"Gefahr für die Existenz der Menschheit"

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Marcus Pindur · 07.04.2009
Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher unterstützt den Aufruf von US-Präsident Barack Obama zu weltweiter nuklearer Abrüstung. Obama habe eine sehr realistische Vision bekannt gegeben, sagte Genscher. Schließlich sei die Gefahr groß, dass sich immer mehr Staaten Atomwaffen aneigneten.
Marcus Pindur: Eine atomwaffenfreie Welt, ein schöner Gedanke – jedenfalls auf den ersten Blick, sagen viele, aber leider völlig unrealistisch, sagen andere. Wenn man sich die Rede Barack Obamas in Prag zur nuklearen Abrüstung genau durchliest, dann wird man feststellen, dass er selbst es für sehr unwahrscheinlich hält, dass er das noch erleben könnte. Aber die internationale Öffentlichkeit ist elektrisiert und auch viele Staatsmänner, die während des Kalten Krieges Verantwortung trugen, sprechen sich mittlerweile für eine Abschaffung von Atomwaffen aus, unter ihnen Henry Kissinger, Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher und den begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Genscher.

Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen.

Pindur: Kernwaffen dienen vor allem dem Zweck, andere Staaten vom Einsatz von Kernwaffen abzuschrecken, und das hat ja 60 Jahre funktioniert. Wäre es deshalb nicht gefährlich, wenn sich die USA dieser Waffen völlig entledigen würden?

Genscher: Es ist so, dass Obama eine sehr realistische Vision bekannt gegeben hat. Er kennt die Vernichtungskraft dieser Massenvernichtungsmittel. Das ist ja etwas anderes als Waffen. Wer noch einmal die Katastrophen von Nagasaki und Hiroshima sich vor Augen führt, der kann verstehen, warum am Ende der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts man sich zu einem Vertrag zusammengeschlossen hat, der die Kernwaffen beseitigen sollte – einmal dadurch, dass niemand neue Kernwaffen erwirbt, aber auch dadurch, dass die, die sie haben, sie abschaffen. Diese Vision will er jetzt in konkrete Taten umsetzen unter seinem Denken in einer kooperativen Weltordnung, und da bin ich völlig seiner Meinung, denn die Gefahr, dass die Besitzer von Kernwaffen sich ausdehnen, dass es immer mehr werden, ist ja groß. Schon nach einigen Jahrzehnten hatten wir plötzlich drei zusätzliche Kernwaffenstaaten in sehr umstrittenen Gebieten. Ich meine Indien und Pakistan, Israel. Die fünf Kernwaffenbesitzer, die identisch sind mit den ständigen Mitgliedsstaaten im Weltsicherheitsrat, also USA, Russland, China, Frankreich und England, haben damals die Verantwortung und Verpflichtung übernommen, völlig abzurüsten, und das muss geschehen, denn wenn diese Waffen außer Kontrolle geraten, dann wird das eine Menschheitskatastrophe sein und das muss verhindert werden. Das will er. Dass das ein langer Weg ist, der nicht von heute auf morgen ans Ziel führt, das zeigt, dass er nicht nur Visionen hat, sondern dass er auch ein Realist ist.

Pindur: Es geht also im Wesentlichen um nukleare Abrüstung. Das würde ja jeder befürworten. Es sind ja noch genug Atomsprengköpfe auf dieser Welt vorhanden. Die USA haben über 10.000, Russland noch über 8000. Man könnte also auch mit 1000 Nuklearsprengköpfen das nukleare Gleichgewicht halten. Die Frage ist doch aber, wie halten wir andere Staaten davon ab, Kernwaffen zu entwickeln, in Regionen wie zum Beispiel dem mittleren Osten – und da ist der Iran ja das Beispiel?

Genscher: Wenn die Kernwaffenbesitzer ihre Verpflichtung nicht einhalten, nuklear abzurüsten, dann sind sie auch nicht glaubwürdig, wenn sie es von anderen verlangen. Das ist ja einer der Hauptgründe, warum immer mehr Staaten direkt oder indirekt ihre Hand nach Kernwaffen ausstrecken. Diese Gefahr der Ausbreitung ist größer. Übrigens ist auch die Gefahr größer geworden, dass sogenannte Minikernwaffen geschaffen werden, was eine beschönigende Formulierung ist. Sie haben dieselbe schreckliche Wirkung und sie würden einen Atomkrieg führbar machen, der bisher als unführbar gilt. Die Existenz von Kernwaffen ist eine Gefahr für die Existenz der Menschheit.

Ich muss gleich hinzufügen, dass die Abrüstung bei den Kernwaffen begleitet werden muss auch von einer Abrüstung bei den konventionellen Waffen, denn auch da haben wir eine Überrüstung weltweit und es darf nicht dazu kommen, dass Länder sich deshalb für Kernwaffen entscheiden, weil sie sagen, sie sind im Grunde billiger als hochentwickelte konventionelle Waffen. Das ist sozusagen der billige Krieg. Nein, hier muss ganz entschlossen herangegangen werden, die Kernwaffen zu beseitigen, die konventionellen Streitkräfte und Waffen vor allen Dingen zu reduzieren, und da bin ich ganz auf der Seite von Barack Obama. Es ist ja interessant, dass vier Amerikaner – zwei von jeder Seite, von den Demokraten und Republikanern – 2007 schon diese umfassende Abrüstung gefordert haben. Sie haben Henry Kissinger erlebt, George Shultz kommt dazu, Sam Nunn und der frühere Verteidigungsminister Perry. Bei uns sind es Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Egon Bahr und ich. Wir haben ja alle in einer Zeit Verantwortung getragen, in der es darum ging, die Gefahren des Krieges, der Ost-West-Konfrontation zu bannen, aber auch die nuklearen Waffen zu reduzieren. Wir wissen, um was es geht, und wenn wir uns jetzt entscheiden, mit unseren Erklärungen an die Öffentlichkeit zu treten, dann begrüße ich es, dass ein amtierender Staatsmann – und Barack Obama hat staatsmännische Größe gezeigt, denn er hat ja gesagt, wir, die Amerikaner, sind das einzige Land, das bisher Nuklearwaffen eingesetzt hat; er sprach von Hiroshima und Nagasaki -, das zeigt, dass er Verantwortung auch übernommen hat.

Pindur: Herr Genscher, da bleibt aber eine offene Frage. Was ist zum Beispiel mit Staaten wie dem Iran oder Nordkorea, die sich nicht von der Entwicklung von Nuklearwaffen abbringen lassen wollen, die Interkontinentalraketen bauen und testen? Wie schützt man sich gegen die? Ist da die Raketenabwehr, die die Amerikaner, die Regierung Bush noch in Osteuropa geplant hat, nicht ein Schritt in die richtige Richtung?

Genscher: Nein, nein. Das ist kein Schritt in die richtige Richtung. Das sehen wir ja. Das erhöht nur Spannungen. Wir müssen dafür sorgen, dass überall diese Waffen weg kommen, und das Argument, weg mit den Atomwaffen, wird umso stärker, je mehr sich auch die Atomwaffenbesitzer an das halten, was sie schon vor 40 Jahren versprochen haben.

Pindur: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Genscher. – Hans-Dietrich Genscher, ehemaliger Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, zum Thema nukleare Abrüstung und zu den Vorschlägen von Barack Obama.


Das Interview mit Hans-Dietrich Genscher können Sie bis zum 7. September 2009 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio