Fünf Thesen zur Inklusion

Wie beinträchtigte Kinder am besten lernen

Die niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD, Hintergrund Mitte) sitzt am 27.04.2016 in der Sporthalle der Schule IGS Roderbruch in Hannover (Niedersachsen) während einer inklusiven Sportstunde mit Schülern in einem Kreis.
Inklusiver Sportunterricht an einer Gesamtschule in Hannover © Sebastian Gollnow/dpa
Von Henry Bernhard · 13.03.2017
Über die Inklusion wird immer wieder gestritten: Wie können wir Kinder mit Behinderungen am besten integrieren? Welche Voraussetzungen brauchen sie, um möglichst gut zu lernen? Henry Bernhard hat zwei Experten getroffen.

Zur Inklusion haben viele eine Meinung, andere gar eine Haltung, manchen haben keine Ahnung und doch eine Meinung. Die Kontroversen werden mitunter hart ausgefochten. Die Argumente vermischen oft Fakten und Ideologie. Zwei, die wissen, wovon sie reden, sind Britta Müller, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule "Kulturanum" in Jena, und Stefan Nüßle, Sprecher für Sonderschulen in der Landeselternvertretung Thüringen und Pflegevater zweier Mädchen mit Lernbehinderungen. Beide sind für gemeinsames Lernen, gegen Ausgrenzung. Nur in der Frage, was für eine wirkliche Inklusion behinderter Kinder nötig ist und wie weit diese trägt, gehen ihre Meinungen auseinander.

Britta Müller hat ihre Schule im Neubaugebiet Jena-Lobeda selbst aufgebaut, konnte sich alle Lehrer selbst aussuchen. Integration ist für sie eine Selbstverständlichkeit.
"Ja, es ist anstrengend, aber es bringt auch so viel! Da habe ich wirklich als junger Lehrer das Erlebnis gehabt, dass eine Schülerin, wo alle gesagt haben, 'Die könnt ihr nicht integrieren, das geht überhaupt nicht; die muss an die Lernbehindertenschule!', und die Eltern haben uns gebeten, das Kind aufzunehmen. Und die hat zwei Jahre im Wesentlichen zugeguckt; und dann hat sie mitgemacht; und dann hat sie den Hauptschulabschluß geschafft. Und das war für mich ein Schlüsselerlebnis, dass ich das Vertrauen jetzt habe, dass viele Kinder, wenn sie die Möglichkeiten haben, mit anderen zu lernen, dass die sich da sehr gut entwickeln können."
Stefan Nüßle ist skeptischer. Seine beiden Pflegekinder sind auf verschiedenen Förderzentren. Dort sieht er sie gut aufgehoben – ohne Inklusion.
"Ich sage das jetzt aus der Sicht eines betroffenen Elternteils. Wir sagen: Erst die Voraussetzungen, dann die entsprechende Beschulung! Weil ich einfach keine Lust habe, mein Kind zum Spielball, zum Experiment für solche Dinge zu machen. Sondern, da müssen die Voraussetzungen stimmen. Die Unterstützungssysteme, die wir an einer Förderschule haben, die muss es auch an jeder x-beliebigen Grund- und Regelschule geben. Aber davon sind wir noch ein ganzes Stückweit entfernt."
Beide wollen also das Beste – für ihre Kinder bzw. Schüler.
These 1: Inklusion braucht Standards – sonst verlieren alle.
Nüßle: "Dem kann ich nur zustimmen! Wir als Elternvertretung haben gesagt, wir brauchen eine Verlässlichkeit im Personal; wir brauchen am besten ein Zwei-Pädagogen-System – Sonderpädagoge und Grundschul-, Regelschul-, Gymnasiallehrer – in einem Tandem, die gemeinsam sich den Aufgaben stellen. Wir brauchen vernünftige Differenzierungsräume in den Schulen; wir brauchen vernünftige Klassengrößen, wo wir auch sagen: Je mehr Kinder mit Förderbedarf in einer Klasse sind, umso weniger Schüler sollten es insgesamt sein."
Müller: "Ich denke, Inklusion braucht vor allem die Einstellung der Menschen, die Inklusion betreiben, zu den Kindern, dazu, dass sich jedes Kind unterschiedlich entwickelt, dass wir keine Homogenität haben. Natürlich brauchen wir auch gute Sonderpädagogen an den Schulen. Aber ich denke, ich kann mit weniger Sonderpädagogen, als es vielleicht mein Wunsch wäre, doch schon was bewegen, wenn ich mich wirklich auf die Kinder einlasse. Wenn wir erst darauf warten, dass alle Standards erfüllt sind, dann dauert das für die Kinder, die jetzt in die Schulen inkludiert werden wollen, viel zu lange."
Dazu muss gesagt werden, dass Jena, wo Britta Müller Schulleiterin ist, seit über 20 Jahren Millionen in die Bildung investiert, in Schulsanierung, in Reformschulprojekte, in gemeinsamen Unterricht von der Grundschule bis zum Abitur und eben auch in Inklusion. Im Landkreis Nordhausen kann man von so viel Geld nur träumen. Dazu passt:
These 2: Inklusion ist nicht kostenneutral zu haben.
Nüßle: "Dem kann ich nur voll zustimmen: Inklusion kostet einfach Geld. Weil wir die Ressourcen, die wir jetzt gebündelt an einer Stelle haben, aufteilen müssen auf viele Kinder an vielen Standorten, und demzufolge brauchen wir einfach mehr Ressourcen."
Müller: "Das ist richtig. Also, hier in Jena wird ja sehr viel Geld investiert in die Schulbegleitung, die die Eltern beantragen können. Da würde ich mir manchmal wünschen, dass wir da andere Möglichkeiten finden: Statt zwei Schulbegleiter, dann lieber noch einen zweiten Lehrer in die Klassen."
Britta Müllers Gemeinschaftsschule ist jung und wächst noch. Die ältesten Schüler besuchen die 9. Klasse. In 3 oder 4 Jahren – je nach Veranlagung – können sie hier Abitur machen. Oder vorher einen Real- oder Hauptschulabschluss. Wie realistisch ist das für körperlich und geistig behinderte, sehschwache oder schwerhörige, für verhaltensauffällige oder lernbehinderte Kinder?
These 3: Inklusion und Leistungsgedanke – ein Widerspruch?
Müller: "Nein, auf gar keinen Fall! Beim Leistungsgedanken ist es ganz wichtig, die nicht nur auf die kognitiven Fähigkeiten zu begrenzen, sondern auch alle anderen Dinge, auch die sozialen Kompetenzen mit einzubeziehen. Und ich denke, wenn wir es schaffen, den Unterricht so zu gestalten, dass jedes Kind wirklich entsprechend seines Leistungsvermögens arbeiten und lernen kann, dann kann auch jedes Kind gute Leistungen erreichen. Und ich weiß auch, was ich meinen Lehrern hier abverlange, aber es gibt so sehr viel Befriedigung für einen auch selbst, wenn man erlebt, wie gut sich die Kinder entwickeln."
Nüßle: "Ich denke, dass man mit einer gezielten Förderung die Kinder auch motivieren kann, über bisherige Grenzen, die sie vielleicht in ihrem Leben selbst gesetzt haben, auch ein Stückweit über diese Grenzen hinauszugehen und das Bestmögliche aus sich herauszuholen und zu fördern."
Stefan Nüßle weiß, wovon er spricht, denn er lebt die Inklusion täglich zu Hause mit sieben Kindern, von denen zwei lernbehindert sind.
These 4: Je höher die Bildungsstufe, desto geringer die Chancen.
Nüßle: "Das hängt, denke ich, von der Art des Förderbedarfs ab. Also, ich sag mal, ein Kind mit einer körperlichen Behinderung oder mit einer Sinnesbeeinträchtigung im Sehen oder im Hören ist, glaube ich, auch sehr gut geeignet, dafür gibt es ja viele gute Beispiele, ein Gymnasium erfolgreich abzuschließen, ein Studium auch erfolgreich abzuschließen."
Müller: "Na, Gymnasien haben ja eine deutlich niedrigere Quote. Es kommt drauf an, wozu ein Kind in der Lage ist. Aber da fehlen uns hier an der Schule die Erfahrungen. Natürlich werden wir ein geistig behindertes Kind nicht zum Abitur bringen. Und ein lernbehindertes Kind auch nicht."
Dennoch stellt sich hier die Frage: Funktioniert Inklusion für alle? Können wir auf Förderschulen ganz verzichten?
These 5: Manche Kinder brauchen geschützte Räume.
Müller: "Das ist eine Frage, mit der ich mich auch ganz viel auseinandersetze. Weil wir auch das Erlebnis hatten, dass ein geistig behindertes Mädchen nur ein Jahr bei uns war und die Eltern es dann zur Förderschule geschickt haben."
Nüßle: "Na ja, wir haben Fälle, wo wir merken, dass für die Kinder durch die Überforderungssituation im gemeinsamen Unterricht mitunter die Gefahr besteht, dass sie dann in die Kinder- und Jugendpsychiatrien müssen. Und dann sage ich, ist irgendwas in der letzten Zeit dann falsch gelaufen mit den Kindern in der Schule, sagten mir zumindest Eltern, deren Kinder manifeste Behinderungen im Bereich Hören und Sehen z.B. haben, wo einfach ganz wichtig ist, dass die von ihresgleichen lernen, wie sie mit dem Alltag umgehen können! Wie sie z.B. sehen, dass da eine Schwelle ist … Das können sie eben nicht in einer Klasse mit gemeinsamem Unterricht, wo sie nicht gleich beeinträchtigte Kinder finden. Das müssen sie von ihresgleichen lernen."
Müller: "Daraus haben wir auch gelernt! Das heißt, wir haben nicht ein oder zwei Kinder in der Gruppe, sondern wir versuchen, wirklich mehrere zu nehmen, dass wir gerade bei geistig behinderten diese Peer Group in den Gruppen schaffen, damit die Kinder sich auch wohlfühlen. Und trotzdem: Zu sagen, alle Kinder kann man integrieren – das wäre zu hoch gegriffen. Ich denke, das kann Schule im Moment nicht leisten."
In Jena, wo Britta Müller unterrichtet, werden 9 von 10 behinderten Kindern inklusiv unterrichtet. Ein Spitzenwert. Bundesweit gilt dies im Schnitt nur für jedes dritte behinderte Kind.
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