Gegen demografische Schwarzmalerei

Vorgestellt von Joachim Güntner · 27.05.2007
Während Politiker angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland in Panik geraten, bezeichnet der Soziologe Karl Otto Hondrich die niedrige Geburtenrate als Glücksfall. In "Weniger sind mehr" widerlegt er die gängigen Thesen und sieht gerade im Bevölkerungsrückgang wachsende Chancen.
Deutschlands niedrige Geburtenrate lässt Übles befürchten: den Kollaps der Sozialsysteme, weil diese, unter der Überlast pflegebedürftiger Greise ächzend, von den weniger werdenden Jungen nicht mehr finanziert werden können. Den Niedergang der Wirtschaft. Das Schrumpfen der Bildungselite, da weibliche Akademiker als besonders wenig gebärfreudig gelten. Schrecken macht überdies der Kinderreichtum der arabischen Welt. Im globalen Zusammenprall der Kulturen könnte ja die westliche Wertegemeinschaft schon deshalb unterliegen, weil ihr der Nachwuchs an eigenen Kulturträgern fehlt.

Vom im Januar verstorbenen Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich ist nun postum ein Buch erschienen, das quer zum allgemeinen Alarmismus steht. Statt über die gesunkene Geburtenrate zu jammern, nennt Hondrich sie einen gesellschaftlichen Glücksfall und behauptet im Titel seines Werkes keck: "Weniger sind mehr". Der Autor, das merkt man rasch, lässt sich nicht ins Bockshorn jagen. Nehmen wir zum Beispiel die Panikmache, die zurzeit mit der Veränderung des Altersquotienten getrieben wird, also mit dem Umstand, dass im Jahre 1950 16 deutsche Arbeitnehmer einem Rentner gegenüberstanden, es heute aber nur noch drei sind. Für die Schwarzmaler bedeutet das eine Wendung vom Besseren zum Schlechteren. Doch was sagt Hondrich?

"Sechzehn Arbeiter hatten nur einen Rentner zu versorgen! Paradiesische Zeiten! Wie viel leichter müssen es die Arbeitenden damals also gehabt haben, wie viel besser muss es ihnen und den Rentnern gegangen sein! War es wirklich so? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Die Realeinkommen aus Arbeit und Renten waren viel niedriger als heute. Obwohl der Altersquotient damals so viel günstiger war!"

Die Schwarzmaler, die nur auf den Altersquotienten starren, haben ihre Rechnung ohne die Steigerung der Produktivität gemacht. Generalisierend könnte man mit Hondrich auch sagen: Sie haben ihre Rechnung ohne die moderne Welt gemacht. Der Blick über den Globus lehrt uns, dass es viele Kinder dort braucht, wo man arm ist. Industriell dynamische Gesellschaften hingegen funktionieren anders. Dort herrscht, sagt Hondrich, das Gesetz der "Erübrigung von menschlichem Nachwuchs durch ökonomische Effizienz".

"Die Wirtschaft, wenn sie von Kindern, Älteren, Ungebildeten, Unbeweglichen, Unbedarften Abstand nimmt, ist weder dumm noch unmenschlich. Sie folgt ihrem eigenen Stern: [...] mit geringerem Aufwand ein besseres Ergebnis erzielen. [...] Der Kinderreichtum oder die natürliche Jugend, auf die die menschliche Spezies seit Hunderttausenden von Jahren gesetzt hat, wird durch eine Art künstliche oder soziokulturelle Jugend ersetzt."

Soziokulturelle Jugend besitzt eine Gesellschaft nach Hondrich bereits dann, wenn sie mit frischen Innovationen aufwarten kann. Auf Kinder kommt es nicht an, ja für die Wirtschaft sind sie eher ein Störfaktor, denn Kinder konkurrieren mit der Wirtschaft um die Arbeitskraft der Eltern, vor allem der Mütter. Entscheidend ist, dass man gar keinen reichlichen Nachwuchs braucht. Technisierung, Rationalisierung, Arbeitsteilung sorgen dafür, dass ein Einzelner einen immer größeren Mehrwert erarbeiten kann. Und sollte doch einmal Mangel an Arbeitskräften auftreten, so sei er, meint Hondrich, durch die vermehrte Einbeziehung von Migranten und kinderlosen Frauen leicht zu kompensieren.

Kapitel für Kapitel widerlegt der Autor die gängigen Befürchtungen. Vom Niedergang der Wirtschaft, vom Zerfall der Familien oder vom Triumph kinderreicher muslimischer Parallelgesellschaften über die westliche Kultur will er nichts wissen. Er glaubt auch nicht, dass es mit dem Kinderkriegen irgendwann wieder aufwärts geht. Vielmehr werde sich der Geburtenrückgang als globales Phänomen etablieren, prognostiziert der Soziologe:

"Ungefähr ab dem Jahr 2070 ist damit zu rechnen, dass die Gesamtweltbevölkerung schrumpft. Man kann es auch anders ausdrücken: Die westliche Kultur, obwohl ihr Anteil an der Weltbevölkerung rückläufig ist, hat die anderen Kulturen der Welt so unterwandert (oder überwölbt), dass alle ihren Reproduktionsmodus von großen und wachsenden auf kleine und sinkende Nachkommenszahlen umstellen."

Die Pointe von Hondrichs Argumentation liegt darin, wie er Beschreibung und Wertung verknüpft. Wo andere Probleme sehen, sieht er im Problem auch gleich die Problemlösung angelegt. Den Titel seines Buches, "Weniger sind mehr", sollen wir ernst nehmen. Als Aufmunterung dürfen wir festhalten: Sinkt die Quantität, steigt die Qualität. Nachdem Hondrich diesen Grundgedanken an den Wirtschaftsverhältnissen durchgespielt hat, stellt er die gleiche Tendenz auch für die moderne Familie fest. Je weniger Kinder sie zähle, desto intensiver würden die Beziehungen zwischen Eltern und Nachwuchs. Die Eltern von heute seien die besseren Familienmenschen; und die Kinder, die allen Widerständen zum Trotz dennoch geboren würden, seien als "Hindernisüberwindungskinder" letztlich auch von ganz besonderer Güte. Selbst die Entfaltung des Individuums mit allem, was wir daran schätzen, setzt Hondrich in ein positives Wechselverhältnis zum Geburtenrückgang.

Hondrichs Buch statuiert ein Exempel soziologischer Aufklärung. Politischer Dirigismus, "Kindersubventionspolitik", erfährt eine radikale Absage, und Familienministerin von der Leyen, die wegen ihres Engagements für mehr Kinderkrippen als progressiver Kopf gerühmt wird, kommt schlecht weg. Der Autor setzt auf die Selbstlenkung und den Eigensinn der sozialen Sphären. Sein Buch hat gewiss auch blinde Flecken. Was wir beispielsweise an Schönheit verlieren, wenn der Anblick von Kindern Seltenheitswert bekommt, liegt jenseits von Hondrichs sozio-ökonomischer Analyse. Aber als originelle Ernüchterung der derzeitigen Demografie-Hysterie ist diese durchweg kluge, gelegentlich auch ketzerische Wortmeldung uneingeschränkt zu empfehlen.

Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr
Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist
Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2007
Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr
Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr© Campus
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