Fukushima

"Tokio war doch belastet"

Eine Mutter und ihr Kind werden nach dem Atomunfall von Fukushima im März 2011 auf radioaktive Bestrahlung untersucht.
Eine Mutter und ihr Kind werden nach dem Atomunfall von Fukushima im März 2011 auf radioaktive Bestrahlung untersucht. © dpa/picture alliance/EPA/Asahi Shimbun
Edmund Lengfelder im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.03.2016
Fünf Jahre nach dem Reaktorunfall von Fukushima erhebt der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder schwere Vorwürfe gegen die japanische Regierung. Diese habe die Bevölkerung bewusst über das Ausmaß der Strahlenbelastung falsch informiert.
Der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder, emeritierter Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, gehörte zu den ersten, die nach dem Reaktorunglück von Fukushima von einem Super-DAU sprachen. Am fünfsten Jahrestag des Unfalls erhebt er schwere Vorwürfe gegen die japanische Regierung.

Belasteter Tee aus Shizuoka

Diese habe die Bevölkerung über das Ausmaß des Unfalls und der Strahlenbelastung bewusst falsch informiert. So habe die Regierung den Reaktorunfall mit Stufe 5 auf der INES-Skala, also zwei Stufen unter dem Super-GAU, zu niedrig eingestuft. "Das war absolut gelogen", sagt er. "Sie wussten, dass sie einen Super-GAU der Stufe 7 haben."

Falsche Belastungskarte von Tokio

Auch die über die Medien verbreiteten Strahlenbelastungskarten waren nach Ansicht Lengfelders falsch. "Man hat einfach die offiziellen Karten vor Tokio eine Nichtbelastung ausweisen lassen." Allerdings sei noch 100 Kilometer weiter von Fukushima entfernt als Tokio, in Shizuoka, Tee für den Export produziert worden, der die EU-Grenzwerte um mehr als das Doppelte überschritten habe. Das sei der Beweis dafür, dass in Shizuoka hohe Belastungsdosen da waren.
"Und es soll uns keiner erklären, dass die radioaktive Wolke um Tokio herum einen großen Umweg gemacht hat", so Lengfelder. "Das heißt, Tokio war belastet, man hätte möglicherweise auch Teile von Tokio nach internationalen Spielregeln evakuieren müssen."

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Am 11. März 2011 erreichte ein Tsunami die japanische Küste, zahlreiche Häuser, Straßen und Brücken wurden zerstört und das Atomkraftwerk in Fukushima wurde schwer beschädigt. Insgesamt sind bei dieser Katastrophe 20.000 Menschen ums Leben gekommen, wie viele allerdings infolge des Kernunfalls gestorben sind oder sehr schwer krank wurden, das ist noch immer sehr unklar. Denn die offizielle Darstellung der japanischen Regierung, die wird von vielen Experten bis heute bezweifelt.
Schon damals, unmittelbar nach dieser Katastrophe, haben wir mit dem Strahlenbiologen Edmund Lengfelder gesprochen, er war damals noch Professor am Strahleninstitut der Universität München und er war damals schon sehr pessimistisch, was die Frage anging, ob wir von den offiziellen Behörden je die Wahrheit erfahren würden:
O-Ton Edmund Lengfelder: Was wird eine Regierung machen, um die Bevölkerung ruhigzustellen? Sie werden die Bevölkerung falsch informieren! Ich möchte hier zitieren von dem amerikanischen Politiker Wolfowitz, der sagte, die Öffentlichkeit zu betrügen ist nicht nur akzeptabel, sondern notwendig.
Kassel: Das hat Edmund Lengfelder vor fünf Jahren gesagt, ich bin gespannt, was er heute sagt! Schönen guten Morgen, Herr Lengfelder!

Das Macht- und Finanzspiel sollte ungestört weitergehen

Edmund Lengfelder: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Müssen Sie, auch wenn Sie wahrscheinlich nicht stolz darauf sind, heute zugeben, ich hatte damals völlig recht?
Lengfelder: Ich kann das nur weiter unterstreichen, dass meine Aussage von damals belegt ist, dass man zeigen kann, die Aussage von dem damaligen stellvertretenden Verteidigungsminister Wolfowitz gilt weiterhin – er war ja auch zeitweise der Chef der Weltbank –, dass die Bevölkerung falsch informiert wird, einfach um die Bevölkerung ruhigzuhalten und dass das, ja, ich möchte mal sagen, das Macht- und Finanzspiel der mächtigen Kreise möglichst ungestört weitergehen kann.
Kassel: Was an dem, was die japanischen Behörden und was der Konzern Tepco sagt, ist denn Ihrer Meinung nach wirklich unwahr?
Lengfelder: Also, unwahr ist: Sie haben in den ersten Wochen damit angefangen, diese Unfallserie – es waren ja vier Blöcke betroffen vom Super-GAU –, dass sie gesagt haben, das sei ein Unfall nach der INES-Skala von fünf. Und das ist zwei Stufen unter dem Maximum, also zwei Stufen unter dem Super-GAU. Und das war absolut gelogen. Denn sie wussten ja, dass sie schon einen Super-GAU der Stufe sieben haben. Und wer dann das um zwei Stufen herunterbagatellisiert, aber weiß, dass es ein Siebener ist, also das Maximum, was möglich ist, der lügt.

Beweise für den Super-GAU

Kassel: Sie waren damals wegen Ihrer Langzeitforschung zu den Folgen von Tschernobyl einer der gefragtesten Experten der Welt, sind es natürlich heute auch noch. Hatten Sie damals oder zwischendurch Kontakt zur japanischen Regierung?
Lengfelder: Also, ich hatte Kontakt zu einigen, die aktuell drüben waren in der Umgebung von Fukushima und die dort auch gemessen haben und wo ich auch dann Messwerte herhatte und deswegen auch sagen konnte, die Aussage ist falsch.
Kassel: Aber hatten Sie je das Gefühl, die japanische Regierung weiß es, will was tun und vertuscht es absichtlich? Also, hatten Sie Situationen, wo Sie das Gefühl haben, da werden Informationen eingeholt, die eigentlich auch ein indirekter Beweis sind für einen Super-GAU?
Lengfelder: Also, man kann ja ganz klar sehen an einem Beispiel, dass gelogen worden ist, nämlich es gab wenige Stunden nach den letzten großen Freisetzungen, nachdem also der vierte Reaktor oder Block explodiert war – es war ja einer abgeschaltet, trotzdem kann er explodieren –, war klar, dass die der Bevölkerung in Japan gezeigte, über die öffentlichen Medien gezeigte Belastungsrate nicht stimmt. Und im Laufe der darauf folgenden Wochen gab es immer genauere Karten und diese Belastungskarten hörten kurz vor Tokio auf.
Und da muss man sagen: In mehr als 100 Kilometer Entfernung weiter weg noch von Fukushima liegt die Region Shizuoka. Shizuoka ist eine große Tee produzierende Region und von dort gelieferter Tee, der nach Frankreich geliefert wurde, wurde von den Franzosen zurückgeschickt, weil er die EU-Grenzwerte um mehr als das Doppelte überschritten hat.

EU-Grenzwerte bei Tee aus Japan deutlich überschritten

Wenn also noch viel weiter von Tokio und natürlich auch von Fukushima entfernt der Tee so belastet ist, dass er nicht in den Handel gebracht werden kann und die Franzosen das zurückschicken, ist das der Beweis dafür, dass in Shizuoka hohe Belastungsdosen da waren. Und es soll uns keiner erklären, dass die radioaktive Wolke um Tokio herum einen großen Umweg gemacht hat. Das heißt, Tokio war belastet, man hätte möglicherweise auch Teile von Tokio nach internationalen Spielregeln evakuieren müssen. Nur, eine Stadt wie Tokio kann man nicht evakuieren, das sind mit der Umgebung etwa 20 Millionen Leute. Man hat sich einfach die offiziellen Karten vor Tokio eine Nicht-Belastung ausweisen lassen, das heißt, auch das war falsch.
Kassel: Hatte die Katastrophe von Fukushima Folgen für die Menschen, gesundheitliche Folgen, die man trotz des Super-GAUs mit einem anderen Umgang hätte vermeiden können?
Lengfelder: In dem Augenblick, wo man der Bevölkerung gesagt hätte, was sie tun kann, eben der Aufenthalt im Freien, dann die Einnahme von belasteten Lebensmitteln, hätte man erheblich Folgen einsparen können. Die Folgen sind außer für die unmittelbare Mannschaft an dem Reaktorstandort … Die treten ja nach Jahren nach dem Ereignis ein.
Da hätte man vieles tun können, aber da hätte man zugeben müssen, dass das ein Super-GAU ist, also Stufe sieben auf der INES-Skala. Und man hätte sagen müssen: Wir können leider nicht mehr tun. Und diesen Eindruck, dass eine Regierung zugibt, sie könne nicht mehr tun, will man natürlich vermeiden. Ich meine, das gilt nach meiner Erfahrung nicht nur für Japan.
Kassel: Der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder über den Super-GAU von Fukushima, dessen Ausmaß die Regierung noch immer nicht zugeben will. Herr Lengfelder, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Lengfelder: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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