Frisch, roh und belastet

Von Udo Pollmer · 08.07.2006
Für viele ernährungsbewusste Verbraucher verheißt Rohkost maximale Frische. Noch gesünder ernährt sich, so das Credo der aktuellen Aufklärungskampagnen, wer dabei Obst, Gemüse und Sprossen bevorzugt. Inzwischen hat sich aber unter Hygienikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass pflanzliche Rohkost genauso viele Lebensmittelinfektionen hervorruft wie tierische Produkte.
Für viele ernährungsbewusste Verbraucher heißt "frisch" so viel wie "roh". Rohkost verheißt maximale Frische. Noch gesünder ernährt sich, so das Credo der aktuellen Aufklärungskampagnen, wer dabei Obst, Gemüse und Sprossen bevorzugt. So vermeidet der Aufgeklärte ganz nebenbei Salmonellen auf Hähnchen, Listerien im Rohmilchkäse und BSE im blutigen Steak – so glaubt er jedenfalls. Da die Medien regelmäßig mit neuen Horrormeldungen zum Thema Fleisch und Wurst aufwarten, gilt unserer Sympathie dem handgestreichelten Biogemüse, das ohne chemischen Kunstdünger gedeihen darf.

In der Tat greift der Öko-Bauer statt zum Nitrophoska Blau zum Naturprodukt: Laut Bio-Verordnung beispielsweise zu "Exkrementen von Insekten" oder "Guano", also Vogelschiet, der aus Chile nach Deutschland verschifft wird. Und dann gibt’s noch den ganz normalen Mist aus dem Allerwertesten eines Nutzviehs. Der enthält natürlich auch all die unerwünschten Bazillen, die vorher den Tierarzt auf den Plan riefen. Die logische Folge: Man findet die Erreger später auch auf dem Gemüse. Wird es roh genossen oder gar gekeimt, erfreuen wir uns wahrhaft lebendiger Nahrung. Manche Keime werden von der Pflanze aus dem Dung aufgenommen und ins Gewebe eingelagert. Inzwischen hat sich unter Hygienikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass pflanzliche Rohkost genausoviele Lebensmittelinfektionen hervorruft wie tierische Produkte, die bisher ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gefunden hatten.

Resistent dank Frischkost

Dummerweise haben auch die pflanzlichen Erreger ihre Tücken. Warum? Weil erkrankte Tiere mit Antibiotika behandelt werden. Sobald diese ihr segensreiches Werk vollendet haben, werden sie ausgeschieden und gelangen zum größten Teil in die Gülle. Das Tier ist mittlerweile frei davon. In der Gülle werden viele Medikamente von den reichlich vorhandenen Mikroorganismen wieder in ihre aktive Form umgewandelt. Damit herrschen optimale Bedingungen, um resistente Keime zu schaffen. Wenn die Mixtur auf den Acker kommt, sorgen die Antibiotika dafür, daß sich die Keimflora der Pflanzen tunlichst für die schützenden Resistenzgene interessieren sollte. Dies ist wohl ein Grund dafür, warum Personen, die viel Frischkost zu sich nehmen, mehr antibiotikaresistente Keime in ihrem Darm beherbergen, als solche, die zu Fertiggerichten greifen.

Wenn wir allerdings die Risiken, die von blinden Passagieren auf unserer Nahrung ausgehen, bewerten wollen, dann macht ein anderes typisches und ebenso frisches Gesundheitsprodukt den gekeimten Sojasprossen oder den leckeren Muscheln den ersten Platz unter den hygienisch riskantesten Speisen streitig.

Es ist der Shooting Star unter den rohen Genüssen: Sushi. Denn der meiste Fisch stammt immer noch aus freier Wildbahn und kann von den unterschiedlichsten Parasiten befallen sein. Allein in Japan werden durch rohen Fisch jährlich bis zu 2.000 Fälle von Heringswurmkrankheit diagnositiziert. Dazu kommt eine unbekannte Dunkelziffer – insbesondere infolge anderer Parasitosen.

Frische um jeden Preis?

Über die Anzahl der Betroffenen in Europa darf spekuliert werden. Denn Parasiten aus dem Meer sind dem Allgemeinarzt oft nicht einmal dem Namen nach bekannt. Diagnostische Möglichkeiten fehlen vielfach, ebenso wirksame Medikamente. Gewöhnlich heißt die (Fehl-)Diagnose Darmkrebs oder Blinddarmentzündung. Die Stunde der Wahrheit schlägt meist erst dann, wenn der Chirurg bei der Operation nichts findet und aus Neugier so lange sucht, bis er es irgendwo zucken sieht oder ein verwurmtes Organ sichtet. Die Entfernung des befallenen Gewebes ist vielfach lebensrettend.
Bei rohem Fisch ließe sich die Parasitengefahr durch einmaliges Tiefgefrieren weitgehend bannen. Aber dann entspräch er nicht mehr dem Frische-Ideal unserer Zeit. Denn wer ißt schon gerne rohen Fisch, der eigentlich aus dem Tiefkühlfach kommt?

Dadurch dass die Welt zusammenrückt, dass andere Länder nur noch wenige Flugstunden entfernt sind, dass die Menschen mobiler werden und der internationale Warenaustausch zunimmt, haben es auch Krankheitserreger und Parasiten leichter, sich innerhalb kürzester Zeit einen neuen Lebensraum zu erschließen. Der Hang zum frischen, also zum rohen Produkt, das vermeintlich "besser" ist, wird sich als Türöffner für zahlreiche neue Krankheiten erweisen. Gewiss, unser Immunsystem braucht Training und die ständige Auseinandersetzung mit Keimen, um fit zu bleiben. Aber das ist kein Grund, um Vorsichtsmaßnahmen zu ignorieren, die das Einschleppen und die Verbreitung von Seuchen verhindern könnten.

Entnommen aus: EU.L.E.N-SPIEGEL 2003/Heft 4