Friedenspreis für Amartya Sen

Vernunft ist mehr als Eigennutz

43:50 Minuten
Portrait des Wirtschaftswissenschaftlers und Philosophen Amartya Sen
Amartya Sen, Ökonom und Philosoph, setzt sich für Gerechtigkeit ein. 1998 erhielt er den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. © Gettyimages/Mint/Ramesh Pathania
Amartya Sen im Gespräch mit Catherine Newmark · 11.10.2020
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Rationalität ist in der Ökonomie oft gleichbedeutend mit Eigennutz. Anders sieht das der indische Philosoph und Ökonom Amartya Sen: Vernunft heiße, die ganze Menschheit in den Blick zu nehmen. Wirtschaft und Ethik gehören für ihn zusammen.
Als im Frühjahr etliche Menschen anfingen, Klopapier und Essen zu horten, schien mal wieder der Beweis dafür erbracht, was die Ökonomie schon lange predigt: Wir sind eben doch alle unverbesserliche Egoisten, die ihren eigenen Nutzen maximieren wollen – und sollen, denn wenn alle an sich denken, ist ja an jeden gedacht.

Krisen als Chance für Solidarität

Anders sieht das der indische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen: "Wenn gesagt wird, dass jeder nur seine eigenen ökonomischen Interessen verfolgen solle, halte ich das für eine sehr starke Verengung, eine Beschneidung dessen, was den Menschen ausmacht. Ich glaube, dass wir ganz andere Ziele auch verfolgen. Zum Beispiel, wenn wir die Welt von Krankheiten befreien wollen, wie etwa der jetzt umgehenden Pandemie COVID-19."
Und ein Blick in die Geschichte dient ihm als Beleg dafür, dass gerade Krisen auch eine Chance dafür bieten, Solidarität zu entwickeln und soziale Missstände zu beheben: "Nehmen Sie zum Beispiel England während des Zweiten Weltkriegs: Obwohl damals weniger Essen zur Verfügung stand, ging doch das Maß der Unterernährung deutlich zurück und die wirklich schwere Mangelernährung verschwand vollkommen während des Krieges. Warum? Weil die Menschen lernten, miteinander zu teilen. Sie teilten miteinander das Essen, medizinische Hilfe, sie sorgten sich umeinander."

Wohlstand ist mehr als Wirtschaftswachstum

Dem Kampf gegen Hunger, Krankheit und Armut hat der mittlerweile 86-jährige Sen, der seit 1988 an der Harvard University lehrt, sein ganzes Forscherleben gewidmet – und sich für eine globale Verbesserung von Lebenschancen eingesetzt. Bereits 1998 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Am 18. Oktober erhält er nun – als jüngste einer ganzen Reihe von Ehrungen – den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung der Jury heißt es: "Gesellschaftlichen Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten, gerade für die Schwächsten, gehört dabei zu seinen wichtigsten Forderungen."
Bei Forderungen allein aber ist es nicht geblieben: Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat er für die UN den "World development report" erarbeitet. Zu Sens zentralen theoretischen Errungenschaften gehört der sogenannte "Capabilites Approach", zu deutsch etwa "Fähigkeiten-Ansatz", der heute in zahlreichen Disziplinen und politischen Institutionen verbreitet ist: als Maßstab für individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand jenseits von ökonomischem Wachstum. Ein gutes, gelingendes Leben, so die Grundidee, besteht nicht einfach darin, rücksichtslos seine ökonomischen Interessen zu verfolgen und monetären Reichtum anzuhäufen, sondern darin, möglichst umfassend selbstgesteckte Ziele verwirklichen zu können.

Vernunft und Ethik gehören zusammen

In diesem Zusammenhang kritisiert Sen scharf die in den Wirtschaftswissenschaften weit verbreitete "Rational Choice Theory", die davon ausgeht, dass Menschen dann rational handeln, wenn sie ihren persönlichen Nutzen maximieren. Für Sen ist diese Annahme verfehlt: "Wenn Rationalität in dieser Theorie nur als selbstsüchtiges, am eigenen Wohlergehen interessiertes Handeln dargestellt wird, wenn man so tut, als sei das Handeln für andere etwas Irrationales – dann stimmt damit etwas nicht." Eine solche Auffassung von Rationalität verenge den Menschen fälschlicherweise "zu einem eindimensionalen, selbstbezogenen Geschöpf – und das ist nicht der Sinn von Rationalität, den wir in unserem Menschsein verkörpern". Vielmehr gehöre zum menschlichen Wesen auch, "dass man sich bemüht, das große Ganze mit zu berücksichtigen: Wie steht es um das Glück der Menschen in der Welt? Wie können sie zufriedener sein, wie finden sie Erfüllung?"
Sen hält es mit Immanuel Kant, Vernunft und Ethik hängen für ihn zusammen: "Rationalität bedeutet auch, das anzustreben, was wir als Schlussfolgerungen sinnvollerweise ziehen können." Wenn wir unsere Ziele nach "vernünftigen" Kriterien wählen sollen, dann meint das nicht nur die Maximierung unseres eigenen Nutzens, sondern erfordert auch, die Konsequenzen für andere zu berücksichtigen: "Wir müssen immer fragen: In welcher Welt leben wir gerade, was sind die anstehenden Probleme? Welche Wichtigkeit schreibe ich dem Wohlergehen anderer Menschen zu, welche Rolle spielt mein eigenes Wohlergehen? Es ist also die Ganzheitlichkeit des Denkens, die ich versucht habe durch diesen Ansatz zu erfassen."

"Frau Sen, Sie haben ja so recht!"

Was an Sens vielfältigem Engagement hervorsticht, ist nicht zuletzt sein frühes Eintreten für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Schon von Beginn seines Forscherlebens an hat er die ökonomische Benachteiligung von Frauen zum Thema gemacht, Anfang der 1990er-Jahre war er Gründungsmitglied der Internationalen Gesellschaft für feministische Ökonomie. "Die Wirtschaftswissenschaften sind ja überwiegend männlich dominiert – nicht nur in dem Sinne, dass überwiegend Männer sie verkörpern, sondern auch die Fragestellungen kreisten häufig um typisch männliche Themenfelder. Und die Fragestellungen, die für Frauen relevant waren, kamen weniger häufig in den Blick. Ich halte das für ein echtes Versagen."
Wie richtig er mit diesem Problembewusstsein lag – und wie ungewöhnlich das für einen männlichen Ökonomen seiner Generation war –, bescheinigten ihm zahlreiche Zuschriften von Frauen: "Da ja mein Vorname auf die weiblich klingende Silbe ‚-ya‘ endet, bekam ich immer wieder Briefe, in denen ich als Frau angesprochen wurde. Einmal zum Beispiel von einer Absenderin, die sagte: ‚Liebe Frau Sen, Sie haben ja so recht, die Männer werden das nie verstehen, wie es uns geht.‘ Und ich fühlte mich sehr geschmeichelt."

Die Welt zu verbessern, braucht Optimismus

Heute habe die Wirtschaftswissenschaft in solchen Fragen immerhin schon große Fortschritte gemacht. Und auch wenn die Welt derzeit von unzähligen Krisen geschüttelt wird – Autoritarismus, Klimawandel, Corona-Pandemie –, Amartya Sen bleibt optimistisch: "Auf die Welt warten einige Probleme, aber ich glaube, wir müssen in unserem Ringen um eine bessere Welt fortfahren. Und das verlangt nicht nur Entschlossenheit, sondern auch die Zuversicht, dass sich alles, wenn wir alle zusammenwirken, schon einrichten wird."

Hören Sie hier das Interview mit Amartya Sen auch auf Englisch.
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(ch)

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