Gedenken

Die Mauer als Wandzeitung

Graffitis auf der Westseite der Berliner Mauer am 29. April 1984
Weltgrößte Wandzeitung: Die Westseite der Berliner Mauer im April 1984 © AFP / JOEL ROBINE
Von Ralf bei der Kellen · 13.08.2014
"Freiheit für Grönland! Weg mit dem Packeis!" oder "Ich war hier. Es ist alles deprimierend. Claudia." Auf ihrer Westseite war die Berliner Mauer die größte Wandzeitung der Welt. In den 80er-Jahren dokumentierten Autoren die Sprüche. Die heutigen kreativen Hinterlassenschaften auf den Mauerresten sehen anders aus.
Ralf Gründer: "Wir gehen jetzt einfach auf der Spur der Hinterlandsicherung des ehemaligen Antifaschistischen Schutzwalls spazieren und führen das Gespräch, was Du mit mir führen wolltest. Über Grafitti oder Kunst an der Berliner Mauer."
Ronald Steckel: "Die Mauer hatte immer eine Art von Aura, jedenfalls von Westseite. Also einmal war's da sehr still, es fuhren keine Autos mehr – was sehr angenehm war – dann trieb sich allerlei Getier da herum, es wuchsen interessante Pflanzen... Es waren so absolute Ruhezonen, also innerhalb von Westberlin, diese Grenzgeschichten. Und das hatte 'ne große Faszination, nicht für mich, da waren immer ziemlich viele Leute unterwegs... Und das konnte man dann ablesen daran, dass im Laufe der 60er-, 70er-Jahre, das kulminierte eigentlich Anfang der 80er-Jahre, die Mauer über und über beschrieben wurde."
Wolfgang Neuss: "Hier endet der erste Teil des einzigen Städtepuzzles der Welt."
Im Sommer 1983 hat der Hörspielautor Ronald Steckel eine Idee, die ihm zunächst eher abgedroschen erscheint: Er will die Sprüche auf der Berliner Mauer sammeln und zu einem Hörstück verarbeiten. Nach einem kurzen Anruf beim damaligen Sender Freies Berlin und dem RIAS stellt sich heraus, dass entgegen seinen Erwartungen noch niemand "die Mauer gemacht hat".
Wolfgang Neuss: "Erich! Rück den Schlüssel raus!"
Also macht sich Steckel sich auf den Weg, wandert an der Mauer entlang und füllt sechs Notizbücher mit Sprüchen, aus denen er dann eine Kurzversion destilliert. Nur: Wer soll sie lesen? Er wendet sich an einen Bekannten, an den Kabarettisten Wolfgang Neuss, der zu dieser Zeit schon als zahnloser Stadtindianer in der Lohmeyerstraße in Berlin-Charlottenburg lebt:
Ronald Steckel: "Da bin ich zu Neuss gegangen und hab' ihm den Vorschlag gemacht... Und dann sagte er: 'Ja... Geld kann ich immer brauchen...' (lacht). Dann kriegte er das Manuskript in die Finger, brachte ich ihm irgendwann das Manuskript und er sagte: 'Mein Gott, was machen wir hier?' Und ich sagte: 'Wieso, was meinst Du?' Und er sagte: 'Wir machen uns zur seelischen Müllabfuhr der gesamten Stadt.'"
"Ich staune, Wand, dass Du nicht zerfallen bist"
Wolfgang Neuss: "Brandenburger Tor bis Mariannenplatz, Schlesisches Tor, Liesenstraße, Bernauer Straße. Zustand: Juni bis August 1983. Die beschriebene Mauer. Die Schrift an der Mauer."
Und die – da hatte Steckel recht – war eigentlich schon ein ganz alter Hut:
Sprecher: "Eben zu derselben Stunde gingen hervor Finger wie einer Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte Wand in dem Königlichen Saal..."
Altes Testament, Buch Daniel, Kapitel fünf: König Belsazar wird das Ende seiner Regentschaft – und seines Lebens – als Schrift an der Wand prophezeit.
Sprecher: "Das aber ist die Schrift, allda verzeichnet: Mene, mene, Tekel, U-pharsin. Gezählt sind die Tage Deiner Herrschaft, gewogen und für zu leicht befunden. Zerteilt wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben."
Auch die Mauern der Stadt Pompeji waren über und über mit Sprüchen bedeckt. Ihr Inhalt war allerdings oft weit weniger prophetisch:
Sprecher: "Albanus ist eine Tunte!"
Sprecher: "Wir haben ins Bett gepinkelt. Ich geb's zu: unser Fehler, Gastgeber! Fragst Du jetzt 'Warum'? Es gab gar keinen Nachttopf!"
Sprecher: "Ich staune, Wand, dass Du nicht zerfallen bist, da du soviel Blödsinn von Schreibern ertragen musst!"
"In der Aufregung hab' ich mich verschrieben"
Ralf Gründer: "Grafitti, Schriftgrafitti begann mit der Errichtung des ersten Teilstücks der Mauer",
erklärt Ralf Gründer, Jahrgang 1955, Wahlberliner seit 1980 und Autor des Buches "Berliner Mauerkunst".
Ralf Gründer: "Sofort waren politische Gegner dort und haben zum Beispiel raufgeschrieben 'Schandmauer' oder 'KZ' oder 'Diese Mauer muss weg!' Das waren die ersten Sprüche. Und die sind eben auf der gemauerten Mauer in riesengroßen Buchstaben aufgetragen worden – das war auch kein Problem. Nur, diese Massengrafitti, die gab's halt nicht. Und der Anfang war eben hochpolitisch. Und später wurde es dann eben – allgemein, sagen wir's mal so."
Die Vorlagen für diese frühe Beschriftung lieferten nach Ansicht Gründers die Regierungen in Ost und West selbst:
"Die DDR hat riesige Agitationswände aufstellen lassen – mit 'Sprüchen'. Und der Westen durch das Studio am Stacheldraht hat riesige Agitationswände aufstellen lassen mit Informationen für den Osten!"
Ronald Steckel: "Die ganze Zeit, also von meinem Aufenthalt in Westberlin an, ich hab' ja von den 28 Mauerjahren immerhin 21 mitgekriegt, fand dieser Prozess der Beschriftung der Mauer eigentlich ununterbrochen statt."
Wolfgang Neuss: //"Die Klagemauer. Die – Klagemauer..."
Ronald Steckel: "Also, ich erinnere mich an einen Satz, der sehr, sehr früh an der Mauer stand, also, als ich nach Westberlin kam, war der schon da... In riesigen Lettern auf dem Potsdamer Platz: 'Durch Leiden lernen.' Sehr eindrucksvol. Ich fand den Satz immer total doof, weil ich glaube, dass man durch Leiden nicht sehr viel lernen kann, irgendwie, es sei denn, man lernt etwas in Bezug auf die eigenen Grenzen und die eigenen Möglichkeiten des Ertragens. Aber das war sehr eindrucksvoll."
Die Mauer in ihrer ersten und zweiten Inkarnation eignete sich – wohl auch aufgrund der kruden Beschaffenheit ihrer Oberfläche – nur bedingt als Leinwand. Das änderte sich 1976, als die DDR die sogenannte "Grenzmauer 75" errichtete.
Sprecher: "Offizieller Name: Stützwandelement UL 12.11. Höhe (ohne Röhre). 360cm. Breite: 120 cm. Gewicht (ohne Röhre): 2750 Kg. Einkaufspreis: 359 Mark der DDR pro Segment. Anzahl: ca. 45.000 Elemente wurden um Berlin verbaut. Anschaffungskosten: 16.155 000 Mark. (Quelle: Dokument VS-Nr. H095 931, 2.Ausf.)
Wolfgang Neuss: "Seltsam perfekte Reihen mit starkem Eigencharakter."
Und deren glatte, weiße Oberfläche schien förmlich nach Beschriftung zu schreien:
Knut Hoffmeister: "Ich fragte Kippenberger zum Thema Mauer, da sagte er: Mauer, das ist die größte und billigste Werbefläche der Welt."
Der Experimentalfilmer und Multimediakünstler Knut Hoffmeister, Jahrgang 1956, kam 1974 nach Berlin und stand als Fahrer und Mädchen für alles in den Diensten des Malers und Performancekünstlers Martin Kippenberger. Nachdem letzterer eine gigantische Werbung für ein Konzert im Kreuzberger Club SO 36 auf die Mauer am Potsdamer Platz gemalt hatte, überschrieb Hoffmeister sie mit einem eigenen Spruch:
Sprecher: "Mauern sind ein Superspaß!"
Knut Hoffmeister: "Ich hab' dann... mir überlegt: Wie kann ich die Mauer negieren? Ich wollte irgendwas draufmachen, um die Mauer nicht mehr als Mauer anzuerkennen... und wollte eigentlich schreiben, also hab' das erstmal wieder weiß übergemalt, ich brauchte ja einen Grund... Und hab' dann – ich wollte eigentlich schreiben 'Die Mauer ist ein Superspaß'. Aber in der Aufregung – wir ham' ja nachts gemalt – hab' ich mich verschrieben! (lacht) Das ärgert mich bis heute, weil ich wollte es explizit auf diese Mauer beziehen. Aber ich habe 'Mauern sind ein Superspaß' am Potsdamer Platz..."
Hoheitsgebiet der DDR drei bis acht Meter vor der Mauer
Durch die ungeheure mediale Präsenz der Mauer wurde sie bald zum beliebten Objekt der Werbung für Berliner Bands.
Wolfgang Neuss: "Einstürzenden Neubauten...?"
So wurde Hoffmeisters Spruch nach knapp einem Jahr von der Band Interzone übermalt. In der Nacht zum 17. Juni malten Sie auf knapp 40 Metern ihr Band-Logo auf die Mauer – und wurden dabei laut "Spiegel" vom britischen Militär, der Berliner Stadtpolizei und der ortsansässigen Feuerwehr unterbrochen.
Knut Hoffmeister erinnert sich an eine ähnliche Begegnung: Im August 1981 veranstaltete er mit anderen ein Super-8-Filmfestival an der Mauer – die zu diesem Zwecke weiß getüncht wurde.
"Und dann kamen die Alliierten, die Briten. Richtig offiziersmäßig kamen die ganz cool an und wir, als junge Punks (lacht), oh Scheiße, die Armee kommt... Und wir haben gesagt: 'Oh, oh, is it forbidden?' Dass wir da an der Mauer rummalen? Und da sagte der britische Offizier ganz cool: 'It's not our wall.' (lacht) Er sagte aber: 'I'd like to inform you – die DDR fängt schon drei Meter vorher an – und die stehen alle da hinter der Mauer – die wissen genau, was Ihr hier macht, die haben uns nämlich Bescheid gesagt. Und wenn ihr irgendwie Kacke baut, und die greifen rüber und ziehen euch hoch, dann haben die Euch am Haken. Wir können Euch erst wieder helfen, wenn ihr drei Schritte zurück macht.'"
John Runnings demonstriert am 07.08.1986 mit einem Balanceakt gegen den Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961. Mit einem großen Vorschlaghammer führt der 69-jährige Amerikaner vor, was seiner Meinung nach mit dem Bauwerk zu tun sei.
Schon im Hoheitsgebiet der DDR: John Runnings demonstriert am 07.08.1986 mit einem Balanceakt und einem Vorschlaghammer gegen die Berliner Mauer.© picture alliance / dpa / Roland Holschneider
Was die wenigsten Sprüchesprayer und Mauerkünstler damals wussten: Das Hoheitsgebiet der DDR erstreckte sich noch zwischen drei und acht Metern westlich der sogenannten "Vorderlandmauer". Beim Sprühen standen sie daher mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Sozialismus.
Wolfgang Neuss: "Es ist wirklich alles ein bisschen verwirrend."
Durch sogenannte "Schlupftüren" in der Mauer konnten jederzeit "Greppos" – Grenzpolizisten in Uniform oder in Zivil – auf die Westseite kommen und die Mauerschänder verwarnen, oder – in Extremfällen – gleich mitnehmen. Und: im Osten war man geradezu unheimlich gut darüber informiert, was auf der Westseite der Mauer stattfand.
Knut Hoffmeister: "Das war in der Nacht vom 12. auf den 13. August '81. Und am 13., morgens ganz früh, völlig übernächtigt, bin ich mit meinem Auto – Dreilinden – nach Westdeutschland gefahren, und in Helmstedt, also auf der DDR-Seite, haben sie mich richtig rausgewunken, und 'Steigen Sie mal aus!' und auf den Stuhl gesetzt - und ich hätte die Grenzanlagen der DDR gefilmt. Die müssen irgendwie einen Spitzel gehabt haben... und ham mich dann verhört... aber sie haben das genau verfolgt, das stimmt, ja."
Und nicht nur ihn – auch für den später bekannt gewordenen Mauerkünstler Christophe Bouchet wurde es zunehmend schwierig, die Transitstrecken zu benutzen.
Wolfgang Neuss: "(singt) Ein Loch in der Mauer, lieber Erich, ein Loch. Mach's zu, lieber Stasi, lieber Stasi, mach's zu!"
Ralf Gründer: "Die ‚Kundschafter des Friedens... Westberlin war durchsetzt mit Stasi-Mitarbeitern, mit Westlern, die pro-SED waren. Und die haben natürlich hier ihre Dokumente angefertigt",
erklärt sich Mauerchronist Ralf Gründer dieses Wissen.
Säuberungsaktionen auch von West-Seite
"Die DDR besaß Infrarot-Sprechgeräte, die waren abhörsicher. Das heißt, der gute Mann brauchte sich nur in seine Wohnung setzen im Bereich der Mauer, musste nur wissen, auf welcher gegenüberliegenden Seite in Ostberlin das entsprechende Gegenstück saß, stand. Und dann konnten die kommunizieren, stundenlang, und wurden niemals abgehört."
Wolfgang Neuss: "So nicht, Erich, so nicht!"
Und wenn ihnen etwas gar nicht passte, was da an der Mauer stand, legten die Greppos auch persönlich Hand an "ihre" Mauer. Karl-Heinz Kuzdas hat von 1972 bis 1989 die Mauer fotografiert – und auch selbst kleine Graffitis aufgetragen. Er erlebte, wie Ost-Soldaten ein Bild des amerikanischen Malers Richard Hambleton übertünchten:
"Als ich da malte, nachts, kamen plötzlich Polizisten mit einem Farbeimer und Westpolizisten haben mich dann gewarnt und gesagt: Da kommen welche . Und dann bin ich schnell mit einem Sprung aus dem Bereich, der ja vier Meter vor der Mauer etwa schon östlich war, bin ich weggesprungen und hab' mir eben angeschaut, was die da machten. Und diese roten Abdrücke, die ja wie Blut aussahen... Und die haben sie übermalt."
Aber: Auch von West-Seite gab es solche Säuberungsaktionen:
Ralf Gründer: "Bevor offizieller Besuch an die Mauer gefahren ist, sind französische Soldaten losgezogen und haben Sprüche an der Vorderlandmauer weiß übertüncht. Da gibt es also Akten dazu. Und das ist natürlich 'ne Sache, wo man sich gefragt hat, also: Warum dürfen die offiziellen Menschen die Politiker oder höheren Militärs eigentlich nicht des Volkes Wille lesen? Es ist übertüncht worden. Wie viele Jahre das gemacht worden ist, weiß ich nicht, aber es kam vor."
Und diese Zensur hielt auch nach dem Fall der Mauer noch an. Ralf Gründer steht vor der Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße:
"Als es hier die offizielle Eröffnung dieses Platzes gab, wurde ein Graffiti entfernt oder ein Mauerbild. Wo ich mich sehr gewundert habe, denn hier stand in riesigen Lettern: 'Nazis raus!' Und ein kleineres Graffiti: Denk mal."
"Es gab auch so Kettentexte"
Wolfgang Neuss: "Die Mauer steht nun schon jahrelang. Nun kann sie weg."
Zu Beginn der 80er-Jahre war es quasi ein Muss geworden, sich an der Mauer zu verewigen – für Einheimische, aber auch für Touristen.
Karl-Heinz Kuzdas: "Aber auch Schulklassen sind ganz vorbereitet schon nach Berlin gekommen, die ja damals in Mengen Westberlin besucht haben, und haben dann da irgendwelche Sachen hinterlassen – das war schon sehr interessant..."
Wolfgang Neuss: "Killt Alle Mathelehrer!"
Von simplen Feststellungen der eigenen Existenz-
Wolfgang Neuss: "Ich war hier. Es ist alles deprimierend. Claudia."
- über Zuneigungsbekundungen-
Wolfgang Neuss: "Adrienne ich liebe Dich, I love you, je t'aime."
- zur Artikulation der sich formierenden Umwelt-Bewegung-
Wolfgang Neuss: "Die Sabotageanfälligkeit von AKWs ist unberechenbar! Rettet den Ozongürtel der Erde. Diese Mauer ist kalt – fass sie mal an."
- rassistischen Auswüchsen -
Wolfgang Neuss: "Türken raus, Brut des Bösen!"
- handfesten politischen Aussagen und Aufforderungen-
Wolfgang Neuss: "Instandbesetzung der Waldemarstraße 33 – die BeWoGe lässt unser Haus vergammeln! Leute bleibt heiter, der Häuserkampf geht weiter!"
- oder unterhaltsamem Blödsinn -
Wolfgang Neuss: "Freier Blick aufs Mittelmeer! Weg mit dem Watzmann!"
- fand sich alles auf der Mauer. Und noch mehr -
Ronald Steckel: "Es waren auch sehr witzige Sachen darunter, also es gab auch so Kettentexte, also einer schreibt einen Text, ein anderer kommentiert den, der nächste kommentiert den wieder und so weiter und sofort."
Wolfgang Neuss: "Liebe Dörte, weißt Du, manchmal habe ich einfach Angst um Dich, weil ich Dich liebe. Ich glaube, nur Du verstehst das. R. - Lieber Ralf, du brauchst keine Angst zu haben, weil es mir genau so geht. Ich liebe Dich, D."
Irritationen nach dem Fall der Mauer wegen Spott-Texten über die DDR
Ronald Steckel nannte seine Mauerspruch-Sammlung "Die größte Wandzeitung der Welt". Heute liegt eher ein Vergleich mit dem Internet nahe, wo die User auch die größten Banalitäten neben profunde Einsichten stellen.
Ronald Steckel: "Es war von Anfang an total heterogen. Also politische Parolen als auch private Liebesbriefe – also in der ganzen Spanne spielte sich das ab. Und... es gab keine Logik, es war völlig irrational. Also, wer wann was warum da draufgeschrieben hat, da war keine Logik drin zu erkennen."
Wolfgang Neuss: "Diese Mauer ist blaue-U-Boot-Logik."
Und dann – wurde es plötzlich weniger mit den Sprüchen.
Ronald Steckel: "Der Zeitpunkt, wo ich mit dieser Arbeit anfing, 1983, war eigentlich der letztmögliche. Weil 1984 witzigerweise ging das los, dass große Flächen der Mauer übermalt wurden. Also, es begann eine neue Phase, die Bildphase, die dann ganz eindeutig dominiert hat. Also bis zum Abriss der Mauer, bis 1989 wurden hauptsächlich Bilder gemalt, also, es hatte ja auch magnetische Anziehungskraft, es kamen internationale Künstler, die sich da verewigen wollten. Und während ich am Arbeiten war, diese Sachen abschrieb damals, dachte ich: Mein Gott, das ist eigentlich ziemlich beinhart, hier kriegt jeder sein Fett ab. Also: der Westen wie der Osten."
Was später noch zu Irritationen führen sollte, die Ronald Steckel anlässlich einer Vorführung seines Hörstücks nach dem Fall der Mauer hautnah erlebte. Denn: Den Bewohnern der DDR war gar nicht klar, was da alles auf der Mauer gestanden hatte.
Wolfgang Neuss: "Drüben sind auch Menschen... Nehmen die Drogen, damit die's ertragen? Der humanste Staat der Welt – wir haben uns bewährt. Arbeitslager, zur Zeit 7.000 politische Gefangene, Schießbefehl: Kopfgeld, goldene Armbanduhr, 500 Mark Ost, Sonderurlaub. Menschenhandel, Jahresumsatz 50 Millionen Mark West. Ministerium für Staatssicherheit D 113 Berlin Normannenstraße."
Ronald Steckel: "Für die war das bitter. Und das gab hinterher 'ne Riesendiskussion, und ich merkte plötzlich: Viele Leute waren total angefasst. Für die war die Mauer ja schon eine Art von existentieller Verhöhnung... Also, in einem Land zu leben sozusagen, das eingekesselt ist von Stacheldraht und von Mauern. Aber die Texte, also auch die spottenden Texte, die beißenden Texte über die DDR, ja, die haben die wie eine Kränkung empfunden. Die fühlten sich noch mal verhöhnt. Also, als die dann mitkriegten, was auf der Westseite der Mauer alles passiert war."
"Sprüche sind 'out'"
Auf den verbliebenen Resten der Mauer befinden sich Sprüche heute nur noch in Form von Bildunterschriften. Es stellt sich die Frage: Wo sind sie geblieben?
Ralf Gründer: "Überall. Also die ganze Stadt, also gerade Berlin-Mitte würde ich sagen, ist randvoll mit... Street Art, sagen wir's mal so... Aber ok, diese Sprüche sind weg. Das ist richtig. Also 'Ich war hier' macht ja auch keinen Sinn mehr jetzt, also wer schreibt schon in Kreuzberg oder im Wedding 'Ich war hier'. Da war eben die... Dadurch, dass Berlin die Mauer weggenommen hat, quasi auch radikalst aus dem Stadtbild entfernt hat, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich auf dieser Mauer zu verewigen. Es gibt da vielleicht noch die Ausnahme, das wäre der Mauerpark, aber auch da in der Tat sind die Sprüche weg, sondern es sind eigentlich Sprayer dort, die dort ihre 'Writings' machen, aber Sprüche in dem Sinne sind eigentlich 'out', vorbei... Die Szene scheint nicht mehr zu existieren."
Ronald Steckel: "Wo sind die Sprüche heute? Also, soweit ich das beurteilen kann, über die ganze Stadt verstreut, aber es gibt keinen Sammelpunkt mehr, es gibt keine Fokussierung der ganzen Angelegenheit. Vielleicht sollte man schon deswegen die Mauer wieder hinstellen – damit von beiden Seiten mal geschrieben werden kann! Ja, 'ne Klagemauer wäre doch was Wunderbares, wo die Leute sich erleichtern können..."
Wolfgang Neuss: //"Im Zeitalter der Elektronik ein total überflüssiges Mandala. Denn das ist sie doch, die Mauer: Ein Rosenkranz für Ewiggestrige..."
"We want the Wall back" ("Wir wollen die Mauer zurück"), haben Unbekannte an der East Side Gallery auf ein Wandbild gesprüht.
"We want the Wall back" ("Wir wollen die Mauer zurück"), haben Unbekannte an der East Side Gallery auf ein Wandbild gesprüht.© dpa / picture alliance / Wolfram Steinberg
Ronald Steckel: "Also... Sie haben mich doch gefragt nach meinem Lieblingsspruch auf der Mauer... Ich sag jetzt mal einen Spruch, der glaube ich, nicht auf der Mauer stand. Der aber hätte draufstehen müssen – und das ist: 'Nächstenliebe als globales Projekt.' (lacht leise) Wie wär' das denn?"
Klingt gut – und auch die Klagemauer ist keine schlechte Idee - gegen die aber einige Menschen sicher etwas einzuwenden hätten.
Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"
Wolfgang Neuss: "Abbrechen, die Scheiße hier!"
Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"
Wolfgang Neuss: "Schmatzkuchen!"
Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"
Wolfgang Neuss: "Nieder mit dem repressiven Gravitationsgesetz! Mit beiden Hoden fest auf dem Boden."
Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"
Wolfgang Neuss: "Jetzt ist die Dose leer. Meine auch."
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