Frankreich und der strahlende Sieger Macron

"Der Wunsch nach Erneuerung war da"

Der französische Präsident Emmanuel Macron (l.) hat seine Stimme bei der zweiten Runde der Parlamentswahl in Le Touquet am Ärmelkanal abgegeben. Anschließend machte er Fotos mit Anhängern.
Selfies mit Anhängern: der neue, starke Mann Frankreichs Emmanuel Macron © picture alliance/dpa - MAXPPP
Thomas Serrier im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.06.2017
Macron hat gewonnen - erst die Wahl zum Präsidenten, jetzt die zur Nationalversammlung. Laut dem französischen Historiker Thomas Serrier hatten seine Landsleute einen "Wunsch nach Erneuerung" - und Macron selbst auch ein Quäntchen Glück.
Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron hat nun auch die Parlamentswahl gewonnen, die absolute Mehrheit ist ihm sicher. Nach der zweiten Runde am Sonntag kam seine Partei La Republique en Marche nach Auszählung fast aller Stimmen auf 291 von insgesamt 577 Sitzen in der Nationalversammlung. Zusammen mit der Partei Modem, mit der Macron ein Bündnis eingegangen war, hat dieser jetzt bis zu 365 Sitze sicher und damit genug Rückendeckung für Reformen.
Kann Macron damit vielleicht sogar zu mächtig werden? Und wird er heftig von links bekämpft werden? Der französische Historiker Thomas Serrier sagte dazu im Deutschlandfunk Kultur, es sei in Frankreich immer ein Problem, wenn es zu großen Mehrheiten komme - dann verlagere sich die Opposition auf die Straße und es komme zu Streiks.

Auch die Arbeitnehmerschaft will Reformen

Dieses Mal, glaubt Serrier, könnte sich die Situation anders darstellen. Denn vor einigen Monaten habe es in Frankreich bereits Betriebsratswahlen gegeben, und zum ersten Mal hätten sich hier die reformorientierten Kräfte durchgesetzt - und nicht wie üblich die auf Blockade bedachten Kommunisten:
"Das zeigt, dass auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft die Akzeptanz oder die Einsicht, dass Reformen nötig sind, größer geworden ist."
Nach Ansicht von Serrier wollten die Franzosen das alte Parteiensystem mit der Wahl Macrons und seiner Partei überwinden. "Dieser Wunsch nach Erneuerung war da", betonte er. Man dürfe aber auch nicht vergessen, dass Macron "einen Hauch Glück" gehabt habe. Hätte der konservative Kandidat Fillon bei den Präsidentschaftswahlen nicht die Korruptionsaffäre am Hals gehabt - wer weiß, ob Macron überhaupt in die Stichwahl gekommen wäre, so Serrier.

(ahe)

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Der Morgen nach der zweiten, der entscheidenden Runde der Parlamentswahlen in Frankreich: Ja, die Wahlbeteiligung war sehr gering, ja, der Sieg des Parteienbündnisses rund um "La République en Marche" war nicht ganz so groß, wie manche es vorhergesagt haben. Aber das ändert ja nichts, das Ergebnis ist eindeutig: Das Parteienbündnis von Emmanuel Macron hat die absolute Mehrheit.
Und nun sagen natürlich viele in Frankreich und anderswo schon, jetzt kann dieser Präsident durchregieren. Kann er das wirklich, und was genau bedeutet das? Darüber wollen wir jetzt mit Thomas Serrier reden, französischer Historiker und Germanist. Schönen guten Morgen, Herr Serrier!
Thomas Serrier: Schönen guten Morgen!
Kassel: Hat jetzt tatsächlich Emmanuel Macron die Möglichkeit, durchzuregieren? Glauben Sie, dass er all seine Reformvorhaben jetzt problemlos durchkriegt?
Serrier: Sie haben es ja gerade gesagt, das ist ja dem französischen Wahlsystem zu einem großen Teil geschuldet, dass er durch dieses Stichwahlsystem jetzt zu einer deutlichen Mehrheit gekommen ist. Man hat in Frankreich mit 297, glaube ich, Sitzen im Parlament die Mehrheit, und er hat jetzt 350 erreicht. Das ist jetzt nicht mehr in Frage zu stellen.
Das war natürlich auch bei der Bewegung von Macron noch mal dadurch erleichtert, dass sie diese mittlere Position übernommen hat zwischen links und rechts, sodass beide Flügel in diesen Stichwahlen immer für ihn gewählt haben. Also im Parlament hat er jetzt diese Mehrheit.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Tag der zweiten Runde der Parlamentswahl am Mont Valérien. Dort wurde an den Widerstandsaufruf von General Charles de Gaulle am 18. Juni 1940 erinnert.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Tag der zweiten Runde der Parlamentswahl am Mont Valérien. Dort wurde an den Widerstandsaufruf von General Charles de Gaulle am 18. Juni 1940 erinnert.© picture alliance/dpa - Olivier Corsan
Es ist, wie man von Frankreich weiß, natürlich immer ein Problem, wenn durch dieses System, was ja von De Gaulle geerbt wurde, es zu einer großen Mehrheit kommt, dann verlagert sich sehr oft, so auch das Klischee von Deutschland und den Nachbarländern, die Opposition auf die Straße, in die Streiks, und so weiter, und so fort.

Reformorientierte Gewerkschaft bei Betriebsratswahlen vorn

Da würde ich gern einen Schritt zurückgehen, das war ein paar Monate schon vor den Präsidentschaftswahlen und vor den Parlamentswahlen, da fanden die Betriebsratswahlen in Frankreich statt, und zum ersten Mal hat die reformorientierte CFDT diese Betriebsratswahlen gewonnen und nicht, wie üblich und wie seit Jahrzehnten, die CGT. Also stereotyp und etwas klischeeartig gesehen, nicht die auf Blockade bedachte CGT, sehr linksorientiert und altkommunistisch geprägt, sondern die reformorientierte CFDT. Das zeigt, dass auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft die Akzeptanz oder die Einsicht, dass Reformen nötig sind, größer geworden ist.
Kassel: Nun ist ja nicht nur Emmanuel Macron selbst jemand, der sich dieser Rechts-Links-Einordnung widersetzt, das auch gar nicht möchte, sondern das gilt ja auch für die Abgeordneten seiner Partei, "La République en Marche". Die werden zu einem ziemlich großen Teil aus Leuten bestehen, diese Fraktion wird aus Leuten bestehen, die keine Erfahrung im Politikbetrieb haben. Was überwiegt da für Sie? Der Vorteil oder der Nachteil? Weil das wird ja auch die Arbeit von Macron manchmal sicherlich erschweren.
Serrier: Man muss gefasst sein und das natürlich mit Vorsicht beobachten. Es wird sicherlich Fehler und Fehlerchen geben, wie ein Diplomat, der zum ersten Mal das internationale Parkett betritt. Das wird jetzt für viele neue junge Abgeordnete der Fall sein.
Ich habe heute früh im französischen Radio gehört, die Verjüngung um fünf Jahre, viel weniger Rentner zum Beispiel, mehr als 400 von den 577 sind ganz neu im Parlament, das sind vier Fünftel des Parlaments. Diese Unerfahrenheit ist schon da.
Trotzdem ist es, glaube ich, ein Aspekt, dem die Franzosen jetzt zugestimmt haben, diese Erneuerung, diese Überwindung des alten Parteiensystems mit dieser Aufteilung zwischen Les Républicains, früher UMP oder RPR auf der konservativen Seite und den Sozialisten auf der linken Seite.

Köpfen ohne Guillotine

Kassel: Ich habe in deutschen Zeitungen durchaus im Zusammenhang mit diesen Wahlen und auch schon der Präsidentenwahlen wirklich die Überschrift gelesen, das sei die zweite große französische Revolution. Ich unterstelle mal, mit der ersten war dann die von 1789 gemeint, und da frage ich mich, kann man das wirklich vergleichen? Ich meine, es passiert sehr viel zurzeit in Frankreich, aber wird dieses Land wirklich in drei, vier Jahren vollkommen anders aussehen als jetzt?
Serrier: Muss man natürlich abwarten. Das ist natürlich eine Anspielung auf die Art und Weise, wie sich Macron selbst profiliert hat. In einem programmatischen Buch hat er auch das Schlagwort und den Begriff "Revolution" in den Vordergrund gestellt. Und viele seiner Kandidaten jetzt bei den Parlamentswahlen haben auch von diesem Schlepptau oder diesem Rückenwind profitiert, einfach alte Köpfe, alte Kandidaten, alte Abgeordnete auch irgendwie zu köpfen.
Natürlich hat man in Frankreich nicht die Neigung, das mit der großen Revolution zu vergleichen, aber dieser Wunsch nach Erneuerung war da.
Man darf auch auf der anderen Seite nicht vergessen, dass er einen Hauch Glück gehabt hat. Wäre nicht diese Korruptionsaffäre bei den Präsidentschaftswahlen um den konservativen Kandidaten Fillon gewesen – wer weiß, ob er selbst in die Stichwahl gekommen wäre. Aber jetzt hat er natürlich diese Dynamik entwickelt, sowohl bei seiner Wahl bei den Präsidentschaftswahlen als auch jetzt diese Bestätigung bei den Parlamentswahlen.
Kassel: Immerhin, eines können wir jetzt schon positiv feststellen. Diesmal ist man die alten Köpfe losgeworden ohne Guillotine, das kann man jetzt schon sagen. Herzlichen Dank. Thomas Serrier war das, Historiker und Germanist mit einer ersten Analyse des Wahlergebnisses von gestern Abend, einem Ergebnis, das nicht nur die Franzosen, sondern sicherlich auch uns hier im Programm noch intensiv beschäftigen wird in nächster Zeit. Herr Serrier, vielen Dank für heute Morgen!
Serrier: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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