Frankreich

Ein ehemaliger Kommissar kämpft gegen Antisemitismus

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Porträtaufnahme Sammy Ghozlan: ein älterer Mann mit weiß-grauem Haar und Schnurrbart und dunkler Jacke.
Die Verfolgung antisemitischer Straftaten hat sich der pensionierte Polizist Sammy Ghozlan zur Lebensaufgabe gemacht. © Bettina Kaps
Von Bettina Kaps · 07.05.2019
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Bedroht, beschimpft, angegriffen: Immer häufiger werden Juden in Frankreich Opfer antisemitischer Straftaten. Allein im vergangenen Jahr waren es 541. Das "Büro zur Wachsamkeit gegen Antisemitismus" kämpft dafür, dass diese Taten auch geahndet werden.
Deborah gibt sich kämpferisch, wenn es um ihr Judentum geht. Die 39-Jährige erzählt aufgeregt, wie sie sich einen Clochard vom Leib gehalten hat. Der Mann habe sie beim Warten auf die Metro als "dreckige Jüdin" beschimpft. Zum Beweis zieht sie ihre Strafanzeige aus der Tasche:
"Keine Ahnung, wie er meinen Davidstern gesehen hat – ich verdecke ihn immer mit meinem Schal. 'Ihr Juden beherrscht die Welt, ihr seid eine dreckige Rasse', hat er gerufen. Bei einer ängstlichen Frau wäre der Mann vielleicht sogar handgreiflich geworden. Aber der hat an meinem Blick gesehen: Wenn er mich schlägt, haue ich zurück."

Die Vorfälle dürfen nicht zu den Akten gelegt werden

Ihr erster Reflex nach dem Angriff: Das "Büro zur Wachsamkeit gegen Antisemitismus" einschalten. Jetzt sitzt sie mit Sammy Ghozlan, Gründer und Leiter des Selbsthilfevereins, in einem Pariser Café. Ghozlan studiert die Strafanzeige.
Die Polizisten haben den antisemitischen Charakter des Angriffs aufgenommen, stellt er zufrieden fest. Aber die Anzeige allein genügt wahrscheinlich nicht, sagt er.
"Haben Ihnen die Polizisten die Aufnahmen der Überwachungskameras gezeigt? Darüber könnte man den Täter ausfindig machen. Wir werden die Sicherheitsdirektion der Verkehrsbetriebe kontaktieren."
Ghozlan blickt besorgt, wirkt mitfühlend, aber auch durchsetzungsfähig. Als ehemaliger Polizeikommissar weiß er genau, welche Hebel er einsetzen muss, damit ein Vorfall wie dieser nicht zu den Akten gelegt wird.
Eine Frau mit dunklen Haaren reicht einem älteren Mann mit grauen Haaren und Schnauzbart die Hand
Deborah Harros wurde Opfer eines antisemitischen Angriffs und hat sich an Sammy Ghozlans Organisation gewandt. © Bettina Kaps
Der 77-Jährige verlässt das Café und geht zurück in sein Büro. Der Weg führt durch das Viertel Belleville im Nordosten der Stadt. Ghozlan zeigt auf die Läden zu beiden Seiten der Straße:
"An dieser Stelle war früher ein großes koscheres Restaurant, daneben ein koscherer Lebensmittelladen. Auch die jüdische Bäckerei und der Metzger sind weg", sagt er. "Die Juden fühlen sich hier nicht mehr wohl. Jedesmal, wenn es im Nahen Osten kracht, haben sie Angst vor neuen Zwischenfällen."
Der Nahost-Konflikt schwappt regelmäßig nach Frankreich über. Viele Franzosen solidarisieren sich mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten, manche lassen Empörung und Wut an Juden aus. Für Ghozlan sind Kritik am Staat Israel und Boykott-Aufrufe Vorstufen zum Antisemitismus.

Spiritus im Kinderwagen

Der Selbsthilfe-Verein ist in den Räumen des scharf bewachten Konsistoriums untergebracht, das die religiösen Angelegenheiten der Juden in Paris verwaltet. Drei grauhaarige Männer mit Kippa sitzen an Computern und schauen die jüngsten Opfer-Meldungen durch. Einer von ihnen, Pierre Zimbris, öffnet ein Foto. Zu sehen ist eine schwarze Filzzeichnung. Zimbris liest vor:
"Wir sind fünf jüdische Familien, die in der Pariser Vorstadt Champigny wohnen. Wir alle haben einen beunruhigenden Brief erhalten: Ein DIN-A-4- Blatt mit einem Koffer und einem Sarg."
Nur bei Juden lag diese unverhüllte Drohung im Briefkasten, betont Zimbris, nicht bei den übrigen Bewohnern des Gebäudes:
"Oder hier, das ist auch heftig: ein Kinderwagen. Da hat jemand Spiritus rein gegossen. Als das Baby hinein gesetzt wurde, hat seine Haut fürchterlich gebrannt."
Auf dem Bildschirm erscheint ein Baby mit Windel. Die Haut an Bauch und Oberschenkeln ist krebsrot. Der Vater des Kindes sei ein Rabbi, sagt Ghozlan. Heute würden sogar Juden angegriffen, die nicht als solche erkenntlich seien.

Ghozlans Eifer eckt an

Ghozlan kann stundenlang berichten, wie und wo Juden in Frankreich beleidigt, schikaniert und tätlich angegriffen wurden. Sein Eifer eckt an, sogar in der eigenen Gemeinschaft. Der Dachverband der Juden in Frankreich etwa hält Distanz zu seinem Verein:
"Sie denken wohl, dass ich übertreibe und die jüdische Bevölkerung in Panik versetze", vermutet er. "Dabei mache ich nur publik, was wirklich passiert. Die Regierung kann nur dann Maßnahmen ergreifen, wenn sie weiß, wie es vor Ort zugeht."
Er zieht die Baseballkappe über die Kippa, bricht auf. Eine Mutter hat ihn um Hilfe gebeten, weil ihr Sohn von jungen Männern mit Messern bedroht worden ist. Die Familie will so schnell wie möglich umziehen, sagt Sammy Ghozlan. Aber sie weiß nicht, wohin. Selbst das Exil sei für französische Juden kein Ausweg mehr.
"Der israelische Staat war nicht auf der Höhe, als die vielen Einwanderer aus Frankreich kamen", so Ghozlan. "Er hat sie nicht aufgefangen. Viele Juden sind sehr verängstigt, weil ihnen das, was früher als Lösung erschien, heute nicht mehr möglich ist."
Ghozlan spricht aus Erfahrung: Er wurde selbst bedroht, sein Auto ging in Flammen auf. Deshalb ist er vor vier Jahren nach Israel ausgewandert. Aber alle paar Wochen kommt er zurück nach Paris - um den Antisemitismus zu bekämpfen.
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