Für eine religionslose Zeit

Von Susanne Mack · 08.02.2006
Moderne Religion, betonte Dietrich Bonhoeffer, ist Religion n a c h der Aufklärung. Das heißt, sie hat es mit den Wissenschaften und mit mündigen Menschen zu tun. Diese Mündigkeit ernst zu nehmen, ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit. Von Gott muss man heute "religionslos reden", dass heißt im Alltag und mitten in der Welt. Der dies schrieb und lebte, wurde am 4. Februar vor 100 Jahren geboren.
"Ich kann mir inzwischen das Leben gar nicht mehr vorstellen, ohne dass der Tag eingebettet und eingerahmt ist in die Begegnung mit dem biblischen Wort und in das Gebet. Ich wüsste nicht, wie ich das Tempo, das der Tag manchmal bei mir annimmt, wie ich das durchstehen sollte, wenn es nicht solche Ruhepunkte gäbe, wenn nicht die Auseinandersetzung , die Beschäftigung, die Begegnung mit dem biblischen Wort so im Zentrum meines eigenen Lebens und meiner Arbeit stehen würde, wie das der Fall ist."

Das sagt ein Mann mit einem randvollen Terminkalender. Wolfgang Huber, Bischof von Berlin und Brandenburg und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Erst Beten und dann Arbeiten. Das hat der Bischof von einem Theologen gelernt, dessen Lebenswerk er sehr verehrt: von Dietrich Bonhoeffer.

Bonhoeffer-Predigt 1935: "Jeder Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Die alte Treue Gottes allmorgendlich neu zu fassen, mitten in einem Leben mit Gott täglich ein neues Leben mit ihm beginnen zu dürfen: Das ist das Geschenk, das Gott uns mit jedem neuen Morgen macht. Vor Tagesanbruch geht Jesus beten. Es ist die Erwartung der Wunder Gottes, die Männer des Glaubens früh aufstehen lässt. In die ersten Augenblicke des neuen Tages gehören nicht eigene Pläne und Sorgen, auch nicht der Übereifer der Arbeit, sondern Gottes befreiende Gnade, Gottes segnende Nähe."

Erst beten - und dann arbeiten. Auch für Christian Führer, den Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, ist das eine Selbstverständlichkeit. Sein Terminkalender ist genauso gut gefüllt wie der von Bischof Huber, denn spätestens seit dem Herbst 1989 ist die Nikolaikirche eine politische Instanz. Und was den Pfarrer aus Leipzig außerdem mit dem Bischof aus Berlin verbindet, ist seine tiefe Verehrung für Dietrich Bonhoeffer.

"Bonhoeffer hat keine Themen gescheut, er hat die Welt nicht gescheut, er hat die Verantwortung nicht gescheut. Und er hat etwas gemacht, was selten zusammen ist. Er ist nicht nur sehr klug gewesen. Das führt in der Regel dazu, dass man Theoretiker wird, den die Leute nicht verstehen, der irgendwo in seinen Büchern lebt, aber nicht in der Wirklichkeit angekommen ist. Und dann gibt es die Pragmatiker, die aber eben auch oftmals im blinden Aktionismus herumwüten in der Welt, wo dann die innere Grundlegung fehlt. Bonhoeffer hat dieses beides in einem außerordentlichen Maße gehabt. Er war sehr klug, aber diese Klugheit hat ihn nicht in den Elfenbeinturm geführt, sondern gerade dazu, zu den Menschen zu gehen und praktisch zu werden."

Dietrich Bonhoeffer. 1906 geboren. Ein Theologe mit einer akademischen Blitzkarriere: mit 24 Jahren hat er sich habilitiert, wird bald darauf Privatdozent an der Berliner Universität und ist gleichzeitig als Pfarrer und als Seelsorger tätig.

Christian Führer: "Der war Vikar in Berlin. Und da ist er - sein Vater hatte dort ’ne Villa, seine Eltern …sein Vater war ein berühmter Professor - und er ist aus der Villa ausgezogen und hat sich ein Zimmer im "Roten Wedding" genommen. Und dann haben die dort gesagt: "Na, hier hat doch noch nie sich ’n Pfaffe her verirrt!". Und er wohnte dort mitten drin, und er hat auch eine große Ausstrahlungskraft gehabt.

Er hatte Religionsunterricht in einer Schule. Und das ging dort drunter und drüber. Der Pfarrer, der das sonst immer machte, der wurde schon, als er die Treppen hochkam, beschossen von oben mit irgendwelchen Gegenständen, der konnte sich nur mit Brüllen irgendwie…aber da war nichts, was irgendwie ankam. Und Bonhoeffer ist dann ganz cool in diesen tobenden Raum gekommen, hat sich an die Tafel gestellt und hat ganz leise angefangen zu erzählen, von seinen Erlebnissen in Amerika, von den Kirchen dort, von den Schwarzenvierteln. Dass er in diesen Kirchen der Weißen Jesus nicht gefunden hat, sondern eher dort, wo die Schwarzen ihre Gottesdienste gehalten haben, die Afro-Amerikaner. Und dann wurde das mittlerweile ruhig. Und als alle ruhig waren, hat er gesagt: "Wer mehr hören will, der kommt das nächste Mal." Und ist raus gegangen."

Dietrich Bonhoeffer: das ist Theologie und Christentum mitten im Leben. Obwohl die Bonhoeffer-Werkausgabe 19 Bände umfasst - er war also durchaus ein Freund des Denkens und der Theorie - haben ihn die Evangelien weniger als Vorlage für akademische Diskurse interessiert, sondern vielmehr als Anleitung zum Leben und Handeln.

Wer sich zu Bonhoeffers Theologie bekennt, der bekennt sich zu Jesus als Vorbild für die eigene Lebensführung. Er ist aufgerufen, hier und heute - so Bonhoeffer wörtlich - die "Nachfolge Christi" anzutreten.

Wolfgang Huber: "Das ist eine große Ermutigung auch für das eigene Leben: die Orientierung an Christus, die Orientierung an der Bergpredigt, die Orientierung an der Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden ins Zentrum zu rücken. Es ist aber ganz hilfreich zu wissen, dass Dietrich Bonhoeffer den Menschen in seiner Umgebung vor allem anderen als ein sehr fröhlicher Mensch aufgefallen ist. Ich hab’ gerade dieser Tage noch mal Zeugnisse gelesen, bis in die Zeit des Gefängnisses hinein, dass die Menschen, denen er da begegnet ist, erstaunt waren darüber, wie lebensbejahend er sogar noch in der Situation im Gefängnis war. Und deswegen ist es mir auch persönlich sehr wichtig, dass man "Nachfolge Christi" nicht mit "Trübetümplichkeit" verwechselt, sondern mit Bejahung des Lebens, mit Verwurzelung in der Wirklichkeit des Lebens, mit Lebensfreude und mit Zuversicht."

Aber es gab auch verzweifelte Stunden. Am 15. Dezember 1943 schreibt der Häftling Dietrich Bonhoeffer in einem Brief:

"Und schließlich würde ich anfangen, Dir zu erzählen zum Beispiel, dass es, trotz allem, was ich so geschrieben habe, hier scheußlich ist. Dass mich die grauenhaften Eindrücke oft bis in die Nacht verfolgen. Und dass ich sie nur durch Aufsagen unzähliger Liederverse verwinden kann .Und dass dann das Aufwachen manchmal mit einem Seufzer statt mit einem Lob Gottes beginnt."

Führer: "Und als er dann abgeholt wurde, hat er seine wenigen Dinge noch verteilt, die er hatte, und hat diesen bekannt gewordenen Satz gesagt: "Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens." Und der Arzt..., es musste ja bei jeder Hinrichtung ein Arzt dabei sein, ich glaube, das war Doktor Alt, der hat das beschrieben dann, eine Weile später. Und hat gesagt, er habe noch nie einen Menschen so hingebungsvoll beten und so getrost sterben sehn. Und dieses Sterben war sehr schwierig. Hitler hat ihn, wie die anderen schon vom Aufstand ’44, an Klavierseiten aufhängen lassen und sich diese Filme dann angesehen.

Und Bonhoeffer hat diesen Tod auch tatsächlich so im Glauben bewältigt, dass der Gefängnisarzt zutiefst beeindruckt war von diesem Sterben. So kann man tatsächlich nicht nur durch sein geistiges Wirken zeitlebens, sondern auch durch das Sterben einen tiefen Eindruck hinterlassen. Und wir können nur sagen: Das ist eine große Gottesgabe gewesen, dass Deutschland diesen Mann hatte."

Bonhoeffers Sehnsucht und Suche nach dem echten, dem gelebten Christentum macht ihn zum Kritiker einer weltfremden Religion und einer lebensfernen Kirche - so wie sie ihm leider tagtäglich begegnet. Ob nun katholisch oder evangelisch, macht in dieser Sache keinen Unterschied.

Wolfgang Huber: "Bonhoeffers Religionskritik muss man tatsächlich in diesem Zusammenhang sehen. Nämlich die Kritik an einem Verständnis des christlichen Glaubens, wonach der christliche Glaube es eigentlich nicht mit der Wirklichkeit unseres Lebens zu tun hat, sondern ein abgegrenzter Bezirk von Frömmigkeit ist, eingesperrt in die Kirchenmauern, reduziert auf die Zeit sonntags morgens zwischen zehn und elf. Und dann gehen die Leute wieder raus, und das ist es gewesen, und sie widmen sich ihrem Sonntagsbraten. Diese Vorstellung: der Glaube als ein abgegrenzter Bezirk. Und Gott als ein Lückenbüßer für die Fragen, die ich jetzt noch nicht lösen kann, das ist die Vorstellung, die Dietrich Bonhoeffer als "Religion" bezeichnet."

Das Wort "Religion" wird von Bonhoeffer tatsächlich oft negativ gebraucht, als Synonym für einen Kultus zwischen Eingeweihten, die sich nur mit sich selbst und dem Leben nach dem Tod beschäftigen. Auch das ist ein Grund dafür, dass wir inzwischen auf dem Weg sind, wie Bonhoeffer schreibt, "in eine religionslose Zeit". Die große Mehrheit der Menschen geht nicht mehr in die Kirche, weil die mit ihrem Leben nichts zutun hat.

Doch genau diese "religionslose Zeit", meint Bonhoeffer, ist auch eine Chance für echtes Christentum. Denn Jesus hat auch nicht im Tempel gesessen, sondern mitten unter den Menschen. Als Prediger und Heiler hat er sich um die "Mühseligen und Beladenen" gekümmert. Auch die Christen von heute müssen hinaus ins Leben gehen, ihren Glauben und ihren Ethos dort bewähren.

Christian Führer: "Und Bonhoeffer hat mir die Augen geöffnet, was für mich bestimmend geblieben ist, diese nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe oder: "Wie reden wir religionslos von Gott?" Eine Sprache zu finden, wie Jesus sie gesprochen hat, die die Menschen verstehen. Jesus hat auch nicht die Sprache des Tempels gesprochen, keine Kultsprache, keine liturgische Sprache, sondern die Sprache der einfachen Leute. Hat vom Senfkorn gesprochen, vom Sämann, vom Sauerteig, also alles Dinge, die die Leute verstanden, mit denen sie täglich umgingen.

Wir müssen Gott in der Mitte des Lebens anbinden und nicht am Rande irgendwo. Und wir müssen selbst uns so in die Verantwortung nehmen lassen, zu leben "et se deus non daretur" - "als ob es Gott nicht gäbe". Aber natürlich mit dem Hintergrund dessen, dass wir's wissen, dass wir aus dieser Geborgenheit, aus diesem Vertrauen heraus leben, aber für die anderen so, als gäbe es Gott nicht. Und nicht: "Das lassen wir den lieben Gott machen!" Und sind zu faul zum eigenen Handeln und für die eigenen Verantwortung!"Suchet der Stadt Bestes und betet zu Gott!", heißt es schon im alten Testament beim Propheten Jeremia. Das Christentum ist eine politische Religion. Keine parteipolitische, sondern "politisch" im altgriechischen Sinn von "öffentlich" und "das Gemeinwohl betreffend". Bonhoeffer meint, die Kirche mit ihren ethischen Idealen muss eine kritische Instanz der Gesellschaft sein.

Bonhoeffer: ""Kirche ist nur dann Kirche, wenn Sie für andere da ist."

Dieser Gedanke von Bonhoeffer wird in der Nikolaikirche Leipzig sehr ernst genommen. Das weiß man in dieser Stadt. "St. Nikolai" ist eine Kirche "offen für alle" - das steht auf einem Schild am Hauptportal - und tatsächlich kommen laufend Menschen - egal, ob Christen oder nicht - in diese Kirche, wenn sie ein öffentliches Anliegen haben:

Führer: "Ich weiß noch: '95 sollte hier die Brauerei in Reudnitz geschlossen werden. Und da ging es ja immer nach dem Prinzip, dass ein großer Westkonzern einen Ostbetrieb für 'nen Appel und 'n Ei bekam. Das Ding mit öffentlichen Mitteln - nicht mit eignem Geld, bewahre! - mit Fördergeldern 'n bisschen aufpeppte, nicht zuviel, das es nicht wirklich klappte, um dann nach einem Jahr festzustellen: Also, wir sind keine karitative Einrichtung, wir können Euch nicht am Tropf halten, leider Schluss! - Und die arbeiteten nun tatsächlich in schwarzen Zahlen. Und es wurde trotzdem dieses Prinzip angewendet, und da sagten die. "Wir müssen ein Friedensgebet halten! Könnt' ihr was machen für uns?"

Kam der Betriebsrat und so weiter. So haben wir das eingefädelt. Und ich war dann so erbost drüber über diese Ungerechtigkeit, dass nicht mal der Schein des Rechts stimmte. Und da hab' ich in der Begrüßung dann gesagt:

"Diese Ungerechtigkeit nehmen wir nicht hin, die Brauerei arbeitet weiter. Dieses Signal geht heute von der Nikolaikirche aus!"

Und weil das sozusagen das Letzte war, was passieren würde, haben das alle Zeitungen geschrieben und erstaunlicherweise, vier Tage später trat der Vorsitzende von "Brau und Brunnen" in Dortmund zurück, und nach drei Monaten hörten wir: Die Brauerei hier steht nicht mehr zur Disposition, die arbeitet weiter. Bis heute übrigens. Und dann kamen die Brauer - soviel Brauer waren noch nie in der Kirche, muss ich mal sagen - die kamen dann noch mal: "Dankeschön, und so weiter".

Und diese Sache, sich so rauszuwagen, das konnte ja ein Riesen-Flop werden, haben wahrscheinlich die alle gedacht. Wenn man wirklich Jesus nachfolgt und sich auf Gott verlässt, da wird so was immer gesegnet, das hab’ ich jetzt so oft erfahren, das mir das richtig auffällig ist und ich das verstanden habe als eine Führung Gottes, die man ja immer erst hinterher erkennt, wenn man draufgucken kann."

Ein zeitgemäßes, mutiges, öffentlich wirksames Christentum - das war Dietrich Bonhoeffers großes Anliegen. - Ein solches Christentum hat auch das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft neu zu bedenken.

"In dem, was wir wissen, sollen wir Gott erkennen, nicht in dem, was wir nicht wissen," schreibt Bonhoeffer und beklagt sich gleichzeitig über das Ressentiment mancher Kollegen aus der Theologie gegenüber den Naturwissenschaften.

Huber: "Also, konform gehen muss die Theologie mit den Naturwissenschaften nicht, Sie muss auch den Naturwissenschaften gegenüber ihre Eigenständigkeit behalten. Aber sie ist schlecht beraten, wenn sie naturwissenschaftliche Einsichten wider besseres Wissen negiert, weil sie sich einbildet, dass die biblischen Aussagen mit diesen naturwissenschaftlichen Einsichten unvereinbar sind. Dabei ist es doch so: Die biblischen Texte sind auf der Grundlage der Weltbild-geprägten Vorstellungen ihrer Zeit formuliert, sie bringen eine Glaubensüberzeugung zur Sprache im Rahmen des Weltbildes der eigenen Gegenwart.

Und bei aller kritischen Prüfung, die auch die moderne Wissenschaft verdient hat, ist es doch natürlich vernünftig, diesen Glauben heute in Bezug auf die Weltbildvorstellungen zu formulieren, die sich für uns heute dadurch ergeben haben, dass uns wissenschaftliche Einsichten zugänglich sind, die es vor dreitausend Jahren noch nicht hat geben können. Und das Weltbild vor dreitausend Jahren gegen Darwin ins Feld zu führen, ist ein in sich selbst widersprüchliches Vorhaben, es verwechselt den Schöpfungsglauben mit einer wissenschaftlichen Darstellung, und das soll man nie tun."

Aber Bonhoeffer wendet sich genauso gegen die moderne "Vergottung" der Wissenschaften und die gedankenlose Arroganz vieler Naturwissenschaftler gegenüber dem Glauben und der Theologie.

Führer: "Er hat gesagt: "Ihr macht aus Gott einen Lückenbüßer-Gott. Ihr steckt ihn immer dorthin, wo man mit dem Wissen noch nicht ist, und da vertreibt ihr Gott sozusagen immer in diese Löcher hinein, das ist ein unmögliches Verhalten!""

Dieses Verhalten hat historische Gründe. Mit dem Zeitalter der Aufklärung beginnt in Europa die große Karriere der Wissenschaften. "Habe Mut, Deinen eigenen Verstand zu gebrauchen", hat Immanuel Kant uns gelehrt. Theologie nach der Aufklärung, so Dietrich Bonhoeffer, hat es mit mündigen Menschen zutun. In Zukunft also gilt es, wissenschaftliches Bewusstsein einerseits und Glauben andererseits unter einen Hut zu bringen.

Huber: "Das bedeutet, dass wir zwar Religion nach der Aufklärung verstehen, aber zugleich eine Aufklärung über die Aufklärung brauchen. Nämlich eine Kritik derjenigen Fassung der Aufklärung, nach der man sich vorstellt, wer durch die Aufklärung durchgegangen ist, der hat die Religion hinter sich gelassen. Also eine Vorstellung von der Religion als den Eierschalen vormodernen Bewusstseins, die wir endlich abschütteln, wenn wir in die Moderne eintreten. Wir alle wissen: von dieser Denkweise gibt's ein paar Spielarten, auch eine marxistische darunter, aber auch andere. Und da muss man kritischer sein, man braucht eine Aufklärung über die Aufklärung."

Denn die Aufklärung führte schließlich zu einem Kniefall vor den Wissenschaften. Ein Prozess, der Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht. In ganz Europa herrscht Wissenschafts-Gläubigkeit: wissenschaftliche Gewissheiten werden - wie selbstverständlich - für wertvoller gehalten als Glaubensgewissheiten, und die religiös-metaphysischen Fragen des Lebens gerne verdrängt.

Dietrich Bonhoeffer: "Die Geheimnislosigkeit des modernen Lebens ist unser Verfall und unsere Armut. Geheimnislos leben heißt, die entscheidenden Vorgänge des Lebens gar nicht sehen. Oder sogar ableugnen. Dass unser ganzes geistiges Leben so aus dem verborgenen, heimlichen Dunkel kommt wie unser Leib, wie alles Leben - das wollen wir nicht wissen. Dass das Geheimnis die Wurzel alles Begreiflichen und Offenbaren ist, das wollen wir nicht hören."

Huber:" Das müssen wir wiedergewinnen, das ist die große Thematik des 21. Jahrhunderts. Deswegen ist es ja kein Rückfall vor die Aufklärung, wenn wir im 21. Jahrhundert Religion als ein ganz großes Thema wieder ernst nehmen."

Dietrich Bonhoeffer 1932 auf einer Jugendfriedenskonferenz:

"Wir sollen uns auch nicht vor dem Wort 'Pazifismus' scheuen. Der nächste Krieg ist zu ächten! Aus dem Gehorsam gegen das Gebot Gottes, dass der Krieg nicht mehr sein soll. Weil er uns den Blick auf die Offenbarung raubt."

Huber: "Man kann ganz genau sagen, wann dieser Pazifismus sich entwickelt hat, nämlich angesichts einer neuen Begegnung mit der Bergpredigt Jesu. Die Bergpredigt Jesu hat ihn dazu gebracht einzusehen, dass die Verpflichtung für Frieden und Gerechtigkeit für einen Christen eine absolut bindende Verpflichtung ist."

Bonhoeffer: "Überall wird Frieden und Sicherheit verwechselt. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Frieden muss gewagt werden. Er ist das eine, große Wagnis - und lässt sich nie und nimmer sichern. Frieden ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg."

Führer:" Bonhoeffer selbst hat diesen Gedanken 1934 entwickelt, und der ist bis heute noch nicht bei den Mächtigen angekommen, es wird nach wie vor immer auf Sicherheit gesetzt, und das führt nach wie vor zu militärischen Auseinandersetzungen und Konflikten, siehe Irakkrieg, siehe das, was in Israel/Palästina passiert. Und das andere ist, dass Bonhoeffer auch einmal diesen Weg Jesu verlassen hat, indem er für den Tyrannenmord eingetreten ist. Sie kennen das Wort, wo er sagte: "Wenn einer auf’m Ku'damm mit 'nem Auto wild in die Menschen rein fährt, dann muss man dem einfach ins Steuer fassen und den stoppen"."

Bonhoeffer: "Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen."

Huber: "Pazifismus, Verpflichtung auf die Gewaltlosigkeit bedeutet nicht nur, dass ich gewaltlos handle, sondern dass die Gewalt aufhört. Und das hat dazu geführt, dass Bonhoeffer sich an der Verschwörung gegen Hitler beteiligt hat, dass heißt, er war bereit, eine bestimmte Gewalthandlung zu unterstützen, nämlich die Beseitigung des Diktators."

Führer: "Und er hat das aber nicht zum Grundsatz gemacht, sondern er hat gesagt, wenn ich dazu beitrage, dann werde ich das persönlich vor Gott verantworten müssen, denn es ist tatsächlich gegen die Bergpredigt. Und da ist er von Kirchenleuten oft angefeindet worden, das find' ich katastrophal. Er war nicht im Krieg, hat niemanden umgebracht, die anderen sind reihenweise in den Krieg gegangen, fanden das durchaus mit ihrem Christentum… irgendwie, na ja, nicht gerade richtig, aber es ging nicht anders.

Und ihm, der diesen Widerstand angesagt hat und bereit gewesen wäre, auch tatsächlich Hand anzulegen und schuldig zu werden - was nicht von ihm gefordert worden ist, was er nicht gemacht hat - und ihn dann anzugreifen, das find’ ich also entsetzlich, und er ist ja erst vor wenigen Jahren rehabilitiert worden. Er ist ja immer als zurecht verurteilter Mensch nicht anerkannt worden.

Das ist also jetzt erst vor wenigen Jahren geschehen, dass er sozusagen nicht mehr als Hochverräter, Gesetzloser, Deserteur oder was weiß ich, unter welche Kategorie sie ihn eingestuft hatten, eben richtig nach Recht und Gesetz, das damals galt, verurteilt worden... Und das ist erst jetzt aufgehoben worden."

Am 6. August 1996 erklärt das Berliner Landgericht das Urteil gegen Dietrich Bonhoeffer für nichtig. Bis dahin galt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1956. Sie hatte das Bonhoeffer-Urteil für rechtsgültig befunden, weil Bonhoeffer - so wörtlich - "nach den damals geltenden Gesetzen die Merkmale des Landesverrats verwirklicht hatte".

SS-Richter Otto Thorbeck dagegen, er hatte am 8. April 1945 das Todesurteil über Bonhoeffer gesprochen, wurde damals von dem Vorwurf, er habe Beihilfe zum Mord geleistet, in allen Punkten freigesprochen.

Leipzig im Herbst 1989. Da wurde tatsächlich einmal mit der Bergpredigt Politik gemacht. Eine Revolution aller politischen Verhältnisse, die nicht, wie üblich in Deutschland, von den Herrschenden niedergeknüppelt wird, sondern gelingt. Und zwar mit friedlichen Mitteln.

Wolfgang Huber: "Für mich ist das Jahr 1989 das größte Wunder meiner eigenen Lebensgeschichte. Es ist das größte geschichtliche Geschenk an uns Deutsche, seit der Befreiung vom Nationalsozialismus, seit dem Jahr 1945, hat es kein so wichtiges Ereignis in unserer Geschichte gegeben wie den Herbst 1989. Ich weiß auch, dass für viele manches schwerer geworden ist, dass diejenigen, die die angestammte Arbeit verloren haben, die ein klares Gerüst für ihr Leben hatten, wo sie gedacht haben: so geht es nun weiter bis zur Rente, dass die durch sehr schwere Zeiten gegangen sind, und trotzdem glaube ich, dass auch sie niemals sagen würden, dass sie vor das Jahr 1989 zurückwollten.

Wenn man sich das klargemacht hat, fällt es, glaub’ ich, auch leichter, sich mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen auseinanderzusetzen, mit denen wir es jetzt zutun haben. Deswegen: dass Gott in der Geschichte wirkt, das glaube ich auch, und wenn ich's jemandem verdeutlichen will, dann nenne ich den Herbst 1989 ."

Pfarrer Christian Führer stand auch in diesen Wochen auf der Kanzel jener Kirche, von der die friedliche Revolution ihren Ausgang nahm. Das traditionelle Friedensgebet - es findet noch heute an jedem Montag um 17.00 Uhr in der Nikolaikirche statt - war der Ausgangspunkt der legendären Montagsdemonstrationen, die im Herbst ’89 hunderttausende Bürger - zuerst in Leipzig, dann in der ganzen DDR - zum friedlichen Protest zusammenführten. Wäre Dietrich Bonhoeffer nicht beglückt gewesen, hätte er den "Herbst 89" erlebt?

Der Pfarrer der Nikolaikirche überlegt. Soviel ist sicher: Christus’ Bergpredigt hat in den Friedensgebeten von damals die entscheidende Rolle gespielt.

Führer: "Und ich muss immer wieder sagen: ich seh' die Menschen auch heute noch vor mir. Diese Tausenden von Nicht-Christen, die immer, auch montags, da waren, dass die immer beeindruckt waren von dieser Radikalität der Bergpredigt. "Selig die Armen!" Und nicht :"Wer Geld hat, ist glücklich", "Liebe Deine Feinde!" und nicht "Nieder mit dem Gegner!" "Erste werden Letzte sein und Letzte werden Erste sein" und nicht "Seid schön vorsichtig und es bleibt alles beim alten!", "Wer sein Leben einsetzt und verliert, der wird es gewinnen!" und nicht "Riskiert nichts, bleibt schön vorsichtig!" Und "Ihr seid das Salz!" und nicht "Ihr seid die Creme, die Oberschicht !"

Das hat die Menschen gepackt, dieses ungeheuer Alternative. Und dass die Menschen das aufgenommen haben und haben das in zwei Worte gepresst: "Keine Gewalt!", das ist für mich ein ungeheures Geschehen. Kein Theologe hat's geprägt, kein Bischof, kein Universitätsprofessor, kein Pfarrer. Es ist aus dem Volk geboren, und sie haben das konsequent praktiziert! "


Dietrich Bonhoeffer 1934 :
"'Friede auf Erden!' - Das ist kein Problem, sondern ein mit der Erscheinung Christi selbst gegebenes Gebot. Zum Gebot gibt es ein doppeltes Verhalten : den unbedingten Gehorsam der Tat, oder die scheinheilige Frage der Schlange: "Sollte Gott gesagt haben?"
Sollte Gott nicht die menschliche Natur besser gekannt haben und wissen, dass Kriege in diese Welt kommen müssen wie Naturgesetze?
Sollte Gott nicht doch gesagt haben, wir sollten wohl für den Frieden arbeiten, aber zur Sicherung sollten wir doch Tanks und Giftgas bereitstellen?
Nein, das alles hat Gott nicht gesagt! Sondern gesagt hat er, dass Friede sein soll unter den Menschen. Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt."

Führer:" Wenn Sie das hier vorm Fenster gesehen haben: Die haben die Leute zusammengeknüppelt, auf'n Lastwagen geschleift, und die haben sich nicht gewehrt. Die haben genau das gemacht, wie Jesus gesagt hat: "Segnet, die Euch verfluchen!" und "schlagt nicht wieder, wenn Ihr geschlagen werdet!". Einer muss mal diese Kette der Gewalt unterbrechen, sonst geht das Schlag auf Schlag und Schuss auf Schuss, bis keiner mehr am Leben ist. Dass das hier gemacht worden ist, das ist ungeheuer. Carl Friedrich von Weizsäcker hat zu mir gesagt: "Das ist ein erschütternder Vorgang!". Und ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: das ist ein Wunder biblischen Ausmaßes, wenn irgendwas das Wort "Wunder" verdient, dann ist es das!

Und wir haben eine Sache gelernt, die wir bis dato nicht praktisch nachweisen konnten: Es gibt nicht nur die vier großen Hebel in der Politik: Geld, Armee, Wirtschaft, Medien. Sondern es gibt eine andere, ungeheuer große und segnende Kraft Gottes, die Veränderung schafft ohne Blutvergießen und ohne Demütigung anderer. Und das haben wir hier gelernt.

Und ja, es ist 'ne richtig interessante Frage, als Sie sagten: Was würde Bonhoeffer dazu sagen? Was Jesus dazu sagen würde, denk' ich, ist schon ziemlich klar, dass das im Geist Jesu gewesen ist, dass wir diesen Segen erfahren haben Aber das wär' schon interessant, das zu erfahren, wie Bonhoeffer das eingestuft hätte. Er hätte vielleicht dann ein schönes Fazit formulieren können in seiner wunderbaren Sprache. - Zumindest hat es viel mit Jesus und auch einiges mit Dietrich Bonhoeffer zu tun."

Bonhoeffer: "…Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt."
Mehr zum Thema