Für jede Gelegenheit ein passendes Gedicht

Von Helmut Böttiger · 10.02.2006
Die erfolgreichste und nachhaltigste deutsche Gedichtsammlung ist 1955 zum ersten Mal erschienen und wurde jetzt von Albert von Schirnding neu aufgelegt. Etwa ein Viertel der 1600 Gedichte hat er ausgetauscht und einige Werke der Jetztzeit hinzugefügt.
In letzter Zeit häufen sich die Gedichtanthologien. Es werden nicht nur neue Sammlungen herausgebracht, die die deutsche Lyrik im Lauf der Jahrhunderte sichten, sondern es werden auch alte, bewährte Sammlungen neu herausgegeben und aktualisiert: das berühmte Schullesebuch von Echtermeyer / von Wiese etwa oder der neue Klassiker von Karl Otto Conrady mit dem Titel "Das große deutsche Gedichtbuch".

Die erfolgreichste und nachhaltigste deutsche Gedichtsammlung allerdings ist 1955 zum ersten Mal erschienen und wurde jetzt, zum fünfzigsten Geburtstag, neu aufgelegt: sie hat den charakteristischen Titel "Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung" und spricht bereits dadurch sehr eindringlich vom Geist, in dem sie entstanden ist.

In den fünfziger Jahren galt es, das Gute, Wahre und Schöne wieder aufzuforsten. Ludwig Reiners unternahm das damals für den Verlag C.H. Beck. Sein mehr als tausendseitiges Kompendium wurde 500.000 Mal verkauft, es ist also wirklich in den Rang eines "Hausbuches" aufgerückt. Reiners griff dabei zu einem probaten Mittel: er ordnete die Gedichte nicht chronologisch – mit dem Verlauf der Geschichte hatten die Deutschen soeben recht schlechte Erfahrungen gemacht – sondern er gliederte sie nach thematischen Zusammenhängen.

Die Kapitel hießen also beispielsweise "Buch der Kindheit", "Alter und Vergänglichkeit", "Stimme des Schicksals", "Symbole und Träume", aber ein bisschen kokett natürlich auch "Ein wenig Spott" oder gar "Buch der Heiterkeit und des Unsinns". Es ist somit wirklich etwas für jeden dabei, ein "Hausbuch" im wahrsten Sinne, für jede Gelegenheit findet sich bestimmt ein passendes Gedicht. Solange es noch eine Art Gartenlauben-Kultur in den bundesdeutschen Familien gab, etwas Klein- oder Ersatzbürgerliches, hatte solch ein Buch also eine recht bedeutende Funktion.

In der unmittelbaren Gegenwart sind derlei Traditionsbezüge offensichtlich abhanden gekommen. Von daher ist das Bedürfnis nach Vergewisserung umso größer. Albert von Schirnding, ein erfahrener und belesener Literaturkritiker, hat den "ewigen Brunnen" behutsam modernisiert und dabei die alte Einteilung belassen. Ein Viertel der 1600 Gedichte hat er ausgetauscht und ist gelegentlich bis in die aktuelle Jetztzeit gegangen, der jüngste der hier vertretenen Dichter ist der 1971 geborene Jan Wagner.

Der radikale deutsche Pop-Poet Rolf Dieter Brinkmann hat sich immerhin einmal in das Kapitel "Lebensalltag" hineingefunden, Erich Fried durfte mit hinein ins "Buch der Liebe", und die wichtigsten Autoren der Moderne nach 1945, auf die Reiners noch im Zweifelsfall verzichtet hatte, bekommen nun Raum: Celan, Bachmann, Eich, Huchel.

Mit dem modischen Trend zur Performancedichtung, zur Lautpoesie hat Albert von Schirnding hingegen gar nichts zu schaffen, er verzichtet sogar auf den momentan als Trendsetter geltenden Thomas Kling. Dafür hat er immerhin von Durs Grünbein ganz aktuell ein Stück aus dem erst 2005 erschienen "Porzellan"-Poem aufgenommen. Diese Vorsicht bei der Auswahl kann durchaus von Vorteil sein: "Der ewige Brunnen" besteht ganz eindeutig aus Bewährtem, und so richtig falsch machen kann man nichts, wenn man dieses Buch zu Rate zieht.

Ludwig Reiners, Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung
Aktualisiert und erweitert von Albert von Schirnding
Verlag C.H. Beck, München
1134 Seiten, 19,90 €.