Gegenwart lesen (2)

1968 - erinnern oder vergessen?

Robert Lebeck: Rudi Dutschke, Wortführer der deutschen Studentenbewegung, bei einer Rede in der Prager Karls-Universität, 3. April 1968
Robert Lebeck: Rudi Dutschke, Wortführer der deutschen Studentenbewegung, bei einer Rede in der Prager Karls-Universität, 3. April 1968 © © Archiv Robert Lebeck
Aleida und Jan Assmann im Gespräch mit René Aguigah · 30.03.2018
Für die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann haben die 68er die Erinnerungskultur der Bundesrepublik maßgeblich aufgebaut. Was davon ist heute noch gültig, und was wird inzwischen in Frage gestellt?
Ob sie 68er seien? Aleida Assmann ist 1947 geboren, Jan Assmann 1938. Die neun Jahre Altersunterschied hätten ein unterschiedliches Verhältnis zur Revolte von 1968 bewirkt, erzählt Aleida Assmann. Sie habe während ihrer Studienzeit in Tübingen an Lesekreisen in K-Gruppen teilgenommen.
Jan Assmann, auch wenn er zu jener Zeit als junger Wissenschaftler mit Ausgrabungen in Ägypten beschäftigt war, habe den Aufbruch ebenfalls mitbekommen und etwa die alten Zöpfe der Ordinarien-Universität abschneiden wollen. "Aber das Ideologische der 68er war mir in der Seele zuwider", sagt er.
Nähen und Fernen also zur Generation des Protests, und jedenfalls war der Weg zur bürgerlichen Existenz schon eingeschlagen: "Immerhin, 1968 haben wir geheiratet."

Kriegserlebnisse prägen Generationen

Der Altersunterschied ist vor allem spürbar, als die Rede auf das "Körpergedächtnis" kommt und was sich darin aus der Kriegs- und Nachkriegszeit niederschlug. "Ich bin kriegsschadenfrei aufgewachsen", sagt Aleida Assmann.
Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, aufgenommen am 25.01.2015 in Köln.
Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Jan Assmann erinnert sich dagegen an den Sirenenlärm, der ihm als Kriegskind unter die Haut ging, und vor allem an die Nachkriegszeit in seiner Heimatstadt Lübeck – an schottische Soldaten und ihren Abzug, an Hunger und Entbehrung, an marodierende Scharen, die zu Mord und Totschlag in der Lage waren.
Erlebnisse wie diese prägen Generationen, und Generationen prägen auch die Art, wie Vergangenes erinnert wird. Erinnerungskultur ist eines der großen Themen, das die beiden Kulturwissenschaftler in ihrer Arbeit miteinander verbindet.
Und im Gespräch wird deutlich: Es waren die 68er, die die Erinnerungskultur der Bundesrepublik maßgeblich aufgebaut haben – seit den 80er-Jahren. "Generationen werden immer auf ihre Jugendphase festgelegt. Aber diese Generation hat Entscheidendes zwanzig Jahre nach 68 geleistet."
Auch die ältere Generation der Flakhelfer – die Geburtsjahrgänge 1926 bis 1928 – habe maßgeblichen Anteil an Aufbruch und Öffnung der Bundesrepublik. Und an der Generation der friedlichen Revolution von 1989 hebt Aleida Assmann hervor, dass sie von ungezählten Menschen getragen worden sei, die sich nicht auf den einen großen Namen reduzieren lasse.

Heute toben wieder Debatten um Erinnerung und Identität

Unter Erinnerungskultur, im Unterschied etwa zu Geschichtspolitik, verstehen Aleida und Jan Assmann, grob gesagt, die Fähigkeit, sich auch kritisch auf die eigene Vergangenheit zu beziehen, mit einer Vielfalt von Praktiken, zu denen Gedenkreden ebenso wie Stolpersteine gehören können.
Auch wenn sich die wissenschaftlichen Debatten über Themen wie Gedächtnis und Erinnerung inzwischen von jenen Überlegungen entfernt haben mögen, wie sie Aleida und Jan Assmann in den 80er-Jahren zum "kulturellen Gedächtnis" begonnen haben, so toben doch heute in der breiten Öffentlichkeit verschiedene Debatten um Erinnerung und Identität.
Jan Assmann
Der Ägyptologe Jan Assmann.© Deutschlandradio / Jana Demnitz
Nicht zuletzt in der aktuellen Debatte um den Islam geht es um Identität. Oder, wie Jan Assmann sagt: "Diese unsägliche Rede vom Islam, der zu Deutschland gehört oder nicht. Was gehört zu Deutschland? Ist das ein Immunsystem, das Fremdkörper abstößt?" Das sollte es in Assmanns Augen nicht sein, denn: "Für mich wäre es ein Schreckensbild, die Vorstellung, in einem christlichen Staat zu wohnen, wo Nichtchristen Bürger zweiter Klasse sind. Das wollen wir hier nicht. Und ich meine überhaupt, dass die Rolle einer Staatsreligion der Religion am schlechtesten bekommt. Das sollte es eigentlich nicht geben. Deutschland sollte ein Land sein, in dem die Frage, ob der Islam dazugehört, gar kein Thema ist. Selbstverständlich, das ist ein säkularer Staat, der alle möglichen Religionen beheimatet."

"Hören und Dazugehören hängen zusammen"

Und Aleida Assmann empfiehlt, in den aktuellen Debatten um kollektive Identität auch die deutschen Erinnerungskultur zu öffnen: die "Neuankömmlinge" im Land nicht nur in die überlieferte deutsche Erinnerungskultur einzubeziehen, sondern ihnen auch zuzuhören. "Hören und Dazugehören hängen zusammen."
Ähnlich der Blick auf die Veränderungen des Erinnerns durch die koloniale Vergangenheit Europas: "Sie wartet immer noch darauf, dass sie einen Platz bekommt, auch im Gedächtnis der Bewohner. Wir sind allerdings gerade an einem Punkt, wo sich etwas zu bewegen anfängt." In Deutschland insbesondere beim Aufbau des Humboldt-Forums: "Die Frage ist, ob es eingeschlossen bleibt in einem Schloss, symbolisch in dem preußischen Schloss verharren wird, in dem es sitzt, oder ob es wirklich zu einem Forum wird, zu einer öffentlichen Bühne, wo etwas von der Vielheit von der Geschichte der Beziehungen sichtbar wird."
Fünf erwachsene Kinder haben Aleida und Jan Assmann – "nicht nur ein Glück, auch ein Segen", wie Aleida Assmann sagt. Und dies auch, weil das Gespräch mit der folgenden Generation für sie ein "test case" sei, wie man heute die Welt wahrnehme. Und Jan Assmann, der Altertumswissenschaftler, ergänzt: "Wir sprachen hier über 'Gegenwart lesen'. Meine Kinder sind da auch eine Art Brille, eine Lesehilfe für die Gegenwart."

Den ersten Teil des Gesprächs von René Aguigah mit Aleida und Jan Assmann: Gegenwart lesen - "Die Rechte ist keine unterdrückte Minderheit" können Sie hier nachlesen und nachhören.

Buch-Hinweise:
Aleida Assmann
- Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, C. H. Beck, München 1999
- Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, C. H. Beck, München 2006
- Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, C. H. Beck, München 2013
Jan Assmann
- Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, C. H. Beck 1992
- Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Verlag der Weltreligionen, Berin 2010
- Exodus. Die Revolution der Alten Welt, C. H. Beck, München 2015
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