Gastfreundschaft in Berlin

Berliner sind grob, aber ehrlich

Berlin
In Berlin mag man es gerne rau und ehrlich. Touristen schätzt man insbesondere dann, wenn sie das Straßenbild nicht stören. Kommt am Alexanderplatz aber nicht vor. © imago/Jochen Tack
Von Thomas Klug · 10.08.2017
Wer Berliner Luft sucht, muss mit der Berliner Schnoddrigkeit umgehen können. Am berüchtigten Umgangston der Berliner haben nicht nur Touristen, sondern auch zugezogene Süddeutsche zu schlucken. Kleiner Trost: Auch zu den Zeiten großer Dichterfürsten war Berlin dafür bereits bekannt.
"Mein Freund wohnt in Friedrichshain", sagt Alexander Schmidt. "Als die Wohnung noch nach vorne rausging, seine alte, da wurden wir regelmäßig nachts geweckt von einer Horde Spanier, die unten gesagt haben, Mensch, wir spielen jetzt mal die wichtigsten Tore der letzten Fußballweltmeisterschaft mit einer Glasflasche nach."
Berliner können Geschichten erzählen. Und Touristen können Gründe für diese Geschichten sein. Alexander Schmidt arbeitet als Verkäufer in der Stadt. Viele seiner Kunden sind natürlich Touristen. Er mag sie – manchmal. Aber er stellt auch Anforderungen an sie. Touristen müssen eines auf alle Fälle lernen: Beliebt sind sie nicht. Sie sind auch nicht unbeliebt. Sie werden nur nicht besonders freundlich behandelt.
"Ich habe in Berlin, als ich da angekommen bin, das erste Mal in einem Kaufhaus eine Tür ins Gesicht bekommen, weil ich das aus Süddeutschland so gewohnt war, dass man hinter sich noch mal guckt, ob jemand kommt. Und das hat der typische Berliner vor mir nicht für nötig gehalten. Darauf war ich überhaupt nicht gefasst."
Vergessen Sie alles, was Sie über Gastfreundschaft wissen. Willkommen in Berlin.

Berlin ist gastfreundlich - nach Berliner Verständnis

Unter Gastfreundschaft verstehen Berliner, dass sich ihnen der Gast voller Freundschaft nähern darf – um dann gepflegt ignoriert zu werden. Doch wissen das Touristen? Die Gäste machen es den Berlinern nicht leicht. Das scheint Tradition zu haben: Ein paar Prominente haben sich ziemlich schlecht benommen, sie haben wenig Nettes über Berlin geschrieben.
Heinrich von Kleist zum Beispiel: "Hier in Berlin finde ich nichts, das mich auch nur auf einen Augenblick erfreuen könnte."
Oder Bertolt Brecht: "Alles ist schrecklich überfüllt von Geschmacklosigkeiten, aber in was für einen Format!"
Oder Heinrich Heine: "Es sind wahrlich mehrere Flaschen Poesie nötig, wenn man in Berlin etwas anderes sehen will als tote Häuser und Berliner."
In Sachen Gastfreundschaft a la Berlin haben diese drei Herren völlig versagt – und durften doch alle in der Stadt leben, wenigstens eine zeitlang. Berlin will gelobt sein.
"Was lobt man an Berlin? Das Tempo, die Arbeitslust – und schon stockt die Aufzählung", so schrieb es Alfred Polgar. Aber der war Wiener. Gut.

Invasion der Rollkoffer

Wer früher nach Berlin kam, tat das meist halbwegs geräuschlos, weil: Der Rollkoffer war noch nicht erfunden. Das hat sich leider geändert. Alexander Schmidt dazu:
"An der Frankfurter Allee zum Beispiel, da ist der Radweg ein ganzes Stück getrennt vom Fußweg. Da habe ich dann auch regelmäßig eine ganze Horde von irgendwelchen Mädels, alle mit Trolley, die den ganzen Radweg vereinnahmen, weil man da natürlich besser fährt."
Rotes Tuch für manchen Ur-Berliner: Der berüchtigte Rollkoffer-Tourist.
Rotes Tuch für manchen Ur-Berliner: Der berüchtigte Rollkoffer-Tourist.© picture alliance / dpa
Touristen rät er: "Man sollte auf jedem Fall zügig diesen Rollkoffer irgendwo abstellen, damit dieses unangenehme Klappergeräusch weg ist."
Am liebsten würde er ein Anti-Rollkofferroll-Kommando gründen würde.

Der ideale Tourist ist "still, leise und bescheiden"

Er redet sich schnell in Rage, bremst sich dann, um erst einmal wieder zu lachen. Das kann dauern. Alexander Schmidt kann sich schön über die Touristen in Berlin aufregen. Er hat schon darüber nachgedacht, einen Reiseführer zu schreiben. Der Titel? "Still, leise und bescheiden – ein Knigge für Berlin-Touristen."
"Mich stört diese Langsamkeit der Touristen am meisten. Dieses Barrikadenhafte, was sie haben, wenn man in der Stadt unterwegs ist. Sie sind laufende Hindernisse mit ihren Koffern, und diese Grüppchen, die da irgendwo rumstehen, meistens an neuralgischen Punkten, am Ende von Rolltreppen, an Aufzugeingängen, an Durchgängen, vor der S-Bahn vorm Eingang, bleiben direkt davor stehen, wenn sie ausgestiegen sind."

Kaum ein Berliner ist wirklich Berliner

Alexander Schmidt selbst stammt natürlich nicht aus Berlin, sondern aus Nürnberg. Das erinnert an ein altes Lied der "Freien Deutschen Jugend":
"Du brauchst ja nicht aus Berlin zu sein,
aus Berlin zu sein, wenn du Berliner bist."
Berliner sind da tolerant – manchmal.
"Sollst nicht dem Fremden Liebediener sein,
Liebediener sein, nicht seiner kalten Pracht.
Ein Deutscher muss auch Berliner sein.
Ein Deutscher muss auch Berliner sein.
Weil Berlin uns einig macht."
1950 hat man soetwas gesungen und gedichtet – in Ostberlin, das sollte die ganze Welt zusammenkommen, die noch junge DDR wollte sich von ihrer besten Seite zeigen. Ob diese Liedzeile dabei geholfen hat?
"Sollst nicht dem Fremden Liebediener sein,
Liebediener sein, nicht seiner kalten Pracht."

Berlins Weltoffenheit schadet seinem Nörgler-Ruf

Der Feind hieß damals noch Kapitalist, nicht Tourist. Das hat sich geändert. Heute werden alle gleich ignoriert. Das zeigt: Berliner sind weltoffen. Bloß hören sie das nicht gerne, es könnte ihrem Ruf als Nörgler schaden. Die Berliner schätzen Ehrlichkeit, aber nur die eigene. Das müssten die Touristen lernen. Schmeicheleien kann man sich überall abholen – in Berlin nicht, sagt Schmidt:
"Vor allem der Süden ist deutlich höflicher, was nicht heißt, dass sie netter sind, nicht im Ansatz. Die sind meist sogar noch gemeiner, aber man zeigt es eben nicht so. Wenn man das nicht gewohnt ist von Berlin, dieses Direkte, Schnoddrige, wäre es schon ganz gut, wenn man vorneweg eine Warnung hätte. Aber nachdem die Hälfte der Stadt, mindestens die Hälfte selbst zugereist ist, braucht man auch gar nicht so viel warnen - weil, wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tourist auf einen Berliner trifft?"

Prenzlauer Berg ist auch nicht mehr das, was es mal war

In Ermangelung echter Berliner darf sich Alexander Schmidt manchmal als Berliner fühlen. Er wohnt seit zwölf Jahren in der Stadt, in Prenzlauer Berg natürlich – und genau dort fehlt inzwischen all das, was ihn einst berühmt machte.
"Es sind keine Clubs mehr da, es sind kaum mehr Kneipen da. In meiner Straße alleine sind, seit ich da wohne, innerhalb von fünf Jahren so viele Psychotherapeuten mit ihren Praxen eingezogen. Wenn ich meine Wohnung verlasse, kann ich innerhalb von fünf Minuten, ich habe es abgezählt, 16 Psychotherapeuten erreichen. Als ich eingezogen bin in meine Wohnung war da eine Kneipe am Eck mit einem Mann mit einem Bein, das war der Wirt, der war eigentlich immer betrunken und man konnte im Winter Kohlen kaufen."

Etwas Grobheit führt zum Ziel

Goethe hat sich übrigens auch über Berlin geäußert:
"Es lebt dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten."
Das war 1823. Manches also bleibt in Berlin so, wie es offenbar schon immer war.
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