Gärtnern mitten in der Stadt

19.08.2011
Auch viele Stadtmenschen werkeln gerne im Garten und leben ihren grünen Daumen aus. Daraus hat sich in den letzten Jahren eine Bewegung entwickelt, die sich die Soziologin Christa Müller in dem Buch "Urban Gardening" genauer anschaut.
Kleingarten? Wie spießig. Bis vor kurzem reagierten die meisten Stadtplaner herablassend auf die städtische Mini-Landwirtschaft. Flecken, auf denen Hobbygärtner Kohlköpfe ziehen und Kinder Schmetterlinge jagen, wurden im Höchstfall geduldet - als Reserveflächen für eine gewichtigere Nutzung.

Wie gründlich sich das Blatt gewendet hat, zeigt das Buch "Urban Gardening", herausgegeben von der Soziologin Christa Müller. Säen und ernten zwischen Häuserwänden und Straßenzügen, so die Botschaft der Aufsatz-Sammlung, ist nicht nur ein Modetrend unter jüngeren Menschen, sondern trägt genuin politische Züge und bezeugt ein neues Verständnis von Urbanität.

Wenn eine Gruppe von Aktivisten tonnenweise Muttererde auf einen Parkplatz kippt, wie in Berlin-Kreuzberg geschehen, und eine bunte Mischung von Anwohnern verschiedenster Provenienz gemeinsam gärtnert und debattiert, passiert weit mehr als ein Gaudi für Kiezbewohner, erklärt die Herausgeberin in ihrem Eröffnungsbeitrag. Zentrale Dichotomien der europäischen Moderne geraten ins Wanken - die Gegensätze zwischen Stadt und Land, Gesellschaft und Natur. Urbanes Gärtnern will Stadt nicht hinter sich lassen, sondern bereichern. Nicht nur mit Blumen, sondern mit Gemeingütern und einer neuen Haltung des Teilens und Gebens.

Gleich mehrere Aufsätze befassen sich mit diesem politischen Charakter des neuen Garten-Aktivismus. Die große Geste, so die Soziologin Karin Werner, interessiert die modernen Stadtgärtner weniger. Statt vollmundig Systemkritik zu formulieren, eignen sie sich Brachen öffentlichen Raums an und bespielen sie. Der Ökonom Niko Paech sieht in den urbanen Mini-Gärten sogar Perspektiven für eine Postwachstumsökonomie: regionale Märkte, verkürzte Wertschöpfungsketten, materielle Entschlackung und Entschleunigung seien ihre Vorboten.

Doch während "Guerilla-Gärtner" in Hamburg oder Berlin nachts noch heimlich an Straßenrändern Samen ausstreuen, gibt es andernorts zu viel vom Grün - und keiner will es haben. Zum Beispiel im massiv schrumpfenden Dessau: Was tun mit all dem Stadtgebiet, in dem immer weniger Menschen leben wollen? Wohnungsunternehmen verdienen daran nichts und der öffentlichen Hand fehlen Mittel für die Pflege. Lebendig schildert die Landschaftsarchitektin Heike Brückner, wie die Dessauer Stadtregierung neue Akteure ins Boot holt. Unternehmen, Initiativen und Bürger können Parzellen nach ihren Vorstellungen gestalten. Nun gedeihen Seite an Seite Apothekergärten, BMX-Strecken und Imkerei-Standorte.

Christa Müller gelingt mit ihrer Aufsatz-Sammlung eine vielschichtige Analyse des Urban-Gardening-Phänomens, bei der Sozial- und Politikwissenschaften ebenso zu Wort kommen wie Ökonomie und Philosophie. Hier und da wuchern Beikräuter, die den Wunsch nach altmodischen Bekämpfungsmaßnahmen aufkommen lassen - das allgegenwärtige "Verorten" und andere Sprachmarotten der Geisteswissenschaften gehören dazu. Einem ansonsten klugen Buch sei es verziehen.

Besprochen von Susanne Billig

Christa Müller (Hrsg.), Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt
Oekom Verlag, München 2011
349 Seiten, 19,95 Euro

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