Fußball verbessern, "ohne ihn zu verändern"

Markus Merk im Gespräch mit Ute Welty · 05.07.2012
Brauchen wir den Chip im Ball? Für eine Torlinien-Technologie beim Fußball hat sich der Weltschiedsrichter Markus Merk ausgesprochen. Er forderte, den Schiedsrichter auch in anderen kritischen Situationen mit technischen Hilfsmitteln zu unterstützen.
Ute Welty: Im Gegensatz zur Fliege ist der Mensch ein Wurm. Die Fliege verfügt über ein Gesichtsfeld von fast 360 Grad, der Mensch dagegen von 175 Grad. Und da liegt der Wurm zum Teil noch besser mit bis zu 180 Grad. Wen wundert's da, dass mancher Mensch manches Mal nicht so ganz genau hinschaut, auch nicht bei der schönsten Nebensache der Welt!

O-Ton Fußballkommentator: Marko Devic scheitert an Hart, der Ball fliegt Richtung leeres Tor und John Terry klärt hinter der Linie, war ein klarer Treffer, aber Viktor Kassai, der Schiedsrichter, hatte es nicht gesehen! Die Ukraine damit ausgeschieden, England im Viertelfinale!

Welty: Jenes EM-Vorrundenspiel zwischen der Ukraine und England hat noch mal deutlich gemacht, worum es geht, wenn heute über eine Torlinien-Technologie entschieden wird. Ist das jetzt eine Erleichterung oder eine Entmachtung für den Schiedsrichter? Das frage ich Markus Merk, der dreimal zum besten Schiedsrichter der Welt gekürt wurde und inzwischen auch zum Weltschiedsrichter des Jahrzehnts. Guten Morgen, Herr Merk!

Markus Merk: Ja, guten Morgen, grüß Gott allerseits!

Welty: Keiner hat so viele Bundesligaspiele gepfiffen wie Sie. Wie oft hätten Sie sich eine technische Hilfe gewünscht?

Merk: Ja, ich hatte eigentlich in vielen Spielen immer das große Glück – und man muss hier von Glück reden –, solche kritischen Torentscheidungen nie in meinen Spielen zu haben. Aber das ist ein Horrorszenario für einen Schiedsrichter persönlich, das wünscht sich niemand. Und gerade in diesem Spiel eben, England gegen Ukraine, Viktor Kassai, ein ganz hervorragender Schiedsrichter mit Endspiel-Ambitionen, für ihn war es ein ganz schwarzer Tag. Und ich glaube, er, und ich denke, auch "alle Schiedsrichter, wünschen sich diese Technologie".

Welty: Schon vor vier Jahren haben Sie ja ein 30-seitiges Konzept für den Deutschen Fußball-Bund zum Thema geschrieben, der Weltfußballverband hat damals den Videobeweis kategorisch abgelehnt, jetzt scheint es aber so weit zu sein, dass entweder der Chip im Ball kommt oder die Torkamera. Welche Technik würden Sie bevorzugen?

Merk: Ich bevorzuge die Technik, die funktioniert. Und ich glaube, das ist ganz entscheidend. Wir haben den Torrichter jetzt eigentlich probiert, vor zwei Jahren hat man das angefangen, in der Europa-League zu installieren, dann in der Champions League. Es gibt Spiele, wo er sich bewährt hat, aber eben nicht in diesen Situationen. Wir haben es eben in diesem Spiel, Ukraine gegen England, live erlebt, es war kein Torrichter, sondern in diesem Fall war es ein Nicht-Torrichter. Warum? Weil, dort, wo Menschen richten, werden Fehler passieren.

Welty: Warum kommt man denn erst jetzt zu einer Entscheidung? Hat der stete Tropfen den Stein gehöhlt oder der Klügere nachgegeben?

Merk: Na ja, ich habe ja schon seit über einem Jahrzehnt über bestimmte Technologien gesprochen. Für mich ist ganz, ganz wichtig, ich bin ein sehr traditioneller Fußballer, ich möchte den Fußball in seinen Grundwerten, mit seiner Geschwindigkeit, mit seiner Emotionalität erhalten. Auf der anderen Seite leben wir im 21. Jahrhundert und es gibt einige Situationen, es gibt wenige Situationen, wenn wir die 31 Spiele der Europameisterschaft nehmen, es gibt nur vier, fünf Situationen, wo sich insgesamt technische Hilfsmittel überhaupt bewährt hätten.

Das habe ich immer gesagt. Wir diskutieren über Dinge, die gar nicht so häufig vorkommen, aber dort wären sie sinnvoll. Weil, im 21. Jahrhundert, wenn wir diese Mittel zur Verfügung haben, wenn es um mehr Gerechtigkeit und Fairness im Fußball gehen soll, dann muss ich diese Mittel eben auch nutzen. Modern ja, aber kein Aktionismus. Der Fußball muss in seinen Grundstrukturen erhalten bleiben mit seiner großen Emotionalität, deswegen lieben wir ihn.

Welty: Nicht wenige befürchten ja, dass der Fußball technisiert oder gar technokratisiert wird. Muss man nicht eben auch mit Schiedsrichterfehlern leben, weil Irren halt menschlich ist?

Merk: Wir werden ja weiter diskutieren. Es ist für den Fußball auch ganz wichtig, das hält ihn jung. Wir haben diese Situation immer in der Grauzone, wo es eben kein Schwarz und Weiß gibt, wo keine Technik dieser Welt auch in Zukunft etwas daran ändern kann. Das ist gut so für den Fußball. Aber die klaren Situationen, die müssten korrigiert werden, wie gesagt, im Sinne der Fairness, im Sinne des Fair Play, im Sinne der Gerechtigkeit. Dieses Argument, der Fußball würde durch die Technik irgendwo von seinem Wert verlieren, das ist falsch. Es müssen Grundgedanken wirklich konzeptionell herangetragen werden, dann kann man einiges verbessern.

Nicht nur Torlinien-Technologie, es gibt andere Situationen, die hat man bei der Europameisterschaft auch gesehen im Spiel Kroatien gegen Spanien, eine Elfmetersituation. Ich glaube, wenn eine Situation so klar ist, dann möchte man sich ja auch korrigiert wissen, auch als Schiedsrichter. Und in meiner ganzen langen Karriere als Schiedsrichter habe ich bei dieser Frage der Technologie auch nie über den Punkt der Entmachtung nachgedacht. Wer sich als Schiedsrichter durch Technologie entmachtet fühlt, der ist für mich fehl am Platze. Es geht nur um eins, um die richtige Entscheidung. Und es gibt im Leben keine gerechte Fehlentscheidung.

Welty: Aber es könnte sich auch der Gedanke aufdrängen, dass eine Konstruktion ganz sinnvoll ist, wo einer das Sagen hat, zumal wenn 22 Männer an einem komplexen und emotionalen Gefüge beteiligt sind?

Merk: Also, das wollen wir ja nicht ausschalten. Noch mal: Die Masse der Entscheidungen sind aus der Grauzone. Da braucht es den Schiedsrichter, da braucht es den Entscheidungsträger, da braucht es die Menschen, die auf dem Spielfeld entscheiden. Es sind eben die wenigen Situationen, die ganz klar sind, die 100-prozentig eben im falschen Bereich liegen, die kann man heutzutage mit der Technik korrigieren. Torlinie überwachen per Kamera, per Chip im Ball: Die Technik muss funktionieren. Aber das ist eben nur ein Schritt, aber ein Schritt in die absolut richtige Richtung.

Welty: Inwieweit hat für diesen Schritt auch der kommerzielle Druck eine Rolle gespielt? Schließlich geht es bei den großen Spielen auch immer um viel Geld, zum Beispiel um die Prämien für die Spieler, wenn man bei einer Europameisterschaft die Finalrunde erreicht oder eben nicht erreicht.

Merk: Natürlich, auch das muss man heute sehen. Das ist ja nicht nur die Europameisterschaft, sondern das ist gerade im Vereinswettbewerb, in der Champions League sind das ganz, ganz wichtige Argumente. Auch dahin gehend hat sich der Fußball im 21. Jahrhundert absolut verändert. Unternehmerischerseits, wirtschaftlicherseits muss man das so sehen, aber natürlich auch vonseiten der Emotionalität und eben auch der Emotionalität des Einzelnen. Und hier ganz besonders von Joseph Blatter, er musste sich 2010 öffentlich bei den Engländern nach dem Spiel Deutschland-England, dem nicht gegebenen Tor für England in Bloemfontein, musste er sich öffentlich entschuldigen. Wer diese Bilder damals gesehen hat, wer das in Erinnerung hat, der hat gespürt: Jetzt gibt es einen Sinneswandel bei Sepp Blatter, jetzt wird er doch mehr auf Seite pro Tortechnologie stehen.

Welty: Inwieweit wird sich der Fußball durch die Torlinien-Technologie verändern?

Merk: So gut wie nicht. So gut wie nicht, weil wir diese Situation eben nur, wenn ich jetzt hoch greife, in 100 Spielen mal haben. Wir haben jetzt eigentlich die Situation der Diskussion überhaupt nur bekommen, weil wir 2010 ein Spiel hatten eben mit Deutschland-England in Bloemfontein, weil wir jetzt dieses England gegen Ukraine hatten, und das sind zwei Spiele in großen Turnieren, die diese Diskussion eben angefeuert haben. Wären diese markanten Spiele nicht gewesen, würden wir wahrscheinlich jetzt auch im Jahr 2012 noch nicht darüber diskutieren beziehungsweise wären nicht so nah an einer Lösung. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es gibt eben noch andere Möglichkeiten, den Fußball zu verbessern, ohne ihn zu verändern.

Welty: Und darüber reden wir dann das nächste Mal! Der Weltschiedsrichter des Jahrzehnts Markus Merk im Interview der "Ortszeit", für das wir jetzt keine Nachspielzeit kriegen. Ich danke herzlich!

Merk: Danke auch, einen schönen Tag!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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Elektronische Welten 2010-08-18 - Tor oder nicht Tor? - Der Chip im Ball könnte die Fußballwelt gerechter machen, (DKultur, Elektronische Welten vom 18.8.2010)
Portal UEFA EM 2012
Fußballschiedsrichter Markus Merk vor seinem Einsatz im EM-Finale 2004
Fußballschiedsrichter Markus Merk vor seinem Einsatz im EM-Finale 2004© AP
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