Frankreichs Vertrauenskrise

Neustart ins Ungewisse

24:28 Minuten
Menschen schauen sich die Düsenjet-Performance am Nationalfeiertag auf dem Platz des Louvre an.
Auch in diesem Jahr flogen traditionell zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli wieder Militärmaschinen über Paris. © Getty Images / Aurelien Meunier
Von Jürgen König · 14.07.2020
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Bei Amtsantritt galt Präsident Macron als Hoffnungsträger eines EU-freundlichen Europa. Von dieser Hoffnung ist wenig übrig geblieben. Seine Reformagenda stieß auf großen Widerstand. Dann durchkreuzte auch noch die Coronapandemie seine Pläne.
Die traditionelle Militärparade zum Nationalfeiertag: Normalerweise findet sie vor dicht gedrängten Zuschauern auf den Pariser Champs-Élysées statt. Nicht in diesem Jahr: Coronabedingt gibt es an diesem 14. Juli nur eine militärische Feier auf der Place de la Concorde mit geladenen und auf Abstand gehaltenen Gästen aus Regierung, Parlament und Armee.


Als Ehrengäste sind die Gesundheitsminister Deutschlands, Österreichs, Luxemburgs und der Schweiz gekommen – ihre Einladung war eine Geste des nationalen Danks für die Hilfe, die ihre Länder Frankreich in der Coronakrise geleistet haben. Auch Ärzte und Pflegekräfte, die sich im Kampf gegen Corona in Krankenhäusern und Altenheimen besonders hervorgetan haben, nehmen dieses Jahr als Ehrengäste an der Feier teil.

Klatschen für das Krankenhauspersonal

Wochenlang waren jeden Abend, genau um 20 Uhr, im ganzen Land Zehntausende Franzosen auf ihre Balkone gegangen, um zu klatschen. Minutenlang galt ihr Beifall dem Personal in den Krankenhäusern, das unter schwierigsten Bedingungen arbeitete: die Zahl der Coronapatienten stieg und stieg, insbesondere im Osten Frankreichs und im Großraum Paris wurde die Lage bald immer dramatischer. Schon am 16. März wählte Präsident Macron in einer Fernsehansprache die Kriegsrhetorik eines Charles de Gaulle, um der Bevölkerung den Ernst der Lage zu verdeutlichen, um eine Ausgangssperre zu verkünden und ein Notprogramm für die Wirtschaft.
"Wir sind im Krieg. In einem Gesundheitskrieg – natürlich. Wir kämpfen nicht gegen eine Armee, nicht gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da. Er ist unsichtbar, er ist nicht zu greifen, aber er schreitet voran. Und das verlangt unsere Generalmobilmachung. Wir sind im Krieg. Wir werden die gesamte Arbeit der Regierung und des Parlaments auf den Kampf gegen die Epidemie ausrichten. Tag und Nacht! Nichts wird uns davon abhalten! Deshalb habe ich entschieden, dass alle laufenden Reformvorhaben ausgesetzt werden – angefangen mit der Rentenreform."


Montagelang hatte die geplante Rentenreform zuvor wütende Proteste und Streiks hervorgerufen. Sie auszusetzen bedeutete zumindest das vorläufige Ende von Macrons Reformkurs. Fortan trat er in mehreren Fernsehansprachen als eine Art oberster Feldherr auf, das eigentliche Regierungshandeln aber überließ er seinem Premierminister Édouard Philippe.
Ein komplett menschenleerer Boulevard in Paris Mitte März.
Menschenleere Magistrale in Paris Mitte März: In Frankreich herrschten während des Lockdowns strengere Ausgangsbeschränkungen als in Deutschland.© imago images/Hans Lucas/Nathan LainŽ
"Unsere gesamte Strategie beruht auf Befunden. Zunächst auf den medizinischen – und da ist die Botschaft einfach, und jeder Franzose muss sie in seinem Kopf haben: Wir werden mit dem Virus leben müssen. Es wird so bald keinen Impfstoff geben, es gibt im Moment keine wirksamen Behandlungsmethoden, und von der berühmten Gruppenimmunität sind wir weit entfernt. Das Virus wird sich weiterverbreiten – das ist nicht erfreulich, aber eine Tatsache."

Völlig unvorbereitet in die Krise hinein

Schnell zeigte sich, dass das Land der Coronakrise völlig unvorbereitet gegenüberstand: Es gab nicht genug Tests, die vorhandenen Schutzmasken reichten gerade für das Krankenhauspersonal, selbst Polizisten, Gendarme, Feuerwehrleute mussten wochenlang ohne Masken ihren Dienst verrichten – die Bevölkerung ging leer aus. Schon bald wurde offenkundig, dass das öffentliche Gesundheitssystem, auf das Frankreich immer stolz gewesen war, bald an seine Grenzen geraten würde: Es fehlten Intensivbetten, bald auch Personal. Gleichzeitig standen in privaten Krankenhäusern Betten leer, doch sie bekamen von den öffentlichen Notrufstellen oft keine Patienten zugewiesen: Die Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gesundheitssektor wird in Frankreich strikt gehandhabt.
Stattdessen wurden Patienten in Hochgeschwindigkeitszügen in öffentliche Krankenhäuser anderer Regionen und bald auch per Flugzeug in Nachbarländer transportiert. Die Schwächen des Gesundheitssystems wurden überdeutlich sichtbar – dass Deutschland währenddessen vergleichsweise glimpflich durch die Krise kam, wurde in Frankreich aufmerksam registriert. Nicolas Bauquet vom Institut Montaigne, einem politischen Thinktank in Paris:
"Der Staat wollte einfach alles machen, alles selber entscheiden. Und der Staat hat auch wirklich viel getan – was aber gefehlt hat, war die Fähigkeit, mit den anderen, auch mit den privaten Akteuren in der Krise wirklich zusammenzuarbeiten."

Die Ausgangsbeschränkungen waren hart und landesweit einheitlich. Abgesehen vom Gang zur Arbeitsstätte durften die Franzosen ihre Wohnungen und Häuser nur für täglich eine Stunde verlassen: um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen, um den Hund auszuführen oder Angehörige zu pflegen. Auch Joggen war erlaubt, aber nur vor 10 oder nach 19 Uhr. Für jedes Verlassen der Wohnung musste jeder Bürger unter Angabe der Uhrzeit eine eigenhändige Erklärung mit seinen persönlichen Daten bei sich führen; niemand durfte sich weiter als einen Kilometer von seiner Wohnung entfernen, die Polizei führte Kontrollen durch, verhängte millionenfach Bußgelder über jeweils 135 Euro. Die Bevölkerung reagierte relativ diszipliniert, wenn sich auch längst nicht alle an die Vorgaben hielten.
Eine alte Frau liegt mit Beatmungsgerät auf einer Liege und wird von zwei Personen in ein Krankenhaus gerollt.  
Permanent wurden am 19. März 2020 Patienten in ein öffentliches Krankenhaus in Straßburg eingeliefert. © picture alliance/dpa/Roses Nicolas/ABACA
"Es wird immer restriktiver, ich weiß bald nicht mehr, wie ich das aushalten soll!"
"Ich frage mich, wie effizient diese Maßnahme sein soll. Wenn man tagsüber das Joggen verbietet – dann versammeln sich alle Jogger halt abends um 19 oder 22 Uhr!"
In seinen Ansprachen machte Präsident Macron der Bevölkerung immer wieder Mut und beschwor die Einigkeit der Nation.
"Was ich in diesem Moment erlebe, meine lieben Landsleute, ist, dass unsere Nation sich aufrecht hält, solidarisch ist – mit einem gemeinsamen Ziel."
Mit Andeutungen bereitete der Präsident seine "lieben Landsleute" auf schwere Zeiten vor.
"Was wir gerade erleben, ist ein Schock, für jeden Einzelnen und für uns alle zusammen. Wir werden daran erinnert, wie verwundbar wir sind – wir hatten es schon vergessen. Suchen wir nicht wieder die alten Gewissheiten, nein, sie sind dahin: Wir alle müssen uns ändern – und ich als erstes."

Widersprüche und führungsschwache Regierung

Doch die Reden des Präsidenten hatten in der Öffentlichkeit nur mäßigen Erfolg. Nach einer Umfrage des renommierten IFOP-Instituts vertrauten zu Beginn der Krise im März noch rund 55 Prozent der Franzosen ihrer Regierung, dieser Wert sank schon im April auf 39 Prozent. Grund dafür waren auch die oft widersprüchlichen Angaben und Ankündigungen: Hatte es erst geheißen, die Schulen bleiben offen, wurden sie dann doch sehr schnell geschlossen. Hieß es zunächst, Masken seien überflüssig, waren sie, nachdem aus China Masken eingeflogen worden waren, plötzlich zwingend erforderlich. Sollte die Ausgangssperre zunächst nur in einzelnen Gebieten gelockert werden, wurde dann doch eine landesweit einheitliche Regelung bevorzugt.
Schnell entstand der Eindruck, die Regierung sei unsicher, wenn nicht ratlos in ihrem Handeln, entsprechend sank ihr Ansehen bei den Franzosen – die nun erst recht allabendlich auf die Balkone traten, um denen zu applaudieren, die in Krankenhäusern und Supermärkten, bei Polizei und Feuerwehr ihren Dienst taten.

Auch dass Frankreich ein Zentralstaat ist, erwies sich in der Coronakrise zunehmend als Problem. Dass etwa die zu Ostern schon überfüllten Strände der Côte d’Azur gesperrt wurden, wurde von der Bevölkerung sofort akzeptiert, nicht aber, dass auch niemand die im April kühlen und menschenleeren Strände der Bretagne betreten durfte. In den östlichen Landesteilen, etwa im Elsass, wo die Infektionszahlen besonders hoch waren, drängte man auf regionale Lösungen.
Menschen stehen am Fenster und klatschen.
Menschen klatschen am 1. April in Paris Beifall für das medizinische Personal in den Krankenhäusern.© imago images/Hans Lucas/Omar Havana
Sah sich aber immer wieder mit dem Anspruch der Zentralregierung konfrontiert, von Paris aus alle Entscheidungen treffen zu wollen, oft verbunden mit tagelangen Verzögerungen, mit Maßnahmen, die sich als ineffizient erwiesen. So geriet nach und nach auch das Zentralstaatsprinzip in die Kritik – und wieder schaute man auf Deutschland, wo – so die allgemeine Wahrnehmung – der Föderalismus ganz andere Möglichkeiten bot, schnell zu reagieren, den örtlichen Gegebenheiten angemessen. Nicolas Bauquet vom Institut Montaigne:
"Frankreich ist in einem Übergangsstadium. Der Zentralismus ist immer noch sehr ausgeprägt, alle wesentlichen Entscheidungen werden von der Regierung in Paris getroffen. Gleichzeitig hat sich das System längst weiterentwickelt. Die Regionen, die Départements, die Bürgermeister haben an Einfluss gewonnen – und die Krise hat gezeigt, dass Frankreich inzwischen ein bisschen was von beidem ist. Die Zentrale kann die Krise nicht mehr alleine im ganzen Land lösen, die lokalen Akteure aber sind noch nicht wirklich Partner des Staates geworden."

Ungleiche Behandlung von Kulturschaffenden

Das kulturelle Leben Frankreichs erlebte von Mitte März an einen völligen Stillstand – für viele Beschäftigte mit existenzbedrohenden Folgen. Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich nur wenige feste Orchester, Chöre und Ballettkompanien sowie nur ein einziges wirkliches Ensembletheater, die Comédie-Française in Paris. Die meisten Bühnen arbeiten überwiegend mit Freiberuflern, den "intermittants du spectacle".
Diese etwa 300.000 Schauspieler, Musiker, Sänger, Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner, Bühnen- und Tontechniker sind normalerweise gut abgesichert. Wer 507 Arbeitsstunden jährlich nachweisen kann, bekommt für den Rest des Jahres anteilig Arbeitslosenunterstützung vom Staat. Um auf diese Stundenzahl zu kommen, sind die Sommerfestivals entscheidend – doch genau die wurden ebenfalls ausnahmslos abgesagt.
Zunächst reagierte die Regierung schnell. Schon am 18. März wurde ein Soforthilfefonds von 22 Millionen Euro für die Kultur aufgelegt. Zehn Millionen gingen an die Musikbranche, fünf Millionen an die darstellenden Künste, fünf Millionen in den Buchsektor und zwei Millionen in den Bereich Bildende Kunst. Kulturminister Franck Riester im Kulturausschuss des Parlaments:
"Wir haben einen Solidaritätsfonds von bis zu sieben Milliarden Euro für Kleinunternehmen eingerichtet und damit auch für Künstler und Autoren; und es wird zusätzliche Gelder und begleitende Absicherungen für freiberufliche Künstler geben, insbesondere für die freien Theatergruppen und die kleinen Bühnen – der genaue Plan wird in den nächsten Wochen bekannt gegeben – darum hat uns der Präsident gebeten."
Doch als bekannt wurde, dass einzelne Industriezweige jeweils Milliardenhilfen erhalten würden, kam in der Kulturbranche langsam Unmut auf – Franck Riester legte nach.
"Uns ist völlig klar, dass unsere angewandten Mittel nicht die gesamte Problematik der Kulturszene umfassen. Wir sind in ständigem Austausch, wir haben verschiedene Arbeitskreise gebildet, was die Festivals betrifft, die Museen und Theater, die bildenden Künstler, die Kunsthandwerker, die Buchbranche – für all diese Bereiche haben wir Nottelefone eingerichtet, Anlaufstellen im Internet – mit kompetentem Personal, die Rat geben und Hilfe organisieren können – vor allem da, wo die bisherigen Mittel nicht ausgereicht haben."

"Wir sind die Vergessenen der Pandemie!"

Trotz dieser Zusicherung weiterer Unterstützung blieb es dann doch lange nur bei den ursprünglich beschlossenen Maßnahmen: Franck Riester infizierte sich mit dem Coronavirus, und mit ihm verstummte auch sein Ministerium – sechs Wochen lang. Schon damals entstand in der Kulturszene der Eindruck, dass die Regierung so ziemlich alle Franzosen mit Rettungsplänen bedachte – nur Künstler und Musiker nicht, Museums- und Theaterleute.
Als Premierminister Édouard Philippe am 28. April in der Nationalversammlung seine Strategie zu ersten Lockerungen der Corona-Beschränkungen vorstellte, war viel von Maskenpflicht und Abstandsregelungen die Rede, auch von neuen Begegnungsmöglichkeiten, von Milliardenhilfen für Krankenhäuser, Pflegeheime, für ganze Industriebranchen.
Nur ein Bereich fehlte völlig: die Kultur. Nicht ein einziger Hinweis fand sich in der Rede, wie es mit den 1,3 Millionen Beschäftigten in der Kulturwirtschaft, die jährlich rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, weitergehen solle. Daraufhin wandten sich 230 Kulturprominente von Cathérine Deneuve bis Patrick Bruel mit einem Offenen Brief an Staatspräsident Emmanuel Macron.
"Wie sollen freiberufliche Künstler nach der beschlossenen dreimonatigen Verlängerung des sanitären Notstands weiterhin Lebensmittel kaufen können? Was sollen die Autoren machen, die gar keine Unterstützung erhalten? Wir sind die Vergessenen der Pandemie! Herr Präsident, machen Sie dieses Vergessen der Kunst und Kultur wieder wett."

Erfolg durch Protest

Die Unterzeichner forderten nicht nur Finanzhilfen ein, sondern auch eine Perspektive. Der Präsident reagierte mit einer Videokonferenz, lud Künstler und Kulturvertreter sowie hochrangige Minister dazu ein – und das Treffen brachte handfeste Ergebnisse. Die "intermittants du spectacle" werden ihre Arbeitslosenentschädigung auch ohne Stundennachweis bis August 2021 erhalten, Autoren für vier Monate von Sozialabgaben befreit.
Für Künstler unter 30 Jahren soll es öffentliche Aufträge geben: in den Bereichen Bildende Kunst, Tanz, Theater und Literatur. Für die Film- und Fernsehbranche wird ein Entschädigungsfonds von 50 Millionen Euro aufgelegt: für Drehtage, die wegen der Krise abgesagt werden mussten. Nach den Worten des Präsidenten wird das Geld in Einzelfallentscheidungen zugewiesen. Die Autorin und Schriftstellerin Emmelyne Octavie:
"Die Regierungsmaßnahmen sind ein bisschen verwirrend. Gut ist, dass die Leiter der Theatergruppen jetzt das Nötige tun können, auch gibt es für Künstler Kurzarbeitergeld für ausgefallene Vorstellungen – aber naja, im Moment warten wir alle ab, wie es weitergeht."

Nach und nach bekam die Regierung die Entwicklung in den Griff, die Infektionszahlen sanken. Gleichzeitig wuchs die Ungeduld in der Bevölkerung. Mit den geschlossenen Schulen waren auch die kostenlosen Mahlzeiten der Schüler weggefallen, was für viele Familien zum existenziellen Problem wurde. Die Warteschlangen vor den öffentlichen Lebensmittelausgaben wurden immer länger. Die Coronakrise machte plötzlich sichtbar, dass 40 Prozent der Familien in Sozialbauvierteln in Armut leben.
An mehreren Ständen wird Essen an Menschen ausgegeben.
Essenausgabe einer Hilfsorganisation am 22. April in Paris. © imago images/Le Pictorium/Adrien Vautier
In den oft sehr kleinen Wohnungen der Großstädte hatte zudem die Zahl häuslicher Gewalttaten erheblich zugenommen, in den sogenannten "quartiers populaires", den bevölkerungsreichen Vorstädten, gab es immer öfter Spannungen, Auseinandersetzungen auch mit der Polizei bis hin zu Straßenkämpfen. Acht Wochen, nachdem die Ausgangssperren verhängt worden waren, wurden sie am 11. Mai zum ersten Mal gelockert – auch die Züge der Pariser Métro füllten sich langsam wieder.
"Letzte Woche waren alle noch sehr undiszipliniert, hielten Abstände nicht ein und kaum einer trug die Maske, jetzt ist es anders, heute hat alles sehr gut geklappt!"
"Es ist sehr viel besser geworden, auch für mich als Blumenhändler. Die Kunden kamen wieder, gleich in der ersten Woche!"

Milliardenhilfe und ein vermeintlich selbstkritischer Präsident

Mit dem Wiederbeginn des öffentlichen Lebens wurden die Folgen der Coronakrise allmählich sichtbar. Insgesamt fast 500 Milliarden Euro brachte der Staat auf, um besonders betroffene Wirtschaftsbranchen zu stärken, Kurzarbeit zu finanzieren, Einnahmeausfälle zu kompensieren, Sozialhilfe zu leisten; rund 200 Sozialpläne wurden ausgearbeitet. In seiner Rede am 14. Juni zeigte sich Präsident Macron optimistisch und versprach, diese Ausgaben nicht durch Steuererhöhungen zu finanzieren: stattdessen werde man ein "nachhaltiges Wirtschaftsmodell" aufbauen.
Emmanuel Macron: "Die Zeiten erfordern einen neuen Weg. Jeder von uns muss sich neu erfinden, wir müssen vieles gemeinsam anders machen, und das gilt auch und in erster Linie für mich."

Immer wieder machte der Präsident Anspielungen, wonach auch er sich "neu erfinden" müsse – und ließ doch immer offen, was er damit meinte. Einen grundlegenden Wirtschafts- und Sanierungsplan hat die Regierung bis heute nicht vorgelegt. Das lag zum einen an Macrons Überlegungen, die Regierung umzubilden, dazu wiederum wollte er den Ausgang der Kommunalwahlen abwarten, deren zweiter Durchgang wegen der Coronakrise auf den 28. Juni verschoben werden musste.
Ein Mann zieht zieht ein verkniffenes Gesicht.
Der französische Präsident Emmanuel Macron blickt mit seinen politischen Entscheidungen schon auf die kommende Wahl 2022. © picture alliance/dpa/Reuters/AP Images/Gonzalo Fuentes
Die Ergebnisse dieser Wahl waren niederschmetternd für den Präsidenten. Sein wichtigstes Ziel hatte er nicht erreicht: seiner Partei "La République en marche" und damit auch sich selbst im Land endlich eine breite Basis zu verschaffen. Nicht mal in Paris, der Hochburg der "Macronie", gelang es, die Wiederwahl der Sozialistin Anne Hidalgo zu verhindern.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gab oft parteiinternen Streit und es fehlten Führungspersönlichkeiten. Die großen Sieger der Wahl waren die Grünen. Sie und mit ihnen verbündete Parteien gewannen die Bürgermeisterämter großer Städte wie Lyon, Marseille, Bordeaux, Straßburg und Grenoble. Die stellvertretende Generalsekretärin der französischen Grünen, Sandra Regol, im Sender France 2:
"Durch dieses Wahlergebnis bekommen die Grünen in Frankreich eine enorme Verantwortung. All die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die jetzt in den großen Städten, aber auch auf dem Land, gewählt wurden, werden die große Aufgabe, den ökologischen Umbau des Landes, wirklich vorantreiben müssen. Die traditionellen Parteien wurden dieser Aufgabe nicht gerecht. Wir müssen jetzt tun, was nötig ist: den Franzosen andere Wege vorschlagen."

Neuer Regierungsweg – nach rechts

Mit seiner Regierungsumbildung Anfang Juli wurde der "neue Weg" des Präsidenten zum ersten Mal erkennbar. Er schwenkte um auf einen entschiedenen Rechtskurs. Der eigenwillige, in der Bevölkerung beliebte Premierminister Édouard Philippe wurde entlassen, mit Jean Castex machte Macron einen Vertrauten des früheren, immer noch vielfach geschätzten konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Premierminister. Auch Gerald Darmanin, der vom Haushalts- ins Innenressort wechselte, ist ein "Sarkozy-Mann", die neue Kulturministerin, die 73-jährige Roselyne Bachelot, war dessen erfolgreiche Gesundheitsministerin.
Macrons Strategie zielt – mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2022 – ganz offensichtlich auf Sarkozys Wählerklientel. Einen Linksschwenk, wie ihn viele erwarteten, hätte ihm ohnehin kaum ein Franzose wirklich abgenommen, zumal Olivier Faure, der Parteichef der Sozialisten, bereits angekündigt hat, unbedingt ein Wahlbündnis mit den Grünen anzustreben. Also positioniert sich Macron schon jetzt im bürgerlich-konservativen Lager und kann damit obendrein auch die Wählerschaft des Rassemblement National um Marine Le Pen umwerben.
Jean Castex, ein in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Verwaltungsbeamter und Regionalbürgermeister, ein Managertyp, loyal und effizient – er wird den Präsidenten wohl nicht daran hindern, die Regierungsführung und damit seine politische Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Gleich bei seiner Amtseinführung zeigte sich Castex als treuer Sachwalter seines neuen Chefs:
"Heute hat, durch die Entscheidung des Präsidenten, eine neue Phase seiner Präsidentschaft begonnen. Sie wird weitgehend bestimmt durch einen Kontext, der auch für ihn neu ist. Die Prioritäten werden neu zu bestimmen sein, die Methoden werden angepasst. Und wir müssen mehr als jemals zuvor die Nation wieder einen, um gemeinsam gegen diese Krise zu kämpfen, die uns im Griff hat."

Worin die "neuen Prioritäten" und "angepassten Methoden" bestehen sollen, ist im Moment nicht zu erkennen. In einem Zeitungsinterview sprach Macron vom "Wiederaufbau des Landes", er beträfe zuallererst die Wirtschaft, schon im Herbst würden bis zu 900.000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt kommen und "möglicherweise vor verschlossenen Türen stehen".
Ein Mann im Anzug und Brille guckt ernst.
Managertyp und Macronvertrauter: Der neue französische Premierminister Jean Castex am 13. Juli in Paris. © picture alliance/dpa/Hamilton/Pool/ABACA
Im Zentrum der Anstrengungen, so Macron, stünden auch das Soziale, die Kultur und der Umweltschutz. Die Ökologie werde künftig "im Mittelpunkt der französischen Wirtschaftspolitik" stehen. Was Macron genau damit meint, sagte er bisher nicht, von konkreten Plänen ganz zu schweigen. Immerhin: Nach neuen Zahlen des französischen Statistikamtes ist die konjunkturelle Lage nicht so schlimm wie befürchtet. Durch das umfangreiche Kurzarbeitergeld hätten die Haushalte ihre Kaufkraft behalten, die Konsumfreude sei da, im dritten Quartal sei mit einem "kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung" zu rechnen.
Inwieweit der Präsident zu seinem früheren Reformkurs zurückkehren könnte, ist ebenfalls nicht abzusehen, auf die Rentenreform werde man auf jeden Fall zurückkommen, hieß es. Der deutsche Botschafter in Frankreich, Nikolaus Meyer-Landrut, sieht den Reformer Macron durchaus nicht als gescheitert an.
"Ich würde erst mal doch sagen, die Reformen, die zu Beginn gemacht worden sind, im Arbeitsrecht, bei der Unternehmensbesteuerung, bei Ausbildungsfragen, beim Universitätszugang – die werden ja weiter ihre Wirkung entfalten. Ach wenn sie vielleicht erst verzögert sichtbar werden. Die Bedeutung dieser Reformen darf man auf gar keinen Fall vernachlässigen."

Angela Merkel soll es mit richten

Große Hoffnungen setzt Macron auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, insbesondere auf den mit Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam entwickelten EU-Wiederaufbaufonds – bis zu 40 Milliarden Euro könnte Frankreich durch das Programm erhalten. Nikolaus Meyer-Landrut:
"Denken Sie zurück an die Rede, die Präsident Macron zu Beginn seiner Präsidentschaft an der Sorbonne gehalten hat, im September 2017. Da hat er von einer Neubegründung der Europäischen Union gesprochen, da hat er von einem Eurozonen-Budget gesprochen, also von großen Projekten zur Europäischen Union, die er innerhalb seiner Amtszeit erreichen will. Und ich glaube, er sieht die deutsche Präsidentschaft jetzt schon als einen Schlüsselmoment auch in seinem Mandat, um mit diesen großen Vorstellungen, wie Europa sich weiterentwickeln soll, einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Für ihn endet der Zyklus sozusagen mit der französischen Präsidentschaft dann im ersten Halbjahr 2022 – was gleichzeitig das Halbjahr ist, in dem in Frankreich wieder Präsidentschaftswahlen anstehen."
Die Wirtschaft wiederbeleben; die Kulturlandschaft neu aufbauen, die steigende Arbeitslosigkeit eindämmen – und die daraus resultierenden wachsenden sozialen Spannungen. Das Gesundheitswesen von Grund auf modernisieren, den Umwelt- und Klimaschutz zur zentralen Aufgabe machen, das gesamte System des Zentralismus hinterfragen. Die Herausforderungen, vor denen Frankreich steht, sind gewaltig. Präsident Macron bleiben noch zwei Jahre, um sie zu bewältigen.
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