Frau Marty beschließt zu sterben

Von Jörn Florian Fuchs · 10.08.2011
In seiner Oper "Die Sache Makropulos" wirft der tschechische Komponist Leoš Janáček die Frage auf, ob ein immerwährendes Leben tatsächlich verlockend ist. Die Inszenierung des Stückes von Christoph Marthaler bei den Salzburger Festspielen war ein voller Erfolg - es passte einfach alles zusammen.
Jaja, Christoph Marthaler kennt das: Kaum betritt er zum Schlussapplaus die Bühne, gibt es ein Buhgewitter, in das sich freilich – meistens – auch etliche Bravos mischen. Überraschenderweise war das bei seiner Makropulos-Inszenierung deutlich anders. Das Publikum zeigte Marthaler überdeutlich, was es von ihm hält: sehr viel. Keine einzige Missfallensäußerung störte den Jubel. Warum so viel Sympathie für diese letzte szenische Opernpremiere in Salzburg? Ganz einfach: Weil hier auf wundersame Weise einmal alles zusammenpasst, ein nicht zu verrücktes Konzept, das einen weder über- noch unterfordert, die gut disponierten Wiener Philharmoniker unter Esa-Pekka Salonen und eine konsequent hochrangige Sängerbesetzung.

Marthaler und seine einschlägige Ausstatterin Anna Viebrock verlegen Janáčeks etwas statuarisches Konversationsstück in drei ineinander übergehende Räume. Links gibt es einen kleinen Aufenthaltsraum hinter Glas, rechts blickt man auf einen mehrfach nach hinten gespiegelten Wartesaal mit Pflanzenschmuck, mittig steht der Nachbau eines Gerichtssaals. Vor dem Beginn der Oper lässt Marthaler zwei Frauen – eine Alte mit Rollator und eine sehr adrette Jüngere – Teile aus Karel Čapek Theaterstück "Die Sache Makropulos" sprechen, allein die Damen bleiben stumm, sie sind nämlich hinter Glas positioniert und dem Zuschauer bleiben nur die Übertitel.

Schärfer als bei Janáčeks Veroperung ist die Vorlage Čapeks reich an philosophischen Diskursen über Lebensverlängerung sowie den Wert des Lebens an sich. Und es geht um folgende Frage: Wenn es ein Serum für langes Leben gibt, wer soll es erhalten? Sollte man die "besten" 1000 auswählen? Selektion, Eugenik, Elitenbildung – all das wird kurz und knapp und (panto-) mimisch verhandelt, bevor Janáčeks tiefgründige, aber auch spielerisch ungrüblerische Musik das Große Festspielhaus durchzieht. Die etwas seltsame Geschichte um eine 337 Jahre alte Sängerin, einen Erbstreitsprozess und ihre zunehmende Lebensunlust (die am Ende zur Vernichtung des Anti-Aging-Rezepts führt) erzählt Marthaler präzise, aber – zum Glück – reichlich lakonisch. Irgendwie ist das Ganze nämlich sehr wirr und man verliert bald die Lust an Emilia Martys weit verzweigtem Stammbaum: Auf Betreiben Kaiser Rudolfs des Zweiten trank sie einst ein das Alter stoppende Elixier und durchwanderte fortan die Jahrhunderte. Diverse Gatten und Affären und Amouren pflastern ihren Weg.

Angela Denoke verkörpert Emilia Marty alias Elina Makropulos mit warmem, glasklarem Timbre, erst trägt sie ein elegantes Kleid, das wie von Mondrian gestaltet wirkt (weiß, mit schwarzen Streifen, rechts oben prangt ein rotes Rechteck), später häutet sie sich zunehmend, die Stoffe werden immer dünner, bis nur ein Nachthemd übrig bleibt. Marty begegnet noch einmal ihren Lebensmenschen, darunter auch einem verrückt gewordenem Alten (exzellent: Ryland Davies). Nur zu ihm fühlt sie sich wirklich hingezogen. Das anfänglich Vitale, Femme-Fatalige löst sich dabei mehr und mehr in Sterbenslangeweile auf, bis Marty das Geheimrezept fürs faltenlose Altern einer jungen Sängerin schenkt, die es ganz cool verbrennt und sich dann eine Zigarette anzündet.

Während der großen Schlussszene wischt in Marthalers Inszenierung eine Putzfrau Staub, vorher musste ein dicker Pfleger die alte dünne Dame auf ihrem Wägelchen mehrfach einsammeln und brachte ihr danach ungefähr 15 Mal frische Blumen aufs Zimmer. Der Chor formierte sich mehrfach und kicherte, auch der Rest des Opernpersonals laborierte an Zuckungen und sonstigen Ticks.

Zu Marthalers wundersam abseitigen, doch zugleich irgendwie unverzichtbar wirkenden Bildideen und szenischen Zoten passt Esa-Pekka Salonens Dirigat perfekt, gerade weil er die Partitur mit einer kräftigen Bürste durchwalkt. Auch der Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Jörn H. Andresen) und die durchwegs hervorragenden Solisten (besonders zu erwähnen: Johan Reuter als Jaroslav Prus, Jochen Schmeckenbecher als Rechtsanwalt Kolenatý und Jurgita Adamonytė als Krista) sorgen für eine in jeder Hinsicht festspielwürdige Produktion.