Freude, Freiheit und Verantwortung

Von Susanne Mack · 03.01.2007
"Kinder sollen nicht durch Drill geformt, sondern mit Liebe gefördert werden bei der Entwicklung ihrer ureigenen Talente", so das pädagogische Programm der Maria Montessori. Am 6. Januar 1907 eröffnete Montessori im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo ihr erstes Haus für Kinder. Seitdem gibt es Montessori-Kindergärten und Montessori-Schulen auf der ganzen Welt.
"Was mir am wichtigsten zurzeit erscheint ist, dass man in der Gesellschaft die Rechte des Kindes anerkennen lassen muss. Die ganze Welt muss sich erheben, um das Kind zu schützen. Denn von ihm hängen gut oder böse in der Gesellschaft von morgen ab."

Maria Montessori in einem Vortrag von 1936. "La Dottoressa" – so haben ihre Mitarbeiter sie genannt – gilt als die größte Pädagogin des 20. Jahrhunderts.

Winfried Böhm: "Es ist sicher eine völlig falsche Vorstellung, wenn man sich Maria Montessori denkt als eine Erzieherin, die in einer Klasse mit Kindern arbeitet. Das hat sie nachweislich nie kontinuierlich getan. Ihr Interesse war wirklich ein ganz anderes. Sie ist, nachdem sich ihre Methode innerhalb weniger Jahre dank einer guten Presse- und Medienarbeit weltweit verbreitet hatte, ihr Leben lang durch die Welt gereist und hat Vorträge über ‚das neue Kind’ gehalten, über die neue Erziehung. Und sie hat immer gesagt: Ich arbeite doch nicht mit 20 Kindern in einem Kinderhaus, sondern meine Botschaft wendet sich an die ganze Menschheit. Eigentlich hat sie gearbeitet immer mit einem unbegrenzten Publikum, niemals mit einer Klasse."

Winfried Böhm, Pädagogik-Professor aus Würzburg und Montessori-Experte. Die Bücher der Montessori sind in 22 Sprachen übersetzt. Ein paar Tausend Schulen in aller Welt arbeiten nach ihren Prinzipien.

Halle an der Saale, Montessori-Schule. Es ist Freitag, 7.30 Uhr und die Klasse noch beinah leer: nur vier Kinder bisher - und die Lehrerin. Frau Kownatzki. Die Kinder packen ihre Taschen aus. Wann beginnt hier eigentlich der Unterricht? – Ein Mädchen, Clarita es heißt, klärt mich auf:

"Naja, das ist verschieden, jeder kommt zu ’ner anderen Zeit, und ja, eigentlich trudeln die nach und nach ein. Und um acht sind dann meistens alle da."

Kann hier jeder kommen, wann er möchte?

"Nein, wir müssen bis halb acht da sein jetzt in der vierten Klasse, und von der ersten bis zur dritten mussten wir bis um acht da sein, aber wir konnten auch schon früher da sein… aber manchmal kommt auch einer zu spät."

Sagt Valentin, ein Klassenkamerad von Clarita. Die beiden erzählen mir auch: In dieser Schule gibt es kein Klingelzeichen am Beginn des Unterrichts. Dafür eine Glocke - für die Pausen:

Clarita: "Also, wenn wir Frühstückspause haben, das ist um neun, da hat jede Klasse ’ne Glocke. Also, nicht immer, aber wir haben jetzt auch ne Glocke. Da klingelt halt immer ein Kind und sagt: ‚Frühstück!’"

Clarita und Valentin nehmen sich ein großes Holzbrett aus dem Regal an der Wand, dazu einen Kasten mit Perlen und erklären mir: Wir üben jetzt Multiplizieren.

Valentin: "Wir nennen das Schachbrett."

Aha. Ein Schachbrett mit Perlen… und das ist nur fürs Multiplizieren?

"Ja. Das sind Perlen, mit denen man auch rechnen kann, zusammenrechnen zum Beispiel. Bei den Einern zum Beispiel, da sind die Perlen rot, die Zweier grün, die dreier Hautfarbe, Vierer gelb, und dann halt immer so weiter."

Valentin klemmt das Schachbrett unter den Arm, Clarita nimmt die Perlen. Die beiden steuern einen großen Sisalteppich an. Der liegt in der Mitte des Zimmers. - Spielen auf dem Teppich? Während des Unterrichts?
Claudia Kownatzki ist Lehrerin, und sie leitet diese Schule. Sie klärt mich auf:

"Die Kinder arbeiten viel auf dem Teppich. Sie müssen nicht am Platz sitzen die ganze Zeit, sondern sie können, wenn sie möchten, auch ihre Arbeit mit auf den Teppich nehmen."

Clarita und Valentin rechnen ganz allein, sie helfen sich gegenseitig. - Brauchen die überhaupt einen Lehrer? – Manchmal schon:

"Weil der Lehrer erklären kann, wie das Material funktioniert, das Maria Montessori gemacht hat.
Und außerdem, wenn man was hat, was man irgendwie nicht weiß und dran rummacht, dann kann’s ja auch kaputt gehen."

Frau Kownatzki wird hier also gerade nicht gebraucht. Ihrer Meinung nach das Beste, was einer Montessori-Pädagogen passieren kann:

"Sie sind nicht die Dominanten in der Klasse, sondern sie halten sich zurück. Und was sie Kinder vorhin sagten: ‚Sie helfen uns, zu erklären, um was es geht, das ist der Kern: Ihnen zu zeigen, wie etwas geht, wie sie etwas lernen."

"Helft den Kindern, es selbst zu tun!" Das war Montessoris Botschaft an die Pädagogen. Frau Kownatzki sitzt inzwischen an einem großen Tisch mit den vielen Stühlen drum herum. Sie hilft einem Mädchen, das um einiges jünger ist als Clarita und Valentin:

Valentin: "Wir machen’s so, dass wir nicht jede Klasse eine .…, sondern wir machen immer drei verschiedene Klassenstufen mit ca. sieben Kindern… also, in einer Klassenstufe."

Da können die älteren Schüler dann auch mal den Jüngeren über die Schulter schauen und ihnen helfen.

Das hier ist schon eine außergewöhnliche Schule, ohne Lehrer, der vor der Klasse steht und doziert, ohne Schulbücher, ohne Tafelbilder - und ohne Zensuren. Fast ohne.

Maria Montessori wird am 31. August 1870 in der italienischen Provinz Ancona geboren. Die Mutter entstammt einer Gutsbesitzerfamilie, der Vater ist Finanzbeamter. Maria ist fünf Jahre alt, da wird ihr Vater nach Rom versetzt. Die Familie zieht um in die Hauptstadt und zwar in die Hauptstadt des 1861 gegründeten Königreiches Italien.

Im nunmehr "Einig Vaterland" der Maria Montessori strebte man nach Erneuerung auf allen Gebieten. Auch über eine neue Pädagogik wurde heftig diskutiert. Klein Zweifel: das italienische Schulsystem bedurfte einer dringender Reform. Maria Montessori hat sie als Kind noch erlebt: die altitalienische "Paukerschule":

Waldschmidt: "Ja, sie hat das erlebt. Also: Auswendig lernen und stillsitzen. Und nur aus Büchern lernen. Also selber, die Hände gefaltet auf der Schulbank sitzen. Ihre Enkelin hat nachher ein Buch veröffentlicht: ‚Kampf den Schulbänken!’"

Ingeborg Waldschmidt, sie ist Professorin für Pädagogik aus Berlin und Montessori-Biographin.

Allein die Schulgebäude zu Montessoris Zeiten! Die Bänke in einem italienischen Klassenzimmer um 1870 waren schwarz gestrichen, die Wände ebenfalls schwarz, vom Fußboden bis etwa in Augenhöhe der Kinder. Schwarz auch die vorgeschriebene Schulkleidung.

Trotz allem: Maria kommt gut durch die Schule. Ihre Lieblingsfächer: Naturwissenschaften und Mathematik. Montessoris Biographen berichten von ihrem außergewöhnlichen Selbstbewusstsein.

Die stolze Schülerin Maria Montessori war auch ein schönes Mädchen – und Frau Doktor Montessori immer eine attraktive Frau:

"O ja! Mindestens 'ne ausgesprochen hübsche Frau, ist aber sehr matronenhaft zwischendurch gewesen. Im Alter, als sie so um die 80 war, war sie dann relativ schlank wieder. Ein sehr interessantes Gesicht, und sie hatte immer lange Kleider an, also bis auf die Erde runter, und hauptsächlich in schwarz. Aber sehr modisch bewusst, also, mit Hut und Schleife und allem drum und dran."

Die Abiturientin Maria Montessori will Medizin studieren. Der Vater ist dagegen, aber die Tochter setzt ihren Willen durch. Im Juni 1896 wird Montessori der medizinische Doktorgrad verliehen. Sie bekommt eine Assistentenstelle am Krankenhaus der Universität, Abteilung Psychiatrie – und den Auftrag, die Irrenanstalten der Stadt zu besuchen. Sie soll Kinder auswählen, die an der Uniklinik behandelt werden können.

Die Irrenanstalten von Rom: Montessori ist erschüttert. Sie findet dort Kinder, sich selbst überlassen, eingesperrt in leere Baracken. Keine Betreuer, kein Spielzeug. Die Kinder wälzen sich am Boden und spielen mit Essensresten. – Montessoris Fazit aus dieser Visite:

"Das Problem der geistig zurückgebliebenen Kinder ist mehr ein pädagogisches als ein medizinisches. Diesen unglücklichen Geschöpfen muss man zur Menschenwürde verhelfen!"

Die Montessori meldet sich zu einem Lehrerkongress in Turin und hält dort eine flammende Rede:

"Auch geistig behinderte Kinder brauchen eine Bildungschance!"

3000 Hörer lassen sich überzeugen. Die Forderung geht an den Erziehungsminister und hat Erfolg:
Im Frühjahr 1898 öffnet in Rom die "scuola ortofrenica", ein heilpädagogisches Institut. 22 geistig behinderte Kinder werden eingeschult. Maria Montessori leitet die Einrichtung zusammen mit Dr. Montessano, einem ihrer Kollegen aus der psychiatrischen Klinik.

Die verwendeten Unterrichtsmaterialien hat der französische Arzt Edouard Seguin entwickelt:

Waldschmidt: "Der Seguin hatte zum Beispiel aus Holz geschnittene Aussparungen, zum Beispiel für ’ne Schere. Und die Kinder sollten dort einsetzen in die Aussparungen die entsprechenden Materialien. Das hatte Seguin entwickelt, und Montessori hat das dann weitergeführt, und hat dann Dreiecke, Rechtecke, Kreise in so Aussparungen gemacht. Und dann Zylinder-Blöcke, wo der Durchmesser und die Höhe sich ändern. Und Montessori hat dann dabei festgestellt, bei diesem Holzzylinder-Block, dass ein Mädchen 42 mal die selbe Tätigkeit durchgeführt hat, und das war dann Montessoris Aha-Erlebnis, dass das Kind sich lange Zeit mit einer Sache beschäftigen kann, wenn der Gegenstand oder die Gegenstände das Interesse des Kindes hervorrufen. Das war Montessoris Bestreben eigentlich bis zu ihrem Tod, immer Materialien und Situationen zu erfinden, die das Interesse von Kindern fesseln."

In dieser Zeit entsteht ein großer Teil des didaktischen Materials, das bis heute als Montessori-Material in den Kinderhäusern benutzt wird.

Nach knapp zwei Jahren erfolgreicher Arbeit legt die Montessori ihr Direktoren-Amt nieder und schreibt sich wieder als Studentin ein, diesmal für Pädagogik und Anthropologie.
Was war der Grund für diesen überraschenden Wechsel? Die Biographen berichten, Montessori wollte einen Schlussstrich ziehen unter ein Liebesverhältnis mit ihrem Kollegen Dr. Montessano, aus dem ein Kind hervorgegangen war.
Waldschmidt: "Also, als ich das das erste Mal gelesen hab’, hab’ ich gedacht, das kann nicht wahr sein! Dass sie das Kind weggibt. Aber wenn man sich die Situation von damals ansieht und ihr Sendungsbewusstsein… es war für sie ein ausgesprochener Unfall, jetzt ein Kind zu bekommen, unehelich auch noch, denn sie hätte ihre Approbation, das heißt ihre Zulassung als Ärztin zurückgeben müssen, und es wäre ein ausgesprochener gesellschaftlicher Skandal geworden. Deswegen hat sie den Sohn dann weggegeben und hat ihn dann ständig, nicht als Mutter, sondern einfach nur als feine Dame besucht. Und mit 15, als ihre eigene Mutter gestorben ist, hat sie ihn zu sich geholt, hat ihn dann auch lange Zeit als Neffen ausgegeben, obwohl sie selber gar keine Geschwister hatte. Oder als Adoptivsohn."

Als sich Maria Montessori zu ihrem Sohn bekennt, ist Mario schon über 40 Jahre alt. Mario Montessori hat seine Mutter den Rest ihres Lebens begleitet als ihr Vertrauter und ihr Sekretär.

1904 erhält Maria Montessori eine Professur für Pädagogik an der römischen Universität und hält Vorlesungen. Ihr Interesse gilt jetzt der Erziehung geistig normal entwickelter Kinder, denn sie ist überzeugt: ihre Lehrmethode - den kindlichen Geist zu schulen über die Erfahrung mit sinnlichem Material - ist für alle Kinder geeignet. Sie wird ihnen Freude bringen und außerordentliche Lernerfolge dazu.

Am 6. Januar 1907 eröffnet die Pädagogin ihr berühmtes "Casa dei bambini" in San Lorenzo, einem Arbeiterviertel von Rom. Eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft hatte sie gebeten, dieses Kinderhaus zu übernehmen. 50 Kindern im Alter zwischen zwei und sechs Jahren sollen hier täglich betreut werden, während die Eltern in der Fabrik arbeiten.

Eine Erzieherin wird eingestellt, die Montessori kommt mehrmals die Woche vorbei, beobachtet die Kinder beim Lernen, entwickelt neues Material - und kommt schließlich auf die Idee, den Vier- bis Sechsjährigen das Lesen beizubringen.

Waldschmidt: "Die hat auf Sperrholzplatten Buchstaben, Kleber, und dann darauf Sandpapier. Und dann konnten die Kinder mit zwei, drei Fingern, also mit der rechten Hand bei Rechtshändern, den Drei-Finger-Griff üben. Das heißt: Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. So fuhren die die Buchstaben nach. Und dann wurde dazu der Laut gesagt. Also, die Kinder haben Laut und Buchstaben gleichzeitig gelernt: erst das Schreiben und haben dann gelesen."

In den Montessori-Schulen von heute lernt man das Lesen auf dieselbe Weise wie damals im " Casa dei bambini". – Clarita zeigt mir die Buchstaben:

"Also, das ist ein Quadrat aus Holz, und hier ist auf Sandpapier das große A aufgezeichnet, also draufgeklebt. Und dann fahren die Kinder mit den Fingern da lang, sprechen dann das A, und dann merken se halt, wie das geschrieben wird. Und wenn ses im Heft dann falsch schreiben, müssen se nochmal drüberfahen, nochmal den Laut sagen, und dann wissen ’ses wieder."

Das "Casa dei bambini" hat "la Dottoressa" berühmt gemacht. Montessoris Bildungserfolge werden schnell in Italien bekannt und innerhalb von fünf Jahren in der ganzen Welt.

Im Sommer 1909 hält Maria Montessori ihren ersten Ausbildungskurs: auf dem Landsitz eines befreundeten Barons bei Città di Castello im italienischen Süden. Der Baron will eine Schule einrichten für die Kinder der Bauern, Montessori soll ihre Bildungsmethoden den zukünftigen Lehrern vermitteln. Baron Leopoldo Francetti war es auch, der die Pädagogin ermuntert hat, ihr erstes Buch zu schreiben. Es erscheint 1910 unter dem Titel "Die Methode der wissenschaftlichen Pädagogik". Darin heißt es:

"Mit der Neugestaltung der Vorbildung des Lehrers muss die Neugestaltung der Schule Hand in Hand gehen. Denn wenn wir den Lehrer zum Beobachter herausbilden und zum Experimentieren anleiten, so muss er in der Schule etwas zu beobachten und Gelegenheit zum Experimentieren haben. Eine grundlegende Forderung der wissenschaftlichen Pädagogik muss deshalb die Freiheit des Schülers sein. - Vielleicht wird uns diese Methode große Überraschungen bringen."

Die Überraschung für Montessori selbst war der immense Erfolg dieses Buches: "Il Metodo" ist in Italien sofort in aller Munde. In den nächsten Jahren wird das Werk in 20 Sprachen übersetzt. Scharen von "Montessori-Verehrern" machen sich auf den Weg nach Rom, um die Autorin in Augenschein zu nehmen. Die Amerikanerin Rita Kramer in ihrer Montessori-Biographie von 1976:

"Journalisten, Pädagogik-Professoren, Diplomaten und gekrönte Häupter, Lehrer, Regierungsbeamte, führende Geistliche, Ärzte und Philanthropen machten die Reise nach Rom. Angeregt durch das, was sie gelesen hatten, kamen sie aus Neugier, blieben voll Bewunderung und fuhren wieder nach Hause, um in ganz Westeuropa, in den USA und in England, in China, Japan, Kanada, Indien, Mexiko, Syrien, Australien, Neuseeland und Südamerika Montessori–Schulen und Montessori-Gesellschaften zu gründen."

Die Dottoressa wird in alle Länder eingeladen. Die nächsten 20 Jahre ihres Lebens wird sie auf Reisen verbringen, Ausbildungskurse leiten und Vorträge halten vor großem Publikum.

Waldschmidt: "Sie hat fast immer frei gesprochen, wenn sie öffentlich aufgetreten ist, nie ein Script gehabt. Montessori war ’ne glänzende Rednerin und hat damit auch ihr Publikum beeindruckt, so richtig ‚guruhaft’ teilweise, so wurde sie auch angehimmelt."

Maria Montessori in einem Vortrag von 1936:

"Die Mathematik ist das attraktivste Fach für sechs- bis siebenjährige Kinder. Ich werde mich immer an ein kleines, sechsjähriges Mädchen erinnern, ganz am Anfang meiner Experimente, sie sagte mir, wie ein Philosoph: es gibt zwei schöne Sachen auf der Welt, es gibt die Religion und es gibt die Mathematik."

1929 gründet Montessori die Association Montessori Internationale, kurz "AMI" genannt, mit Sitz in Berlin. Der wird sechs Jahre später nach Amsterdam verlegt, weil die Nationalsozialisten in Deutschland die Montessori-Pädagogik verbieten - als "undeutsch – individualistisch" und "schädlich für die Volkseele".

Die AMI, so wollte es Maria Montessori, soll ihre Werke verbreiten, die nationalen Montessori-Gesellschaften unter einem Dach zusammenführen sowie Kongresse und Ausbildungskurse organisieren. Die Vereinigung ist bis heute in dieser Sache aktiv.

Der Kern von Montessoris Pädagogik: Der kindliche Geist muss über die Sinne geschult werden. Begreifen hat etwas zutun mit "Be-greifen", das heißt mit Betasten, Anschauen und Experimentieren. Außerdem: Kinder tun freudig und konzentriert nur das, was sie auch wirklich tun möchten. - Claudia Kownatzki, Direktorin der Montessori-Schule in Halle:

"Also, es ist ja so, dass die Kinder mit ’ner bestimmten Vorstellung in die Schule kommen, was sie möchten: Lesen, Schreiben lernen, beziehungsweise auch irgendwas mit Zahlen zu machen. Was sie zu Hause machen oder was sie im Kindergarten als letztes dran hatten, was ihnen liegt. Und einer der wichtigsten Fragen, oder: es ist meine Devise zu sagen "Was möchtest Du denn gerne lernen?" Und dann zeigt sich genau das, was sie zu Hause oder im Vorfeld gern getan haben.
Entweder fangen sie mit Zahlen an oder mit Buchstaben, und genau das sollte man ihnen zu Anfang geben. Also, ihnen die Freude erhalten, gern in die Schule zu kommen und das zu lernen, was ihnen entspricht."

Der Pädagoge bietet dem Kind verschiedene Lernmaterialien an, und es entscheidet selbst, woran es Freude hat, womit es arbeiten möchte.
Ingeborg Waldschmidt:

"Ja, diese freie Entscheidung, beziehungsweise, dass das Kind sich frei in einem bestimmten Rahmen bewegen kann. Und der Rahmen war Montessori sehr wichtig. Das Kind kann sich frei entscheiden und auch sagen, wie lange es an einer Arbeit bleiben will und mit wem, aber die Bedingung ist: ‚Mach das zu Ende, und räum’ dann das Material auch wieder weg!’ - Also, das sind ganz klare Vorgaben und Ordnungs- und Regelprinzipien, die da eingehalten werden müssen von den Kindern, und wenn nicht, muss der Erzieher eingreifen."

Leider wird der Unterricht an Montessori-Schulen von Außenstehenden noch immer gern mit "Spaßpädagogik" verwechselt, meint Claudia Kownatzki:

"Das ist so das, was ganz zu Anfang war: ‚Ach, Montessori, die machen doch sowieso, was sie wollen!’ Einerseits stimmt es. Weil die Kinder entscheiden dürfen, was sie wollen. Und ansonsten gibt es ganz feste Regeln."

Lena aus der vierten Klasse liest mir die Regeln vor:

"Regeln für die Frei-Arbeit:
Ich wähle eine Arbeit.
Ich beende eine angefangene Arbeit.
Ich bin leise, ich störe andere Kinder nicht bei ihrer Arbeit.
Ich schreibe auf, wann ich was gemacht habe."

Wer meint, der Bestseller von Bernhard Bueb, "Lob der Disziplin", sei möglicherweise für freie Schulen wie die von Montessori geschrieben, weil Ordnung und Disziplin dort Fremdwörter sind, wird von Claudia Kownatzki in die Schranken gewiesen :

"Nein, ich wundere mich dann wirklich, ich wundere mich über das, was dann so von außen gesagt wird und kann nur immer … ich kann’s belächeln, denke: ‚Meine Güte, das machen wir schon ewig, und das geht so einfach!’"

Das Vorurteil ist alt und anscheinend nicht auszurotten, meint die Direktorin:

"Das hat einfach mit Reformpädagogik zutun. Ich denke, es wird ja oft über was geurteilt, was man nicht kennt. Und meistens sind’s auch die, die sagen: ‚Wer weiß, was in dieser Schule los ist!’, die noch nicht einen einzigen Fuß in eine Montessori-Schule gesetzt haben und sich dann natürlich anmaßen, das zu wissen und darüber auch sprechen zu können. Sehr öffentlich. Und es stimmt nicht."

Die Bildungsmethoden der Italienerin Maria Montessori haben Freunde und Förderer in 40 Ländern der Erde. Die "Dottoressa" war zweifellos ein Genie in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Aber dieser globale Erfolg verdankt sich nicht nur ihrem persönlichen Auftritt, er gründet vor allem in der Sache selbst: in der Vision ihrer Pädagogik. Winfried Böhm :

"Der Gedanke, mit Hilfe einer neuen Erziehung eine neue, bessere und vollkommene Gesellschaft zu schaffen, ist doch ein Gedanke, der nicht nur das Herz eines jeden Lehrers, Erziehers höher schlagen lässt, nicht. Dieses Faszinosum wirkt sich natürlich auch bei allen ideologischen Gruppen aus. Es ist nicht nur das Geographische das Interessante, dass es die Montessori-Gruppen auf der ganzen Welt gibt, sondern das viel Verwunderlichere ist, dass die Montessori-Pädagogik von nahezu allen Ideologien aufgenommen werden kann. Die Buddhisten halten sie für die größte buddhistische Pädagogin, der Papst schrieb ihr, sie sei die größte katholische Pädagogin, zur gleichen Zeit schrieb ihr Lenin, er möchte, dass alle Proletarierkinder nach der Montessori-Methode erzogen werden können, denn nennen Sie mir doch eine Ideologie, die nicht daran wirken will, die Menschheit zu verbessern!"

Allerdings: Diktatoren haben es nie lange mit der "Dottoressa" ausgehalten. In der Sowjetunion wurde ihre Pädagogik in den 40er Jahren abgeschafft. Und später war Maria Montessori auch in der DDR eine persona non grata. – Ingeborg Waldschmidt:

"Montessori-Pädagogik in der DDR hat’s eigentlich gar nicht gegeben. Weder für die Erzieher- noch für die Lehrer-Ausbildung. In dem einen Standardwerk zur Erzieher-Ausbildung wird die Montessori in zwei Zeilen abgehandelt, und da stand drin, dass sie für die Elite-Ausbildung im Kapitalismus zuständig war und deshalb für Arbeiterkinder nicht in Frage käm’."

Was in der neueren Montessori-Forschung viel diskutiert wird, ist deren kurzzeitiges Arrangement mit dem italienischen Faschismus. 1926 wurde die Montessori-Pädagogik an Italiens Schulen eingeführt - auf Empfehlung von Mussolinis Bildungsminister Pietro Fedele, und der Duce wurde zum Ehrenvorsitzenden der italienischen Montessori-Gesellschaft ernannt.

Die Holländerin Helene Leenders hat 2001 ein Buch veröffentlicht. Titel: "Der Fall Montessori". Sie behauptet, Montessori hätte ihre Pädagogik als "den großen Zielen des Faschismus angemessen und gleichgesinnt" bezeichnet. – Ingeborg Waldschmidt dazu:

"Man müsste da weiter forschen, ob man das einfach so in den Raum stellen kann. Das kann man aber nur, wenn man in den entsprechenden Archiven wühlen kann, Zeitzeugen gibt’s nicht mehr. Also, diesen faschistischen Hintergrund: ich kann ihn selber nicht nachvollziehen, weil Montessori immer für Freiheit und Persönlichkeit gekämpft hat. Und wenn sie zeitweise in ihrem Leben mit bestimmten Idealen übereingestimmt hat, was noch zu belegen wäre, kann man ihr das nicht für ihr ganzes Werk vorwerfen."

1934 hat sich Maria Montessori mit Mussolini überworfen, als der verstärkt Einfluss zu nehmen gedachte auf ihr Bildungsprogramm und den Faschisten-Gruß an Montessoris Schulen einführen wollte. Genaueres ist nicht bekannt, nur: Italiens Montessori-Schulen wurden über Nacht geschlossen.

Die "Dottoressa" lebt zu dieser Zeit schon außer Landes. Zuerst in Spanien, dann ist sie nach Indien gegangen. Erst 1946 kehrt sie nach Europa zurück.

Waldschmidt: "Für mich ist es eigentlich eine Frau, die gesagt hat: Es geht mir um die Würde des Menschen und nicht um irgendwelche ideologischen Hintergründe. Sonst wäre sie nicht in der ganzen Welt so bekannt.
Es gibt heute 50 Länder der Erde, wo Montessori-Pädagogik unterrichtet wird. Wenn sie so faschistoid wäre, würde das nicht funktionieren."

Im Juli 1950 hatte der Generalsekretär der UNESCO Maria Montessori als "Symbol der großen Hoffnungen auf Erziehung und Weltfrieden" bezeichnet. Als sie am 6. Mai 1952 starb, schrieb die Frankfurter Rundschau in einem Nachruf:

"Es wäre sinnvoll gewesen, wenn das lange, eifrige und bewegte Leben Maria Montessoris, das den Kindern und ihrer Erziehung zum Frieden gegolten hat, zuletzt durch den Friedensnobelpreis gekrönt worden wäre, zu dem sie mehrere Male vorgeschlagen worden ist. Aber vielleicht bedurfte es der höchsten äußeren Ehrung gar nicht, denn den Ruhm und vor allem die Wirkung ihrer Gedanken in die Breite und in die Tiefe hat die Dottoressa mehr als fünf Jahrzehnte lang erlebt."

Waldschmidt: "Da wurde Montessori mal gefragt, ob sie denn eigentlich Katholikin sei, und da hat sie geantwortet: ‚Nein, ich bin Montessorianerin!’ Das ist natürlich ’n bisschen größenwahnsinnig, aber ich glaube, dass sie sich in keiner Weise in irgendeine Schublade hat drücken lassen wollen. Und das ist Montessori: Sie war so."

Montessori: "Mein Werk zielt besonders darauf, dass die Gesellschaft, die überaus große Bedeutung der ersten Lebensjahre des Menschen erkennt. Nicht nur für die Bildung des Menschen selbst, sondern auch für das Schicksal der ganzen Gesellschaft. So versteht zum Beispiel die UNESCO die Erziehung auch als Basis für eine größere Verständigung unter den Menschen. Diese langfristige Vision, diese große Frage der Menschheit ist es, die mir die Kraft gibt, bis zum Ende zu kämpfen."