"Frieden ist nicht alles, ohne Frieden ist alles nichts"

Egon Bahr im Gespräch mit André Hatting · 09.03.2013
Mit seinem Buch "Das musst du erzählen. Erinnerungen an Willy Brandt" würdigt Egon Bahr den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Später sei er weiter nach links gerückt, berichtet Brandts langjähriger Berater und Freund.
André Hatting: Er war der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, er sorgte mit seinem "Mehr Demokratie wagen" für einen neuen Stil in der Bonner Republik, und er war es auch, der mit seiner Ostpolitik den Weg für die deutsche Einheit ebnete. So sehen es zumindest im Rückblick viele Politikwissenschaftler. Ich rede natürlich von Willy Brandt. In diesem Jahr würde er 100 Jahre alt. Mit jetzt fast 91 nur unwesentlich jünger ist Egon Bahr, der war viel mehr als Brandts wichtigster Berater. Auf dem Sterbebett von seinem Sohn Lars befragt, wer denn seine Freunde gewesen seien, antwortete Brandt nur: "Egon."

"Das musst du erzählen", hat sich Egon Bahr gesagt, und für diesen Titel jetzt seine Erinnerungen an Willy Brandt veröffentlicht. Guten Morgen, Egon Bahr.

Egon Bahr: Ich grüße Sie.

Hatting: Sie schreiben im Auftakt, dass diese Bemerkung Brandts Sie ermutigt habe, Ihre Erinnerungen an diese Freundschaft zu veröffentlichen. Warum aber erst jetzt, 20 Jahre nach Brandts Tod?

Bahr: Na ja, also zunächst mal: Als er gestorben war, hatte ich überlegt, ob ich eine Biografie über ihn schreiben sollte, habe ich dann sofort verworfen, diese Idee, weil ich war ihm zu nah und es hätte auch zu viel Zeit gebraucht, und das hat ja Peter Merseburger gemacht mit einer fabelhaften, noch heute interessanten, allerdings ein bisschen dickleibigen Biografie. Und jetzt habe ich festgestellt, indem ich vor kurzem eine Rede wieder gelesen habe, die ich 2008 über das Thema "Brandt und die Nation" gemacht habe, wie viele Erinnerungen ich in den vier Jahren seither verloren habe, und gedacht: Wenn du es jetzt nicht bald schreibst, schreibst du es nie mehr – also schreibe es jetzt.

Hatting: Herausgekommen ist eine wunderbare Tour d‘horizon durch die Bonner Republik, angefangen natürlich mit den Berliner Jahren, in denen Brandt zur Zeit des Mauerbaus regierender Bürgermeister war und Sie Senatssprecher, und schließlich natürlich dann die Kanzlerschaft mit Ihnen als Staatssekretär. Herr Bahr, welche Zeit mit Brandt war für Sie die schönste?

Bahr: Och, das ist eine komische Frage. Also zunächst mal war sie aufregend, als ich als Sprecher begann, aufzusehen zu diesem großen Mann, der schon eine Weltreise hinter sich gebracht hatte, um für seine Stadt zu werben, und dann in der Erkenntnis, dass ich nicht mehr sagen könnte, was ich wollte oder denke, sondern alles, was ich sage, sagt nun der Sprecher des Senats für den Senat. Und in seinem Arbeitszimmer am ersten Abend habe ich ihm dann gesagt: "Ich werde Ihnen immer sagen, was ich denke, auch wenn es Ihnen nicht gefällt." Und dann hat er gesagt: "Dann aber bitte nur, wenn es zu schlimm wird, unter vier Augen." Das war sozusagen der Beginn eines Mitarbeiterverhältnisses, aus dem dann ein Berater wurde und noch später eine Freundschaft, die bis an sein Lebensende gehalten hat.

Hatting: Willy Brandt hat ja drei Anläufe gebraucht, um Bundeskanzler zu werden. Hatten Sie immer das Gefühl: Der schafft das?

Bahr: Nee. Ich hatte das Gefühl, beim ersten Mal war es noch zu früh, ich hatte das Gefühl, dass er die Zeit als Außenminister braucht, weil der direkte Sprung von einem Regierungschef in einem Lande zum Regierungschef des Landes Bundesrepublik Deutschland zu groß ist. Auch Helmut Kohl hat das ja nicht geschafft. Und insofern war der Außenminister eine notwendige Zwischenstation, um zu lernen. Das hat er gebraucht.

Hatting: War die schlimmste Zeit die nach Brandts Rücktritt wegen der Spionageaffäre um Günter Guillaume?

Bahr: Nein, eigentlich nicht, denn ich habe ihm zum Rücktritt geraten, weil ich nicht wollte, dass der Freund zerstört wird, was der Fall gewesen wäre, wenn die Medienlandschaft und die Medien ihn gejagt hätten aus dem Amt, und habe dann auch gesehen, dass er selbst im Zweifel gewesen ist mit den Notizen, die er in den Monaten danach gemacht hat, ob es richtig war und nötig war, unausweichlich war, zurückzutreten. Objektiv nein, subjektiv in der gegebenen Situation ja.

Jedenfalls hat es ihm eröffnet die Tätigkeit als Vorsitzender der ersten unabhängigen Kommission, der für die Vereinten Nationen einen Bericht über den Zustand der Entwicklungshilfe und der Entwicklungsländer gemacht hat. Das war ein neuer Abschnitt in seinem Leben, hat seinen Horizont erweitert, hat ihn auch in seinem Denken nach links rücken lassen, denn das, was er vorgefunden hatte, war so rasend empörend: Dass für die Rüstung, wenn man nur einen Bruchteil davon abgezogen hätte, in der Lage gewesen wäre, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht mehr hungers sterben. Also das war eine Entwicklung, die ihn dazu gebracht hat zu sagen: Je älter ich werde, umso linker werde ich.

Und er hat dann in Gorbatschow einen Mann gefunden, der auf der einen Seite richtig Realpolitiker war und mit seinen Abrüstungsvorschlägen in der Tat zur Veränderung der Welt beigetragen hat, aber auf der anderen Seite die Fantasie hatte, sich vorzustellen, über das europäische Haus eine Situation zu erreichen, in der die Spaltung der Arbeiterbewegung überwunden werden könnte.

Hatting: Weniger bekannt ist, dass Brandt schon im Sommer 1972 eine schwere persönliche Krise erlebt hatte. Sie zitieren ihn in dem Buch mit den Worten: "Ich bin gescheitert mit meiner Art, die eben keine Befehle erteilt und Menschen wie Menschen behandelt." War diese Stärke, diese Menschlichkeit Willy Brandts zugleich auch seine größte Schwäche?

Bahr: Ja. Es war seine Schwäche, die die Menschen aber erkannt haben, weil er sie nicht verbarg, und das wurde auch seine Stärke gegenüber den Menschen.

Hatting: Sie haben das schon gesagt: Mit Brandt verbindet Sie eine lebenslange Freundschaft. Was war denn die härteste Bewährungsprobe dieser Freundschaft?

Bahr: Die härteste Bewährungsprobe? Also das geht zu sehr in die Intimitäten, werde ich nicht beantworten.

Hatting: Gut. Das letzte Kapitel heißt: "Was bleibt?" Was bleibt denn?

Bahr: Es bleibt als ein großes Lebensergebnis: Was immer wir gemacht haben an Fortschritten, alles das ist hinfällig, Freiheit, Demokratie ist nicht mehr relevant, wenn es nicht gelingt, den Frieden zu bewahren, das heißt, den Frieden als oberstes Kriterium für den Fortbestand der Menschheit zu sehen. Das ist das, was er über Bebel hinaus und über die bisherige Programmatik der SPD hinaus festgestellt hat, und das ist jedenfalls der entscheidende Punkt, der bleibt. Frieden ist nicht alles, ohne Frieden ist alles nichts.

Hatting: Und was ist von Brandts Erbe beim aktuellen Kanzlerkandidaten der SPD noch vorhanden?

Bahr: Er hat mein Buch vorgestellt, und ich war überrascht von der Feinfühligkeit, Entschiedenheit und Weitsicht, in der er das gemacht hat. Das waren alles Eigenschaften, die ich so vorher bei ihm nicht gesehen hatte.

Hatting: Egon Bahr, langjähriger Berater und lebenslanger Freund von Willy Brandt. Jetzt hat er seine Erinnerungen an den ehemaligen Bundeskanzler veröffentlicht, Titel: "Das musst du erzählen", erschienen im Propyläen Verlag. Herr Bahr, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Bahr: Gern geschehen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema