Frauen werden anders krank als Männer

Von Stephanie Kowalewski · 13.04.2013
Männer und Frauen entwickeln verschiedene Krankheitssymptome und sie sprechen unterschiedlich auf Medikamente an: Mit diesen Phänomenen befasst sich neuerdings die sogenannte Gender-Medizin. Ärzte und Apotheker haben bei dem Thema noch erheblichen Nachholbedarf.
"Männer sind ja manchmal ein bisschen wehleidiger."

"Klar, gibt man das nicht immer so zu, aber doch, könnte man schon behaupten, dass Jungen wehleidiger sind."

"Man hört das ja immer, aber das glaube ich nicht."

"Mein Ex hat Schmerzen viel schlechter ausgehalten als ich. Wir hatten beide mal das gleiche und er ist fast gestorben."


Der Begriff Gender kommt aus dem englischen und bedeutet soviel wie soziales Geschlecht. Gender meint die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlechterrolle von Frauen und Männern. Sie ist erlernt und damit veränderbar. Doch was bedeutet Gender in der Medizin?

"Es geht darum, dass verschiedene Krankheiten bei Männern und Frauen unterschiedliche Symptome hervorrufen und dass aus diesem Grund häufig bestimmte Erkrankungen bei einem Geschlecht verkannt werden."

Das sagt Andrea Kindler-Röhrborn, die am Essener Uniklinikum die Biologie von Tumoren erforscht – und dabei auch nach dem Unterschied bei Männern und Frauen sucht.

"Es geht darum, dass Frauen und Männer völlig unterschiedlich auf Medikamente ansprechen können und darum, dass Frauen und Männer andere Bedürfnisse haben was zum Beispiel Rehamaßnahmen angeht, Krankenhausaufenthalte und so weiter."

Gendermedizin beschäftigt sich auch mit dem teilweise sehr unterschiedlichen Umgang mit Krankheiten. Ein erkälteter Mann ist etwas ganz anderes als eine erkältete Frau, meinen diese Düsseldorfer:

"Da lässt man sich gerne hängen und am besten verwöhnt werden insofern, dass man sich bedienen lässt."

"Ich mache immer noch alles genauso. Ich könnte auch nicht im Bett liegen und mich bedienen lassen. Ich pflege dann meinen kranken Bruder auch noch mit."
"Wenn die eine Erkältung haben, demonstrativ einen Schal rum, sitzt dann da in der Ecke und kann gar nichts mehr. Man nimmt vielleicht mal eine Tablette und denkt, gut ist."

"Ich habe das ganz anders empfunden. Genau anders rum."


Geschlechtsspezifische Varianten von Krankheiten
Es ist tatsächlich so, dass Männer ein schwächeres Immunsystem als Frauen haben. Ein einfacher Schnupfen haut sie mehr um als eine Frau, sie sterben auch häufiger an Lungenentzündung und Grippe. Bei Frauen hingegen funktioniert das Immunsystem manchmal sogar zu gut und richtet sich dann gegen den eigenen Körper. Autoimmunkrankheiten wie Arthritis oder Multiple Sklerose kommen bei Frauen weitaus häufiger vor als bei Männern. Mögliche Ursache könnten die Geschlechtshormone sein. Meist gibt es aber mehrere Gründe für die genderspezifischen Varianten der Krankheiten, sagt Andrea Kindler-Röhrborn.

"In meinen Augen ist Gendermedizin ein Querschnittsthema. Und die Genderperspektive sollte eigentlich in sämtlichen medizinischen Fächern integriert sein."

Doch davon kann bislang zumindest nicht die Rede sein. Noch lernen Medizinstudenten eben nicht ganz selbstverständlich, dass die Niere des Mannes mehr Nephrone hat als die der Frau. Nephrone sind die aktiven Bestandteile der Niere, die den Urin filtern. Vermutlich führt dieser Unterschied dazu, dass weibliche Spendernieren bei Männern nicht so gut arbeiten und Frauen ein höheres Risiko haben, eine männliche Spenderniere abzustoßen.

Letztlich ist das Wissen über die Phänomene der Gendermedizin noch gering. Das hat auch eine Befragung von Medizinstudenten ergeben, die die Universität Duisburg/Essen gemeinsam mit der Uni Münster durchgeführt hat. Die angehenden Ärzte wurden zum Beispiel gefragt, was sie über die geschlechtsspezifischen Symptome bei einem Herzinfarkt oder über das Schmerzverhalten von Männern und Frauen wissen.

"Wir haben dann gesehen, dass die Studenten in der Regel weniger als 50 Prozent der Fragen beantworten konnten. Das sollte im Jahre 2013 nicht mehr der Fall sein. Aber woher soll‘s kommen? Es wird definitiv nicht gelehrt."

Andrea Kindler-Röhrborn fordert deshalb, dass Besonderheiten von Mann und Frau ab dem ersten Semester des Medizinstudiums und in jedem Fach Lehrinhalt sein müssen. Die Pharmazie ist da bereits einen Schritt weiter. Hier gehört Gender seit etwa fünf Jahren zum Studium, sagt Daniel Neuser, Fachapotheker für klinische Pharmazie und pharmazeutische Analytik. Doch das sei kein Grund sich auszuruhen, sagt er:

"Da sind wir in der Pharmazie, genau wie die Mediziner, noch in den Kinderschuhen. Vor wenigen Jahren noch hat sich kaum ein Mensch darüber Gedanken gemacht. Mittlerweile können wir zahlreiche Phänomene, beispielsweise Nebenwirkungen selbst in Normdosen, auf die Art und Weise erklären."

Es gibt sogar genderspezifische Prothesen
Als Krankenhausapotheker am Klinikum Krefeld ist Daniel Neuser auch für die Beratung der Ärzte und Pflegekräfte zuständig. Und da stellt er schon eine wachsende Sensibilität für das Thema fest. Immer häufiger suchen Ärzte und Krankenschwestern seinen Rat, wenn es um die richtige Dosierung von Wirkstoffen geht.

"Wie sieht ihre Patientin aus, wie muss ich mir die vorstellen? "

"Die Patientin ist 65 Jahre alt, leicht übergewichtig, da bin ich nicht sicher, ob die Medikation so im Moment richtig ist."

"Und Frauen, die sind mit dem Metropolol-Stoffwechsel eh ein bisschen anders. Ich würde ihnen vorschlagen, die Dosis zu reduzieren."


Männer und Frauen werden eben nicht nur anders krank, sie müssen manchmal auch anders behandelt werden. Denn ihre Körper sind nicht gleich. So unterscheidet sich die Form des weiblichen Beckens deutlich von einem männlichen und Frauengelenke sind in der Regel auch deutlich beweglicher als die des Mannes. Doch die Idee von genderspezifische Prothesen keimt erst jetzt in den Köpfen der Forscher. Daniel Neuser nennt weitere Unterschiede:

"Es geht damit los, dass Frauen und Männer unterschiedliche Muskelmassen, unterschiedliche Wasseranteile des Körpers haben, unterschiedliche Fettmengen, wo sich Arzneistoffe drin verteilen, gespeichert und auch freigesetzt werden können. Und Männer und Frauen unterscheiden sich, wie der Körper bestimmte Stoffe verarbeiten kann."

So wirken manche Stoffe in einem Frauenkörper sehr viel länger als bei Männern. Die Dosierung müsste bei ihnen also reduziert sein. Doch noch immer orientieren sich die Mengenangaben auf den Beipackzetteln an einem Standardpatienten, und das ist eben der 75-Kilo-Mann. Außerdem dominieren Männer noch immer in Patientenstudien und in der Arzneimittelforschung, bemängelt der Klinikapotheker.

"Ich vermute mal, das liegt auch noch ein bisschen daran, dass für den klinischen Prüfer der Mann einen gewissen Vorteil aufweist. Nämlich: Er kann nicht unbewusst schwanger sein."

Frauen in Medizinstudien unterrepräsentiert
Tasächlich ist die mögliche Schwangerschaft einer Frau lange Zeit nahezu ein kategorisches Ausschlusskriterium für die Teilnahme an Patientenstudien gewesen, sagt die Essener Forscherin Andrea Kindler-Röhrborn. Hintergrund ist der Contergan-Skandal, der Anfang der 60er-Jahre aufgedeckt wurde. Damals wurde bekannt, dass das millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel Contergan eine schädigende Wirkung auf Föten hat. Ein Schock, der auch in der Forschung bis heute nachwirkt, sagt die Medizinerin.

"Nachdem der Contergan-Skandal publik geworden war, hat man natürlich als Schutzmaßnahme auch gegenüber den Frauen aufgehört, die in irgendeiner Art von Studien einzuschließen. Heutzutage werden aber auch peu a peu mehr Frauen für Studien rekrutiert. Aber es ist in keiner Weise so, dass die in entsprechenden Studien repräsentiert sind, wie sie auch bei den Krankheitsbildern repräsentiert sind."

Eine Folge der Studienschieflage ist, dass genderspezifische Aussagen bislang bei den meisten Medikamenten fehlen, kritisiert der Krefelder Klinikapotheker Daniel Neuser:

"Bei den Präparaten, die jetzt neu entwickelt werden, wird es zwischen Männern und Frauen getestet. Die Altpräparate, und das ist die Mehrzahl der Präparate, die auf dem Markt sind, die sind noch überhaupt nicht mit den entsprechenden Erkenntnissen versehen."

Es besteht also noch erheblicher Nachholbedarf bei Apothekern und Ärzten. Und auch die Patienten - oder besser die Patientinnen - können einiges tun.

So glauben 62 Prozent der Frauen, dass das Risiko an Krebs zu sterben, am größten ist. Doch das stimmt nicht. Frauen sterben am häufigsten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Männer übrigens auch. Doch Frauen sind im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre älter als Männer, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden, sagt Gabriele Saemann, Kardiologin am Krefelder Helios-Klinikum.

"Das liegt daran, dass die Frauen erst einmal durch ihre weiblichen Hormone geschützt sind und dass nach Ende der Wechseljahre das Risiko zunimmt, einen Herzinfarkt zu erleiden. Und besonders gefährdet sind Frauen ab 65 Jahren."

Halsschmerzen statt Armstechen beim Herzinfarkt
Doch anders als bei Männern fehlt vielen Frauen das Risikobewusstsein dafür, sagt die Herzspezialistin.

"Ich hatte erst gestern eine Patientin, die hat gesagt, sie hat noch ihren Walkinglauf beendet mit ihrem Mann, weil sie ihren Mann nicht beunruhigen wollte. Dann sind sie noch nach Hause gefahren, dann zum Hausarzt und dann erst ins Krankenhaus. Und das ist eigentlich typisch, wie Frauen auf sowas reagieren."

Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen bei einem Herzinfarkt oft andere Symptome haben können als Männer.

"Die Frauen sollen mehr so im Bauch Symptome haben. Und Männer so der linke Arm, eben die typischen Symptome. Und ich hatte eine Freundin, die hatte Halsschmerzen."

Das typische Druckgefühl in der Brust, die Schmerzen im Arm können bei Frauen fehlen. Stattdessen leiden sie unter:

"Übelkeit, Bauchschmerzen, Nackenschmerzen, Rückenschmerzen. Und das ist dann häufig so, dass die Beschwerden fehlgedeutet werden, sowohl von den Patientinnen selbst als auch von den Ärzten."

Auch deshalb kommen Frauen bei einem Herzinfarkt durchschnittlich 30 Minuten später in die Klinik als Männer. 30 Minuten, die tödlich sein können. Und weil der Herzinfarkt einer Frau anders ist als der der Männer, ist auch die Diagnostik oft schwierig. Belastungs-EKGs beispielsweise, das weiß man jetzt, sind bei Frauen weniger aussagekräftig als bei Männern.

"Und das ist der Punkt, wo man sagen muss, da sollte man weiter untersuchen bei den Frauen, weitere Belastungsuntersuchungen machen, wie eine Stressechokardiographie oder ein Stresskernspin. Und wenn das dann Hinweise auf eine koronare Herzerkrankung ergibt, eben einen Herzkatheter durchführen."

Aber wieso ist denn das noch nicht ein Pflichtfach geworden. Also es ist doch wirklich wichtig für Mediziner, sowas zu wissen. Und Apotheker müssen sowas doch auch wissen.

Dass das bis jetzt noch nicht aufgegriffen worden ist, das ist schon schockierend.


Die Essener Forscherin Andrea Kindler-Röhrborn zuckt mit den Schultern.

"Das ist mir selber ein Rätsel, warum das so lange gedauert hat, bis man auf die Idee gekommen ist. Ich selbst, als ich studiert hab, habe nie etwas in dieser Richtung gehört. Und das ist etwas, was sich unbedingt verbessern muss. Uns interessiert wirklich, dass die Patienten im Hinblick auf ihr Geschlecht adäquat behandelt werden."

Und das gilt ausdrücklich auch für Männer, betont Andrea Kindler-Röhrborn.

"Denn auch Männer haben eine ganze Reihe von Defiziten in der medizinischen Versorgung. Wenn man zum Beispiel als Mann Osteoporose hat, hat man entsprechend schlechte Karten, denn da kommt erstmal keiner drauf. Ähnliches gilt für männlichen Brustkrebs, den es ja auch durchaus gibt. Die Intention ist, dass beide Geschlechter davon profitieren. Im Moment haben die Frauen einfach Nachholbedarf."
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