"Fünf Überstunden pro Tag ist fast schon üblich"

Gisela Burckhardt im Gespräch mit Susanne Führer · 17.11.2010
Abgesehen von kleinen Verbesserungen haben sich die grundsätzlichen Arbeitsbedingungen für beispielsweise Näherinnen in Bangladesh nicht geändert, sagt Gisela Burckhardt, von der Kampagne für Saubere Kleidung. Sie fordert eine menschenwürdige und transparente Produktion.
Susanne Führer: Und eine Person, die diese Fragen stellt und andere ermuntert, es auch zu tun, ist Gisela Burckhardt von der Kampagne für Saubere Kleidung. Guten Tag, Frau Burckhardt!

Gisela Burckhardt: Guten Tag, Frau Führer!

Führer: Vor zwei Jahren hatten Sie ja schon einmal zwei Näherinnen auf eine Rundreise durch Deutschland eingeladen, und wenn ich jetzt Jessmin Begum höre, dann habe ich den Eindruck: Die Lage für die Näherinnen ist genauso schlecht wie damals, oder?

Burckhardt: Ja, leider müssen wir sagen, dass sich nicht allzu viel geändert hat. Es gibt ein paar Verbesserungen so im Gesundheitssektor oder auch im Sicherheitsbereich, man hängt jetzt Feuerlöscher auf oder die Gänge sind frei für den Notfall, falls es zu Brand kommt, aber die grundsätzlichen Dinge haben sich leider nicht verbessert, wie Jessmin ja berichtet. Sie muss massiv Überstunden machen, fünf Überstunden pro Tag ist fast schon üblich, und sie dürfen sich zum Beispiel auch nicht organisieren in der Fabrik, sodass sie also für ihre eigenen Rechte eintreten können, sie werden dann sofort entlassen. Also die wesentlichen Sachen – Überstunden, sehr niedrige Bezahlung, keine Gewerkschaftsfreiheit und eben auch Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz, wie sie sie beschrieben hat – das ist leider noch die Regel.

Führer: Die Kleidung, die dann unter diesen, ja, entwürdigenden Umständen hergestellt wird, genäht wird, wird ja dann hier im reichen Deutschland zu Schleuderpreisen verkauft. Sind da eigentlich hier alle Discounter gleichermaßen beteiligt?

Burckhardt: Man kann sagen, dass nicht nur alle Discounter, sondern fast alle Unternehmen hier gleichermaßen beteiligt sind. Man sollte bedenken, dass der Lohnanteil an einem Produkt, das bei uns hier verkauft wird, gerade mal bei 0,5 bis 1 Prozent liegt, das heißt also, vor Ort die Näherinnen profitieren davon nicht, sei es, ob das nun bei Lidl oder Aldi hergestellt ist, oder Kik, oder ob es auch bei Peek & Cloppenburg oder Tom Taylor hergestellt ist – der Lohnanteil ist einfach sehr gering, und die Arbeitsbedingungen vor Ort sind fast überall die gleichen.

Führer: Das heißt, man kann dem nicht mal entgehen, wenn man das Geld hätte, um sich teurere Kleidung zu kaufen.

Burckhardt: Das ist richtig, man zahlt dann zum großen Teil die Marke. Wir machen aber trotzdem deswegen eine Kampagne gegen die Discounter, weil die die Preisdrücker sind vor Ort, weil sie mit ihrem Riesenvolumen, was sie einkaufen können, einfach die Möglichkeiten haben, die Preise zu drücken, und dann müssen halt die anderen Unternehmen auch nachziehen.

Führer: Gibt es denn irgendwelche Unternehmen, die Sie empfehlen können, Frau Burckhardt?

Burckhardt: Richtig empfehlen können wir nichts. Wir sagen vor allen Dingen auch, dass ... die Möglichkeiten für Verbraucherinnen und Verbraucher, sich zu informieren, sind ja minimal. Auch der Gesetzgeber sorgt da gar nicht für, das Verbraucherinformationsgesetz, was derzeit existiert, informiert zum Beispiel nicht über den Herstellungsprozess. Sie können sich da nur Erkundungen einziehen, welche Bestandteile eine Ware hat, aber nicht, wie sie hergestellt worden ist. Und wir werfen auch den Unternehmen vor, dass sie da keine Transparenz zeigen, dass sie nicht zeigen, wo sie herstellen lassen und unter welchen Bedingungen hergestellt wird. Ich glaube, der Verbraucher, die Verbraucherin hier würde sich anders verhalten, wenn sie sehen könnte, dass ein Kleidungsstück eben sozial verträglich hergestellt ist, aber die Informationen haben wir ja nicht.

Führer: Ich kann ja aber immerhin gucken, wo etwas hergestellt ist, aber ich nehme jetzt mal an, Frau Burckhardt, dass es auch nicht in Ihrem Sinne wäre, wenn ich jetzt sagen würde, ah, da steht drauf, Made in Bangladesch, das kaufe ich dann gar nicht – denn dann haben die armen Frauen da ja gar keine Arbeit mehr.

Burckhardt: Das ist völlig richtig. Also es geht auch nicht um Bangladesch-Bashing oder China-Bashing, wir wollen ja gerne, dass die Aufträge weiter nach China oder Bangladesch gehen. Aber wir wollen, dass dort menschenwürdig hergestellt wird. Und deswegen geht es auch nicht darum allein, das Land sagt ja noch gar nicht viel aus, es sagt ... Wichtig ist, dass wir wissen, in welchen Fabriken wird hergestellt, und ob diese Fabriken auch kontrolliert werden, also ob man da externe Prüfungen durchführt und wie auch zum Beispiel eingekauft wird. Ein großer Vorwurf ist von uns, dass ... die Unternehmen legen sich ja alle einen sogenannten Verhaltenskodex zu, und den zwingen sie auch, ihre Lieferanten, fordern sie die Lieferanten auf, diesen Verhaltenskodex zu unterschreiben.

In solchen Verhaltenskodices steht zum Beispiel drin das Recht auf Organisationsfreiheit, wird aber verletzt, in allen Fabriken. Oder zum Beispiel Zwangsarbeit, ist verboten: Jessmin muss aber Überstunden machen. Es ist Fakt so, dieser Verhaltenskodex steht auf dem Papier, wird aber konkret nicht umgesetzt. Und deswegen sind wir eigentlich inzwischen der Meinung, dass der Gesetzgeber in Deutschland und auch auf EU-Ebene gefordert ist, dass man Regelungen schafft, dass man gesetzlich Regelungen schafft, dass Unternehmen verpflichtet werden, solche Sozialstandards einzuhalten. Und da fordern wir vor allen Dingen, dass man Unternehmen haftbar machen kann, also wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen und nicht vor Ort dafür sorgen, dass Sozialstandards umgesetzt werden, dass sie dann auch hier vor einem deutschen, europäischen Gericht verklagt werden können.

Oder wir fordern auch, dass sie zum Beispiel eine Informationspflicht haben pro Jahr, dass sie regelmäßig berichten müssen darüber: Wie werden Sozialstandards umgesetzt, und welche Auswirkungen hat ihre Tätigkeit auf Umwelt und auf Menschen vor Ort, bei den Lieferanten? Und schließlich fordern wir auch einen Rechtsschutz, das heißt, die jungen Frauen, die wie Jessmin Begum, deren Rechte verletzt werden, die eben massiv Überstunden machen müssen, dass die die Möglichkeit haben, vor einem europäischen oder einem deutschen Gericht zu klagen, weil ihre Rechte vor Ort verletzt werden.

Führer: Gisela Burckhardt von der Kampagne für Saubere Kleidung im Deutschlandradio Kultur. Frau Burckhardt, nun bin ich keine Juristin, ich stelle mir das ein bisschen schwierig vor, dass ein deutscher Gesetzgeber sozusagen darüber wachen soll, welche Arbeitsbedingungen, nehmen wir das Beispiel Bangladesch, dort in den Fabriken herrschen. Ist es nicht vielleicht aussichtsreicher, wenn man das über Öffentlichkeitsarbeit, so wie Sie das versuchen, macht?

Burckhardt: Ja, ich denke, man muss beides tun. Das eine schließt ja das andere nicht aus. Wir machen zum einen die Aufklärung, deswegen ja auch diese Rundreise von Jasmin Begum und Arifa Akter, jetzt durch Deutschland. Das ist aber nur ein Teil, und wir sehen immer wieder, wir arbeiten ja schon seit fast 20 Jahren ist die Kampagne für Saubere Kleidung aktiv, klärt auf, und wir denken, dass wir hier an wirkliche Grenzen gestoßen sind. Die Unternehmen betreiben zunehmend auch Schönfärberei, man schmückt sich damit, dass man Verhaltenskodices hat, aber die Realität vor Ort sieht einfach anders aus. Die Verhaltenskodices werden nicht umgesetzt. Und deswegen, denken wir, ist es notwendig, dass da der Gesetzgeber wirklich regelnd eingreift, und wir stehen auch nicht ganz allein: Also dass da eine Gesetzeslücke ist, wird inzwischen auch auf EU-Ebene anerkannt. Es ist vor Kurzem eine Studie herausgekommen, die Edinburgh-Studie, die wurde noch von Günter Verheugen in Auftrag gegeben, und dort wird genau festgestellt, dass hier ein Regulierungsbedarf besteht, dass Unternehmen, die in Übersee produzieren lassen, ja auch davon profitieren, weil dort die Löhne so niedrig sind, deswegen gehen sie ja da hin, dass diese Unternehmen aber in Europa nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Genau das wird dort auch offengelegt, und auch da wird angemahnt, dass hier ein Regulierungsbedarf besteht, und das wollen wir noch mal gerne unterstützen von unserer Seite und sagen: Wir fordern den Gesetzgeber auf, in Deutschland und Europa hier aktiv zu werden.

Führer: Aber müsste man nicht auch oder vor allem sogar, Frau Burckhardt, in den Ländern selbst ansetzen?

Burckhardt: Das ist richtig, natürlich. Die Länder selber sind genauso gefordert, bloß das große Problem besteht ja: Die meisten Länder wie auch Bangladesch sind in der Regel abhängig von den ausländischen Investitionen, und die Regierungen dieser Länder schützen eher die Investoren und nicht so sehr die eigene Bevölkerung. Das Problem ist einfach, dass auch in diesen Ländern eine große Verquickung besteht zwischen Politik und Unternehmen. Sehr viele Unternehmer, Textilunternehmer zum Beispiel in Bangladesch, sitzen auch im Parlament. Das heißt, man versucht dort weniger auf die Rechte der eigenen Bevölkerung zu verteidigen, und ist natürlich auch abhängig von den Auslandsinvestitionen. Sie wollen ja, dass Geld reinkommt, dass also deutsche Unternehmen dort Aufträge platzieren, und deswegen werden dort die Arbeitsnormen nicht umgesetzt, obwohl sie rein formal auch auf dem Papier dort stehen.

Führer: Frau Burckhardt, was kaufen Sie denn für Kleidung?

Burckhardt: Also ich kaufe, wenn ich zum Beispiel in der Schweiz bin, kaufe ich gerne bei "Switcher" ein, "Switcher" ist sehr transparent, weil es in die Kleidung ein Label einnäht, wo man nachgucken kann im Internet, wenn man diese Nummer dort eingibt: Wo ist denn diese Ware eigentlich hergestellt? Das ist die Transparenz, die ich eigentlich erwarte.

Führer: Gut, ich kann jetzt nicht mal eben in die Schweiz fahren, um mir eine neue Hose zu kaufen.

Burckhardt: Nein, das ist richtig. Also das ist auch schwierig, also man kann bei Unternehmen wie zum Beispiel "Jack Wolfskin" oder auch "Hess Natur" einkaufen, weil das sind Mitglieder einer Multi-Stakeholder-Initiative, die sich extern prüfen lassen. Das ist schon ein erster Indikator, wo man am ehesten einkaufen kann. Ansonsten aber sage ich, wenn ich auch einkaufen gehe, dass man natürlich schon normal einkaufen kann, sollte aber dann nachfragen. Man sollte fragen, wo ist die Ware hergestellt worden und unter welchen Bedingungen ist sie eigentlich hergestellt worden? Und manchmal können einem das die Verkäuferinnen nicht sagen, aber wir stellen fest, dass also zunehmend mehr Bewusstsein besteht, und das führt auch zu einem Druck in den Unternehmen, dass die Verkäufer auch geschult werden müssen, und es geht weiter nach oben, und die merken, es gibt Menschen, die sich dafür interessieren, unter welchen Bedingungen eigentlich die Ware hergestellt wird.

Führer: Gisela Burckhardt von der Kampagne für Saubere Kleidung. Danke für das Gespräch, Frau Burckhardt!

Burckhardt: Gerne!