Fremde Heimat

Eine Großfamilie auf Ostpreußentour

Blick über die Landschaft am ehemaligen Friedrichsgraben, heute Polesskij Kanal, bei Polessk, früher Labiau, am 02.09.2002. Pollesk liegt heute im zu Russland gehörenden Kaliningrader Gebiet - im früheren Ostpreußen.
Landschaft am ehemaligen Friedrichsgraben, der heute Polesskij Kanal heißt © picture alliance / dpa / Tom Schultze / Transit
Von Katrin Albinus · 26.04.2017
Wie viele andere auch mussten sie im Zuge des Zweiten Weltkriegs Ostpreußen verlassen. Jahrzehnte später fährt unsere Autorin zusammen mit ihrer Familie an die Orte zurück, die für ihre älteren Verwandten einst Heimat waren.
Autorin: "Sag mal, Ebke sagte jetzt gerade, die Idee ist entstanden, weil wir zu dir gesagt haben, wann wir die alte Heimat noch mal besuchen? Wann haben wir das denn gesagt?"
Georg: "Ich hab mal vor vielen Jahren so damit angefangen, und dann hast du dich sehr ignorant gezeigt."
Ostpreußen. Das war für mich der grüne Lodenmantel meines Opas, volkstümliche Handarbeiten und Zinnteller. Hirschgeweihe, das langweilige Ostpreußenmuseum in Lüneburg, und ein Ölbild, das bei uns über der Eingangstür hing. Darauf ein Gutshaus, eng umstanden von dunklen Tannen: Waldhausen. Kein verlockender Ort, wie mir schien. Für meinen Vater Georg und seinen Bruder Eberhard ein Sehnsuchtsort. Ihr Leben lang.
Eberhard: "Dieser Ort war für unsere Familie praktisch 90 Jahre der Mittelpunkt. Hier hat sich ein großes Familienleben immer abgespielt. Deswegen sind wir heute auch, wir Alten, und aber auch unsere Kinder und auch schon zum Teil deren Kinder hier. Und deswegen freuen wir uns, dass wir heute hier sein können."
Georg: "Wir haben ja jahrelang bedauert, das heißt, wir Älteren, dass ihr in der Richtung eigentlich keine Antennen hattet, da irgendwie Interesse zu zeigen mal."
Keine Antennen hatten aber auch ein paar der Älteren. Etwa die Schwester meines Vaters, meine Tante Kathrin.

Kathrin: "Du musst dir mal vorstellen, als Willy Brandt den Kniefall in Polen hatte, da war Vater schon mit Siegrid zusammen. Und ich war bei ihnen in meinem Elternhaus. Da hat sie mich, als ich gesagt habe, das finde ich gut, da hat sie mich des Hauses verwiesen. Ich hätte da nichts mehr zu suchen! Ich meine – Vater war ja Vorsitzender vom Bund deutscher Heimatvertriebener, die wollten die Heimat zurück! Das war für mich immer ein total absurder Gedanke. Das ist verloren, wir haben Schuld auf uns geladen durch diesen scheiß Krieg, und es ist ok, dass wir (...) dafür bezahlen müssen."
Doch jetzt sind sie alle dabei, auch die Skeptiker. 30 Leute sitzen im Bus, zehn werden nachkommen. Die Älteren sind um die 80, für die meisten von ihnen ist es die letzte Reise nach Ostpreußen. Auch für meinen Vater. Letzte Gelegenheit also, die Reise mit ihm zu machen. Und die sagenumwobenen Orte einmal mit eigenen Augen zu sehen.
Christoph: "Heimat, ja. Wo ist Heimat, näh? Sagen sie immer: Heimat ist, wo das Herz ist. Das erzählen die Leute immer."

Das Zielt heißt Ostpreußen

Acht Tage wird unsere Reise nach Ostpreußen dauern. Im Bus sitze ich oft neben meinem Bruder Christoph.
Christoph: "Wenn die sich damit verbunden fühlen, und sagen, das ist ihre Heimat, hängen sie höchstwahrscheinlich mit dem Herzen da dran, auf die eine oder andere Art. Und sei es nur in träumerischen Erinnerungen. Das sei sicher jedem zugestanden."
Christian: "Einmal war ich erst in Waldhausen, 2005. Das war echt krass. Das war Gänsehaut. Da hatten wir ganz viel Zeit und sind da zur Ruhe gekommen und so, und dann merkst du auf einmal, wie das in dir wirkt. Und was so hoch kommt, ist total irre. Da hab ich das erste Mal... tatsächlich nachvollzogen, was das Heimatgefühl bedeutet. Obwohl das für mich völlig fremd war. Eine völlig fremde Geschichte. Aber alles, was die Omi erzählt hat früher, oder Papa erzählt hat, kriegte auf einmal einen Sinn. So dieses Gefühl. Vogel oben drüber, und im Grunde so die Stimmung in der Landschaft, das war alles... irre."
Stadtführerin: "So, hier vorne, diese Kirche aus dem 19. Jahrhundert, Stefanskirche, das ist die evangelische Kirche in Thorn. In Thorn gibt es 220.000 Einwohner, es gibt eine evangelische Gemeinde, eine orthodoxe Gemeinde, und 29 katholische."
Die Reise geplant hat Onkel Eberhard. Der ältere Bruder meines Vaters. Der schon sechs Mal nach Ostpreußen gefahren ist, der Stadtführungen liebt und Kirchen. Meine Schwester Annette nimmt es mit Humor, ihr Mann Schorsch weniger.
Annette: "Mein Mann ist auch völlig gestresst. Hat mich schon angemault. Mit diesen katholischen Kirchen, da kriegt der einen Kollaps. Der kann da kurz rein, und dann muss er raus."
Die Mittagspausen verbringen wir meist irgendwo am Straßenrand. Bei Kaffee und Würstchen, die unser Fahrer Valentin verkauft.
"Mit oder ohne Milch? / Mit Milch. / Mit Milch... / Ein Euro, ne. / Ein Euro, jawohl."
Das spart Zeit, der nächste Programmpunkt wartet schon.
"Was gibt’s da? Führung? / Nee, ich glaub, das ist heute nur so.../ Freies Abhängen? / Einmal die Promenade rauf und runter. / Was? Gibt’s doch nicht! / Unkontrolliert. / Unkontrolliertes Auf- und Abschlendern! / Und ne Stunde, nicht nur für zehn Minuten. / Das gibt’s nicht. Aber dann sagt er am Anfang wieder ne Stunde, und am Ende... sind es dann satte zehn Minuten."

Eberhard: "Wir gucken also zuerst Sechserben an, und wenn wir dann zurückkommen, Birkenfeld an, und wir fahren dann weiter, nach Jäglack, Kollkeim, und Skandlack."

Die Familie meiner Großmutter

Eine Stadtführung, eine Bootsfahrt und fünf Güter stehen heute auf dem Programm. Die gehören in die siegfriedsche Linie, die Familie meiner Großmutter. Waldhausen, das Gut des Großvaters – muss noch warten.
Eberhard: "Jetzt will ich sagen, wie wir mit denen verwandt sind. Die eine Schwester unseres Großvaters Siegfried, Georg Siegfried, heiratete den Julius Totenhöfer. Und daraus resultiert also die Verwandtschaft. Julius Totenhöfer hatte mehrere Töchter, nämlich drei. Erna, geboren 1892, Ilse, geboren 1895, Annie, geboren 1894. So. Und Erna wurde meine Patentante, und daher rührt also auch mein engeres Verhältnis zu Birkenfeld, und daraus resultiert dann auch mein Verhältnis zu Plocks und Sechserben. Also die Erna Totenhöfer heiratete einen Herrn Koch, und die jüngste Schwester..."
Volker: "Das sieht doch von außen schon ganz passabel aus / Pütt: Also, das find ich allerhand, so ne Truppe da in so ein Haus zu lassen / Autorin: Ja, das find ich auch."

Auf dem ersten Hof in Sechserben zeigt uns der Verwalter stolz das frisch sanierte Gutshaus. Der zweite Gutshof in Birkenfeld ist größer. Zehn Wirtschaftsgebäude zähle ich auf dem weitläufigen Gelände. Ein alter Mann kommt auf die Veranda des Wohnhauses, spricht mit Eberhard und unserer polnischen Übersetzerin. Er bewirtschaftet das Gut, sonst ist niemand zu sehen.
Das Gutshaus wirkt heruntergekommen. Die Fassade ist schmutzig-grau, alte Gardinen hängen in den Fenstern. Doch die Sonne scheint, auf dem Dach sitzt ein Storch in seinem Nest. Vor dem Haus ein kleiner Park. Alles sieht wildromantisch aus. Sogar meine Tante ist angetan. Sie kann sich auf einmal vorstellen, wie es für ihre Eltern gewesen sein muss, die Heimat zu verlassen.
Kathrin: "Gerade nachdem wir das renovierte Haus gesehen haben und sehen, wie schön das eigentlich war, wie schmerzlich das gewesen sein muss nach dem Krieg, mit sechs Personen in einem Zimmer, kein Geld. Dann haste die Kriegsschuld auf dich geladen, dann haste Hunger, dann gehen dir die Kinder auf die Nerven, weil du in einem einzigen Zimmer wohnst. Also das... das ist jetzt eigentlich das erste Mal, so dass es mir doch ein bisschen nahe geht."

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