie fürchtet, dem Wahnsinn nahe zu sein. Wer dringt in ihre Wohnung ein? Wer verfolgt sie? Ist es Frau König von ganz oben? Ist es Herr Kaltental, der eigentlich anders heißt, aber seine Identität aus guten Gründen seit dem Ende der DDR geheim hält? Ist es die Vormieterin, von der es doch heißt, sie sei tot?

Lena wird nicht nur nervös, sie fällt in eine Krise. Sie weiß nicht mehr: Was ist Realität und was Fantasie. Und: Ist beides wirklich unterscheidbar? Eins ist sicher: Die Ängste und Ungewissheiten aus ihrem realen Leben trägt sie mit in dieses Haus. Hier, wo gesellschaftliche Extreme aufeinander treffen, kommen sie hoch.

Ricarda Junge, Jahrgang 79, Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, legt mit ihrem dritten Roman ein ausgefeiltes Stück Literatur vor, dass mit Verwirrungen und Realitätsspielen aufwartet. Mann kann ihr Buch als Krimi ebenso lesen wie als Generationenporträt der um die 30-jährigen, aber auch als Ost-West-Roman – auch wenn im Osten sozialisierte Leser schnell spüren dürften, dass Ricarda Junges Erkenntnisse über die DDR angelesen sind. Es tut der Wirkung des Romans aber kaum Abbruch.

Besprochen von Vladimir Balzer

Ricarda Junge: Die komische Frau
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2010
190 Seiten, 17,95 Euro
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