Galilei reloaded

Von Pietro Scanzano · 12.08.2009
Im 17. Jahrhundert brachte Galileo Galilei die katholische Kirche mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegen sich auf. Und auch heute noch schwelt der Streit zwischen Kirche und Wissenschaft - denn deren Erkenntnisse stehen oftmals im Gegensatz zur Heiligen Schrift.
Galilei: "Ich, Galileo Galilei, Sohn des verstorbenen Vincenzio Galilei aus Florenz, meines Alters 70 Jahre, persönlich vor Gericht erschienen und vor Euch kniend, hochwürdigste Herren Kardinäle Generalinquisitoren in der gesamten Christenheit wider die ketzerische Verderbnis, habe mich der Ketzerei heftig verdächtig gemacht, weil ich die falsche und der Heiligen Schrift widersprechende Meinung des Kopernikus für wahr gehalten habe, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt und unbeweglich und die Erde nicht der Mittelpunkt sei und sich bewege.

Und da ich aus dem Geiste Eurer Eminenzen und eines jeglichen getreuen Christen diesen heftigen Verdacht tilgen will, schwöre ich aufrichtigen Herzens und ungeheuchelten Glaubens ab, verfluche und verabscheue die oben genannten Irrtümer und Ketzereien. Und ich schwöre, künftig niemals wieder in Wort oder Schrift Dinge zu sagen, noch zu behaupten, für welche ähnlicher Verdacht gegen mich erschöpft werden könnte.
So wahr mir Gott helfe und diese seine heiligen Evangelien, die ich mit meinen Händen berühre.

Zu Rom, im Kloster der Minerva, an diesem 22. Juni 1633."

Am 22. Juni 1633 verurteilte das Tribunal der Inquisition den in ganz Europa berühmten Mathematiker und Astronomen Galileo Galilei, weil er behauptet hatte, dass die Erde sich bewege, und die Bibel keine wissenschaftliche Autorität sei.

Galilei musste zur Strafe seinen Überzeugungen abschwören. Neun Jahre lang, bis zu seinem Tod 1642, stand er unter Hausarrest. Er erhielt Lehr- und Veröffentlichungsverbot; seine Werke wurden auf den Index gesetzt. Es ist der berühmteste Fall von Zensur.

24 Jahre zuvor, im Herbst 1609, hatte Galilei, damals Professor der Mathematik an der Universität Padua, ein von ihm entwickeltes, Fernrohr genanntes, Instrument gen Himmel gerichtet und damit Berge auf dem Mond entdeckt, und vieles noch, was die damalige Auffassung des Universums in Frage stellte.

Bellone: "Galilei entdeckt, dass das, was man damals nebulæ nannte, in Wirklichkeit Sternanhäufungen sind; dass die Milchstraße aus zahllosen, anscheinend zufällig hingeworfenen Sternen besteht. Und am 7. Januar 1610, wir haben seine Aufzeichnung, beobachtet er den Jupiter. Und er ist verwundert, um den Jupiter drei kleine, aneinandergereihte Lichtpunkte zu sehen, die er Fixsterne nennt. Am 8. schaut er noch einmal hin – und findet den Jupiter und die drei Sterne in einer anderen Anordnung vor."

Der Galilei-Forscher Enrico Bellone.

"Also versucht er, anhand von astronomischen Tafeln herauszufinden, wie sich der Jupiter bewegt haben mag. Und er findet, dass die Tafeln seine Beobachtungen nicht erklären. Umso neugieriger schaut er also am 9. wieder hin, aber der Himmel ist von Wolken überzogen: er kann nichts sehen. Vom 10. an setzt er Nacht für Nacht seine Beobachtungen systematisch, ja besessen, fort. Er entdeckt, dass die vier Sternchen gar keine Sterne sind. Und erkennt, dass sie eigentlich Monde des Jupiter sind.

Also beginnt das moderne Zeitalter. Denn er hat ein wunderbares Fenster zum Universum aufgerissen und damit Jahrhunderte astronomischen Wissens zerstört."

Was Galilei mit seinem Fernrohr beobachtet, überzeugt ihn von der Richtigkeit der Lehre des deutsch-polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus: dass die Erde sich um die Sonne dreht – und nicht umgekehrt, wie die ganze Welt damals glaubte.

Galilei tauft die vier Jupitermonde auf den Namen Mediceische Gestirne: Er will die Gunst der mächtigen florentinischen Familie der Medicis erlangen, der Großherzöge von Toskana. Schon im März 1610 verkündet er die Resultate seiner Beobachtungen in einem kleinen Buch, das als erstes Beispiel moderner wissenschaftlicher Publizistik gilt. Sein Titel: Sidereus Nuncius – die Sternen- oder Astronomische Botschaft.

Doch so leicht vom neuen Weltbild zu überzeugen war die gelehrte Welt nicht.

Galilei: "An den hochgelehrten Herrn, den Kaiserlichen Mathematikus Johannes Kepler in Prag.
Diese Leute, die Peripatetiker, meinen, die Philosophie sei ein Buch wie die Æneis oder die Odyssee, und die Wahrheit sei nicht in der Welt oder in der Natur, sondern, wie sie selbst sagen, in der Vergleichung der Texte zu suchen.

Wie würdest Du lachen, wenn Du hörtest, was von dem Ersten Philosophen der Universität zu Pisa gegen mich vorgebracht wurde! Als hätte ich die Mediceischen Sterne mit eigenen Händen an den Himmel gesetzt, um die Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen und die Wissenschaften über den Haufen zu werfen…"

Bellone: "Nach Galilei wurde unser Bild von der Natur nicht mehr das, was es für Tausende von Jahren gewesen war. Mit einer zusätzlichen Klausel, und zwar, dass die Aussagen der Wissenschaft verbesserungsfähig sind – und somit der Falsifizierung unterworfen. Also tritt er natürlich mit denjenigen in Konflikt, die wie die Kirche hingegen meinen, ewige Wahrheiten zu besitzen, die jenseits aller Kritik gültig sind. Von da an war der Konflikt also unvermeidbar."

In der Bibel steht: "Die Sonne geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende." Und an anderer Stelle: "Damals redete Josua, ‚Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon!’" Für die Kirche ist damit der Fall klar: Wenn man den Lauf der Sonne aufhalten kann, dann ist sie es, die sich um die Erde bewegt, und nicht umgekehrt.

Titzmann: "Der Konflikt, um den es geht, ist also der zwischen dem biblischen Weltmodell – einem eindeutig geozentrischen Weltmodell – und dem neuen kopernikanischen Weltmodell."

Der Kulturwissenschaftler Michael Titzmann.

"Also gibt es in dem Augenblick, wo Galilei ja durchaus aggressiv das neue kopernikanische Weltmodell vertritt, ein ideologisches Problem. Das führt dann dazu, dass er von diversen Florentiner Dominikanern im Jahre 1614-1615 angegriffen wird; 1615 denunziert ihn Lorini bei der Inquisition."

Pesce: "Der Kopernikanismus stellte die Theologie vor grundsätzliche Probleme. Das erste betrifft die Wahrheit der Aussagen der Bibel. Damals behaupteten sowohl die Protestanten als auch die Katholiken die absolute Wahrheit der Bibel. Die Katholiken behaupteten außerdem, dass allein die Geistlichkeit, als der von Gott inspirierte Stand, befugt sei, über die Interpretation der Bibel zu entscheiden."

Der Bibelforscher Mauro Pesce.

"Das erste Problem war also zu entscheiden, ob die Bibel absolut wahr sei, denn der Kopernikanismus stellte manche ihrer Behauptungen in Frage: dass sich die Sonne eben nicht von Ost nach West bewege und die Erde nicht mehr in der Mitte des Alls stehe."

Titzmann: "Galilei hatte nun natürlich das Problem, dass er – um den Kopernikanismus mit der Bibel irgendwie kompatibel zu machen – die Bibel selbst interpretieren musste. Und er hatte sich dabei, ob er wollte oder nicht, gewissermaßen in das Geschäft, das die Theologie für sich reserviert hatte, eingemischt."

Der Kulturwissenschaftler Michael Titzmann.

"Es war also klar, dass es hier um einen potentiell fundamentalen ideologischen Konflikt geht: Dürfen Nicht-Theologen die heiligen Texte so interpretieren, dass sie mit neuen Wissensbehauptungen vereinbar werden, oder nicht?"

Pesce: "Ein zweites, vielleicht noch wichtigeres Problem war, dass der Kopernikanismus nicht nur das alte ptolemäische System, das damals in den Universitäten gelehrt wurde, sondern auch das gesamte antike Weltbild in Frage stellte. Danach wohnte Gott über dem siebten Himmel. ‚Jesus steigt in den Himmel’ – der Satz wurde damals wortwörtlich verstanden.

Sprachen also die Gläubigen von der Himmelfahrt Christi, so war es für sie selbstverständlich, dass er, um zu dem Vater zu gelangen, notwendig durch die sieben Himmelssphären hindurchgehen musste – mit all den Problemen, die das mit sich zog, denn die erste Sphäre war voll von Dämonen usw."

Galilei: "An den wohlgelehrten Herrn Parlamentsadvokaten Elia Diodati in Paris.
Ich habe vor vielen Jahren, als der Lärm gegen Kopernikus sich zu erheben begann, in einer Schrift dargelegt, dass es einen großen Missbrauch bedeutet, die Bibel in natürlichen Fragen zu bemühen. Ist doch die Absicht des Heiligen Geistes nicht, uns zu lehren, wie der Himmel geht, sondern, wie man in den Himmel geht.

Behauptete nämlich jemand, es sei eine Ketzerei zu sagen, dass die Erde sich bewegt, und bewiesen dann die Beobachtung und eine zwingende Schlussfolgerung, dass sie sich doch bewege – in welche Verlegenheit hätte er dann sich selbst und die hl. Kirche gebracht?"

Titzmann: "Galilei hat den Einspruch erhoben, dass gegebenenfalls die Theologen all ihre heiligen Texte uminterpretieren müssen, wenn die Naturwissenschaft zu sicheren Ergebnissen gekommen sei – und ihre Ergebnisse seien sicher, während die Interpretationen der Theologen es nicht seien. Also eine massive Herausforderung. Galilei war ja ein erstaunlich unerschrockener Mensch – 16 Jahre zuvor ist schließlich Giordano Bruno auf dem Campo de Fiori noch lebend verbrannt worden."

Galilei: "Wenn ich frage, wessen Werk die Sonne, der Mond, die Erde, die Sterne, ihre Stellungen und Bewegungen seien, so wird man mir, denke ich, antworten, sie seien das Werk Gottes. Und wenn ich frage, wer die Heilige Schrift diktiert habe, so weiß ich, man wird mir antworten: der Heilige Geist – das ist auch Gott. Die Welt ist also das Werk, die Bibel das Wort, desselben Gottes.

Wenn aber dem so ist, warum sollen wir denn, um zur Erkenntnis der Teile der Welt zu gelangen, unsere Forschungen mit den Worten und nicht vielmehr mit den Werken Gottes beginnen? Ist vielleicht das Werk weniger edel und ausgezeichnet als das Wort?"

Die Auseinandersetzung um die Bibelinterpretation beendet die Kirche mit einem Machtwort. 1616 fällt das Heilige Offizium, die oberste Inquisitionsbehörde in Rom, ein folgenschweres Urteil über die Grundsätze der kopernikanischen Lehre.

"’Dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt und darum unbeweglich sei:’
Besagte These ist töricht, philosophisch absurd und formell häretisch, insofern sie ausdrücklich Sätzen widerspricht, die in der Heiligen Schrift an vielen Stellen vorkommen.

‚Dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt und nicht unbeweglich sei:’
Besagte These erhält philosophisch dieselbe Beurteilung, und ist in Anbetracht der theologischen Wahrheiten zum mindesten irrig im Glauben."

Am Urteil beteiligt ist der einflussreichste Theologe der katholischen Kirche: Kardinal Roberto Bellarmino – der Inquisitor, der für das Todesurteil gegen den als Ketzer verbrannten Philosophen Giordano Bruno mitverantwortlich gewesen war.

Galilei wird von Bellarmino ermahnt die kopernikanische Lehre aufzugeben. Als Katholik dürfe er sie fortan zwar als reine Hypothese vertreten. Behauptete er sie aber als wahr, und setze er sie der Wahrheit der Bibel entgegen, so würde die Inquisition eingreifen.
Galilei gehorcht. Und schweigt – 16 Jahre lang.

Titzmann: "Galilei hat ganz offenkundig gehofft, dass dieses Urteil der Inquisitionskongregation keinen Bestand haben werde, und publiziert dann seinen berühmten Text von 1632, den Dialog über die zwei hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, wo er drei Sprecher auftreten lässt. Der eine, mit dem schönen Namen Simplicio, der nicht nur an den antiken Naturphilosophen Simplikios erinnert, sondern natürlich auch die Konnotation der Einfältigkeit hat – diesem legt er das aristotelische Weltmodell in den Mund. Und er wird permanent von den beiden anderen Sprechern widerlegt."

Der Diàlogo ist Galileis literarisches Meisterwerk. Gegen die Konventionen der Schulgelehrsamkeit ist das Buch nicht in lateinischer, sondern in italienischer Sprache geschrieben: eine bissige Auseinandersetzung, voll feiner Ironie, mit dem alten Weltbild und der ihm zugrunde liegenden Denkweise. Dem setzt Galilei seine scharfsinnige Verteidigung der kopernikanischen Lehre entgegen.

Der Autor Italo Calvino hält Galilei für den größten Schriftsteller der italienischen Literatur. Dessen Prosa erhebe sich "zu einem Grad an Präzision und zugleich verfeinerter Poesie, die etwas Wunderbares haben".

Galilei: "Ich habe im Italienischen geschrieben, weil ich es für nötig erachte, dass jedermann das Buch lesen kann. Ich sehe, wie die jungen Männer, obzwar mit einem guten Naturell ausgestattet, nicht imstande sind, die im Lateinisch geschriebenen Dinge zu lesen und daher glauben, dass jene Schwarten voll von Neuigkeiten der Philosophie sind, die ihnen nicht in den Kopf wollen. Ich aber will, dass sie merken, dass die Natur ihnen ebenso wie den Philosophen Augen gegeben hat, um ihre Werke zu sehen, und desgleichen das Gehirn, um diese zu verstehen und zu begreifen."

Im Diàlogo legt Galilei seine philosophische Ansicht dar: Nicht blinde Befolgung von autoritativen Behauptungen, sondern allein "sinnliche Erfahrung und zwingende Beweisführung" bilden die Grundlagen der Naturerkenntnis. Eine, wie sie genannt wurde, erschreckend moderne Philosophie: das Manifest der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Methode.

Die Veröffentlichung des Diàlogo betrachtet die Kirche als Verstoß gegen das Verbot, den Kopernikanismus zu lehren. Die Inquisition greift erneut ein. 1633 wird ein Verfahren gegen den nunmehr 70-jährigen Wissenschaftler eröffnet.

Pesce: "In der Angelegenheit ‚Galilei’ ist der Gegenstand der Auseinandersetzung verwickelt – er ist nicht eindeutig. Es waren viele Fragen im Spiel. Es ist die Zeit der Gegenreformation der katholischen Kirche, die aber noch nicht durchgeschlagen hat. Das Szenario ist also das eines Kampfes gegen den Protestantismus in Europa."

Der Bibelforscher Mauro Pesce.

"Die katholische Kirche muss ihre Reihen fester zusammenschließen. Sie steht unter dem Druck, das Aufkommen viel zu unabhängiger Lehren und Meinungen zu verhindern. Es gab vor allem zwei Tendenzen, die für sie gefährlich waren. Die erste war, dass sich ein neuer wissenschaftlicher Geist durchsetzen könnte, mit einem eigenen Anspruch auf absolute Wahrheit. Der Katholizismus wäre damit gezwungen gewesen, seine Theologie auf eine neue Basis zu stellen – was er in dem gegebenen historischen Augenblick jedoch nicht leisten konnte.

Zweitens war es zu befürchten, dass sich dadurch eine autonome intellektuelle Macht außerhalb der kirchlichen Kontrolle konstituierte. Und das war ebenfalls eine Gefahr für die katholische Kirche."

Titzmann: "Jedenfalls wird am Ende Galilei verurteilt – und diese schöne Stelle muss ich dann, glaube ich, doch mal zitieren, wenn ich sie da alle finde: Das Urteil 1633 verkündet dann, dass er eine verderbliche Lehre vertreten habe, von der gelte, eine Meinung könne in keiner Weise wahrscheinlich sein, von der man erklärt und festgelegt habe, sie widerspreche der göttlichen Schrift.

Daher sei er, Galilei, heftig der Häresie, der Ketzerei, verdächtig. Daher wird er dann zur Abschwörung gezwungen und zu Gefängnis nach Belieben der Heiligen Inquisition verurteilt – was dann in der Folge in Hausarrest umgewandelt wird."
"Und sie bewegt sich doch!", soll Galilei leise nach seinem Widerruf vor sich hin gesprochen haben: eine vielzitierte Episode, die in Wirklichkeit eine Legende ist.

Titzmann: "Damit hat die katholische Kirche eine ihrer gravierendsten Fehlentscheidungen getroffen. Sie hat sich in Opposition zu den von Galilei im Wesentlichen mitinitiierten Naturwissenschaften begeben, und koppelt sich für einige Jahrhunderte von der europäischen denkgeschichtlichen Entwicklung ab."

Mit der aufsehenerregenden Zensurmaßnahme glaubte die Kirche, den Schlussstrich unter eine lange währende Kontroverse gesetzt zu haben. Sie irrte sich. Tatsächlich eröffnete das Inquisitionsurteil eine noch länger währende Kontroverse – über Bedeutung, Gründe, Motive und Folgen des Prozesses, die bis zum heutigen Tag anhält.

Der "Fall Galilei" ist eine der am meisten untersuchten Episoden der westlichen Kulturgeschichte, und erhält je nach Betrachter unterschiedliche Wertungen. Galilei polarisiert – immer noch. Sein "Fall" gilt vielfach als Musterbeispiel für den Konflikt zwischen Glauben und Vernunft; doch eher verdeutlicht er den Konflikt zwischen Wissenschaft und katholischer Kirche. Diese strich Galileis Werke aus dem Index der verbotenen Bücher erst zweihundert Jahre nach dem Prozess, und erst nach weiteren anderthalb Jahrhunderten öffnete sie sich einer Neubewertung des Falls.

Titzmann: "Im Jahre 1979 hat der damalige Papst Johannes Paul II. anlässlich einer Rede davon gesprochen, dass Galilei viel von Männern der Kirche zu leiden gehabt habe, und hat in der Folge eine Kommission eingesetzt, die sich mit diesem Fall beschäftigen sollte – und das tat sie bis 1992."

Die Arbeit der Kommission sollte nach dem Willen des Papstes die "tiefe Harmonie" bestätigen, "die die Wahrheiten der Wissenschaft und die Wahrheiten des Glaubens" vereinige. Eine Alternative war von vornherein ausgeschlossen.

Zweck des Unternehmens war offenbar nicht, zu einem unvoreingenommenen und sachlichen Urteil über den "Fall Galilei" zu gelangen. Eher sollte damit die Öffentlichkeit dafür sensibilisiert werden, dass die Kirche durch die Verurteilung Galileis nicht eine ihr innewohnende anti-wissenschaftliche Haltung zum Ausdruck gebracht hätte.

Tatsächlich gehörten dem Gremium weder ausgewiesene Galilei-Experten an, noch Nicht-Katholiken, noch – bis auf zwei Mitglieder – Nicht-Kleriker.

Coyne: "Die Kommission hat einen guten Job vor der Öffentlichkeit gemacht. Es wurde deutlich gesagt, dass die Kirche damals klar einen Fehler begangen hatte. Es gab Mitglieder der Kirche – Galileis Richter und die Theologen von damals –,die subjektiv die Natur der Schrift nicht korrekt deuteten und darum einen Konflikt sahen zwischen dem, was Galilei zu tun versuchte, und der Schrift selbst. Und damit haben sie geirrt; sie begingen damals etwas, was wir heute objektiv als einen Fehler beurteilen können."

Der Jesuitenpater George Coyne, Astronom und früherer Leiter der päpstlichen Sternwarte, ehemaliges Mitglied der von Johannes Paul II. eingesetzten Untersuchungskommission.

"Galileis Verurteilung von 1633 war von einer ganz besonderen Art. Sie war eine von der Sorte "Du hast einen Befehl missachtet, der dir 1616 erteilt wurde". Und das ist wahr. Sein Dialog unterstützt offensichtlich den Kopernikanismus – und Galilei hatte den Befehl erhalten, darüber weder zu schreiben, zu unterrichten oder zu forschen.

Dieser Befehl war, vom heutigen Gesichtspunkt aus betrachtet, falsch. Man hätte Galilei erlauben sollen, weiter zu forschen. Aber subjektiv empfanden die Richter damals, dass das eine Bedrohung für den katholischen Glauben war, weil es der Schrift widersprach. Darin haben sie sich geirrt – das aber wohlgemerkt, vom heutigen Wissensstand aus beurteilt."

Titzmann: "Am Ende dieses Prozesses kam merkwürdigerweise heraus, dass behauptet wurde, beide Seiten hätten Irrtümer begangen, und es habe wechselseitiges Missverstehen gegeben."

Der Kulturwissenschaftler Michael Titzmann.

"Nun wüsste ich nicht, welche Irrtümer Galilei begangen hat. Und ich wüsste auch nicht, dass man sich missverstanden hätte. Die katholische Kirche hat Galilei sehr wohl richtig verstanden und Galilei die katholische Kirche auch. Es gibt also – und das hat sich in der Folge dann in katholischen Publikationen der letzten Jahre immer wieder gezeigt –,wenn es um den Fall Galilei geht, eine Tendenz, einfach zu leugnen, dass da wirklich ein Konflikt gewesen sei.

Es wird also im Grunde immer wieder postuliert, es gebe keinen Konflikt zwischen Vernunft und Glauben – das tat Johannes Paul II., das tut Benedikt XVI..Dann darf man sich fragen, warum in Europa seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dieser Konflik immer wieder aufgetreten ist: etwa in Gestalt der Kritik der Heiligen Texte, der Religionskritik etc. Also offenkundig gibt es einen solchen Konflikt doch.""

Zum Abschluss der Kommissionsarbeit titelte die Vatikanzeitung L’Osservatore Romano: "Galilei – Missverständnis ausgeräumt". Man sprach vielfach von der "Rehabilitierung" Galileis durch Johannes Paul II.. In Wirklichkeit war von offizieller Seite jemals weder von "Rehabilitierung" noch von einer Revision des Prozesses die Rede.

Worum es für die Kirche ging, hatte das damalige Oberhaupt der Kongregation für Glaubensfragen, der einstigen Inquisition, Kardinal Joseph Ratzinger 1990 erklärt:

"Es geht einfach um ein richtiges Verhältnis zur Geschichte, man kann ja Geschichte nicht ungeschehen machen, man muss aber aus ihr lernen. Es wäre ja, wie mir scheint, in der Tat ein wenig absurd, wenn man jetzt wieder einen Prozess machen wollte, um dann am Schluss zu einem anderen Urteil zu kommen und damit ja auch gleichsam Galilei doch noch einmal irgendwie als Angeklagten behandeln würde, über den man verhandeln muss usw., während doch die weitergehende wissenschaftliche Reflexion ohnedies die Perspektiven verändert hat und so etwas damit einfach ahistorisch und anti-historisch wäre. Insofern, glaube ich, kann man nicht von einer Weigerung zur Rehabilitation sprechen, sondern von dem Versuch eines vernünftigen Verhältnisses zur Geschichte, zur Gegenwart und zur Zukunft.""

Das Urteil gegen Galilei ist im Sinn des kanonischen Rechts immer noch gültig. Auch hat die Kirche bislang die Legitimität des Verfahrens nie geleugnet – ebensowenig ihren Anspruch, die eigene Meinung als absolute Wahrheit zu definieren und andere Meinungen nicht zuzulassen. Stattdessen bat der Papst um Vergebung für die Sünden der Kirche.

Pesce: "Den Versuch, Galilei innerhalb der katholischen Kirche sozusagen zu ‚rehabilitieren’, habe ich noch nie besonders aufschlussreich gefunden. Mein Eindruck ist, dass die von Johannes Paul II. veranlassten Untersuchungen eigentlich einen Rückschritt darstellten: Viele Studien der von ihm eingesetzten Untersuchungskommissionen haben, statt Galilei zu rehabilitieren, eigentlich das Verhalten der Kirche im 17. Jahrhundert rehabilitiert.”"

Sánchez: ""Weder das Dekret von 1616, das von der Indexkongregation erlassen wurde, noch der Galilei-Prozess als eine Disziplinarmaßnahme haben mit der Unfehlbarkeit der Kirche zu tun. Dass die Kirche in dem Fall geirrt habe – dass die Kirche irren könnte –,das wusste Galilei sehr gut. Es war keine unfehlbare Entscheidung. Das Urteil war revidierbar, und es wurde in der Tat de facto revidiert – wenn man auch sagen muss: unter großen Schwierigkeiten und im Lauf der Jahrhunderte."

Pater Melchor Sánchez de Toca, Untersekretär des Päpstlichen Rates für die Kultur.

"Ich muss aber eins sagen: Man redet zwar von Vergebung, bislang aber habe ich als die einzige Institution, die öffentlich um Vergebung gebeten hat, nur die katholische Kirche gesehen. Ich sehe keine andere Institution, die für die Fehler der Vergangenheit um Vergebung gebeten hat. Das sage ich aber in polemischer Absicht. Wir sind es, die wir hier um Vergebung bitten. Ich möchte gern die anderen sehen. Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."

Zum Jahr der Astronomie 2009 veranstaltete das Jesuiten-Institut "Stensen" in Florenz ein internationales Symposium, um den "Fall Galilei" "historisch, philosophisch und theologisch neu zu betrachten". Kurz danach legte der Vatikan eine kritische Ausgabe der Prozessakten vor – mit einigen neuen Dokumenten aus den Archiven der Inquisition.

Zu einer Neubetrachtung des "Falles" haben indes weder das Symposium, noch die neu veröffentlichten Dokumente geführt. Die Kirche muss weiterhin zu einem konstruktiven und überzeugenden Verhältnis zu der neuzeitlichen Naturwissenschaft finden.

Titzmann: "Es gibt grundsätzlich unauflösbare Konflikte, eben, wenn man heilige Texte als letzte und absolute Wahrheitsquellen betrachtet oder wenn man die menschliche Vernunft als eine solche letzte unhinterfragbare, unhintergehbare Wahrheitsquelle betrachtet."

Der Kulturwissenschaftler Michael Titzmann.

"Diese Konflikte existieren natürlich bis heute fort. Das typische Beispiel ist die Evolutionstheorie und damit eine Theorie, die natürlich radikal wiederum den heiligen Texten des Christentums, dem Schöpfungsbericht der Genesis, widerspricht.

Das heißt, der Konflikt zwischen neuen wissenschaftlichen Theorien und den heiligen Texten des Christentums, aber auch des Judentums und des Islams, existiert nach wie vor. Insofern war der Fall Galilei natürlich der erste Fall überhaupt, wo schon von Anfang an ein solcher Konflikt aufgetreten ist."