Frank Witzels neuer Roman "Direkt danach und kurz davor"

"Ich weiß selbst nicht, ob ich alles verstanden habe"

Der Schriftsteller Frank Witzel steht lässig in einem Hauseingang und blickt auf die Straße
Für seinen Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" wurde Frank Witzel 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Frank Witzel im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.09.2017
Vor zwei Jahren gewann Frank Witzel den Deutschen Buchpreis, heute erscheint sein neuer Roman: "Direkt danach und kurz davor". Es sei eine Annäherung an die Nachkriegszeit - mit vielen Fragen, sagt Witzel.
Bei seinem letzten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" habe er noch aus seiner eigenen Erfahrung geschöpft, so Witzel. Bei der Nachkriegszeit sei das anders gewesen:
"Das Buch ist etwas in einem fragenden Modus angelegt und versucht, sich in eine Zeit und besonders in eine Stimmung, ein Gefühl vorzufühlen oder hineinzutasten, wo man sich nie ganz sicher sein kann, also ich auch beim Schreiben nicht. Das, was Sie beim Lesen erleben, spiegelt irgendwie auch ein bisschen den Prozess beim Schreiben."

Ein Bezug zum Leser und seiner Zeit

Wenn der Leser nicht alles verstehe, sei er nicht böse, meint Witzel, "weil ich selbst nicht weiß, ob ich alles verstanden habe". Ihm selbst sei wichtig, eine Verbindung zu unserer Zeit zu ziehen. Es gebe in seinem Roman immer Stellen, die in die tatsächliche Jetztzeit springen: "Die Personen sollen nicht isoliert bleiben, sondern sie sollen auch einen Bezug zum Leser und seiner Zeit haben."
Für den Leser wolle er einen "Assoziationsraum" öffnen. Dazu dienten auch die Fragen: "Sie sollen nicht nur verunsichern, also dass der Leser sich dann beständig, nachdem er so viele Fragen gehört hat, selbst etwas fragt, sondern natürlich ihn auch ermächtigen, dass er, was er empfindet in dieser Zeit auch ernst nehmen kann, und vielleicht zu Gedanken kommt, die ich nur auslöse, aber die seine eigenen sind. Das wäre für mich wirklich ein Kompliment meinem Buch gegenüber." (bth)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969", so heißt das noch bekannteste Buch von Frank Witzel. Ich sage: noch, denn sein neuer Roman "Direkt danach und kurz davor" hat durchaus das Zeug dazu, diesem Buch den Rang abzulaufen, also nach dem Motto: Das Bessere ist halt der Feind des Guten. Das ist zumindest mein Eindruck nach der Lektüre dieses weit über 500 Seiten dicken Werks. Ich habe das sehr genossen, aber ich muss das an dieser Stelle zugeben, weil Sie es alle bald auch merken werden: Ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass ich das Buch auch komplett verstanden habe. Ein Grund mehr, um mit dem Autor zu reden! Schönen guten Morgen, Herr Witzel!
Frank Witzel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn Sie das hören, dass ich als Leser – und ich habe es wirklich komplett gelesen, nicht so wie Journalisten das tun, schnell mal quer, ich habe es gelesen –, wenn …
Witzel: Ja, toll!
Kassel: Wenn dann ein Leser – nehmen wir mich mal nur als Leser jetzt kurz – dann sagt, ich glaube aber nicht, dass ich alles verstanden habe, ärgert Sie das?
Witzel: Nein, gar nicht! Also, besonders nicht bei diesem Buch, weil ich selbst nicht weiß, ob ich alles verstanden habe. Und ich sage das wirklich nicht aus Koketterie, sondern das Buch ist etwas in einem fragenden Modus angelegt und versucht, sich in eine Zeit und besonders in eine Stimmung, ein Gefühl vorzufühlen oder hineinzutasten, wo man sich nie ganz sicher sein kann, also ich auch beim Schreiben nicht. Das, was Sie beim Lesen erleben, spiegelt irgendwie auch ein bisschen den Prozess beim Schreiben.
Kassel: Vielleicht ganz kurz, wir wollen – das kann man bei dem Buch auch kaum tun – dem Leser nicht zu viel verraten, aber um ganz kurz die Methode, eine der Methoden, die Sie anwenden zu erklären: Es gibt immer wieder lineare Erzählstränge, möchte ich es mal nennen, wo Episoden mit auch wiederkehrenden Personen – das ist sogar relativ übersichtlich, dieser Personenkreis – erzählt werden.
Man merkt, das spielt in der Nachkriegszeit, wobei Sie keine Jahreszahlen nennen, es geht um fiktive Figuren und Orte. Aber immer nach relativ kurzen solcher Erzählsträngen gibt es Dialoge, die sinngemäß immer so ablaufen: Einer fragt, kann das wirklich so passiert sein? Und einer antwortet so etwas Ähnliches wie, nein, dieser junge Mann ist zu dem Zeitpunkt ja gar nicht an dem Ort gewesen, das ist nicht logisch.
Witzel: Ja.

Die Eltern erzählten wenig über die Nachkriegszeit

Kassel: Da habe ich mich gefragt: Ist so der Kern des Buches, dass Sie sagen wollen, auch Sie selber haben bei allem, was Sie darüber gehört haben, den Eindruck, wie es wirklich in der Nachkriegszeit zuging in Deutschland, das wissen Sie eigentlich nicht?
Witzel: Ja, genau. Es ist eine Zeit, die ich ja selbst nicht erlebt habe, darin unterscheidet es sich auch von meinem letzten Roman, wo ich tatsächlich aus einer eigenen Erfahrung, wie verfremdet die auch immer gewesen sein mag, schöpfen konnte. Aber diesmal ist es eine Zeit, ich benenne sie nicht genau, aber man wird merken, dass man sich eben in der Nachkriegszeit aufhält. Darauf spielt ja auch der Titel an, eine Art Zwischenzeit. Und über diese Zeit hätte ich eigentlich viel mehr erfahren oder gerne gewusst, aber das ging nicht, obwohl meine Eltern ja aus dieser Zeit stammten, aber sie haben darüber wenig oder gar nichts erzählt.
Und auch so im allgemeinen Umfeld war es in den 60er-Jahren … war man dann schon in der neuen Bundesrepublik angekommen. Aber trotzdem denke ich, dass es eine Grundlage dieser neuen Republik gab, und die wurde ja irgendwo geschaffen, nämlich nach Ende des Nationalsozialismus. Und jetzt habe ich versucht, mich da reinzuversetzen, und das ging eigentlich nur – und ich war eigentlich glücklich, als mir diese Idee kam – in einem fragenden Modus. Eine Haltung, die selbst alles infrage stellt. Und es gibt ja dann immer wieder Antworten, aber auch diese Antworten werden wieder infrage gestellt. Und in diesem Umfeld habe ich eben versucht, mich dieser Zeit anzunähern.
Kassel: Was denken Sie denn … Es gibt eine Szene, zumindest erinnere ich mich jetzt spontan nur an eine in diesem Buch, die spielt fast in der Gegenwart, fast, das müsste so ungefähr späte 90er, frühe 00er gewesen sein, eine Szene in einem Ferienhaus. Man merkt es daran, die haben Kabelanschluss, das kann nicht kurz nach dem Krieg gewesen sein. Wollen Sie damit ausdrücken oder haben Sie selber das Gefühl, dass auch heute noch in unserer Zeit viel von dieser Nachkriegszeit irgendwie drinsteckt, in unserer Gesellschaft, der deutschen?
Witzel: Ja, mir ist es immer ganz wichtig, eine Verbindung eigentlich zu unserer Zeit zu ziehen, weil, die Reflexion über die Vergangenheit findet ja in der Jetzt-Zeit statt. Ich bin ja kein Historiker, und das so zu betrachten, also, dass ich jetzt immanent in diese Zeit hineingehe, das ist mir immer zu wenig. Und deswegen gibt es immer Stellen, die springen in die tatsächliche Jetztzeit.
Nicht unbedingt um zu sagen, es ist jetzt genauso wie damals – obwohl das auch eine Rolle spielt, weil im Nachhinein, in 20, 30 Jahren wird man vielleicht durchaus auch auf unsere Zeit schauen können und wird sagen: Mensch, das war doch auch eine Durchgangszeit, eine Übergangszeit, da stand doch irgendeine große Veränderung – hoffen wir mal: ins Positive – noch bevor, von dem die Leute anschließend gar nichts gemerkt haben! Also, das ist eine Sache. Aber die andere Sache, dass ich immer versuche, auch aus der Jetztzeit Elemente hineinzubringen, die man dann in einen gewissen Bezug setzen kann. Die Personen sollen nicht isoliert bleiben, sondern sie sollen auch einen Bezug zum Leser und seiner Zeit haben.
Kassel: Ich möchte noch mal kurz zurückkommen auf das, was Sie gesagt haben, dass Ihre eigenen Eltern recht wenig erzählt haben aus dieser Zeit. Vielleicht mal zur Erklärung, Sie sind 1950 geboren, also, haben das sozusagen relativ knapp verpasst, wenn man so will. Ich habe auch oft das Gefühl gehabt bei Sachen, die noch nicht so lange zurückliegen, dass man da erst recht merkt, dass es das, was man manchmal so die historische Wahrheit nennt, so nicht gibt. Gerade wenn wir über die Nachkriegszeit reden, da gibt es ja inzwischen diese neuen Erkenntnisse, dass all das, was wir zu wissen glaubten zum Beispiel über Trümmerfrauen, …
Witzel: Genau, haargenau.
Kassel: … kommen in Ihrem Buch nicht vor, aber dass es so angeblich nicht gewesen ist.
Witzel: Genau, ja.

Die Fragen sollen beim Leser eigene Gedanken auslösen

Kassel: Haben Sie auch so das Gefühl, ich kann das deshalb nicht beschreiben, weil, egal ob ich historische Quellen nutze oder mich doch mal erinnere, was haben Eltern, Onkel, Tanten erzählt, daraus ergibt sich kein Bild, an das ich wirklich glauben kann?
Witzel: Genau. Das war der Ursprung, weshalb ich mich mit dieser Zeit auch noch mal beschäftigen wollte, und zwar eben als Romancier. Ein Historiker würde in die Archive gehen. Und es gibt ja immer wieder wirklich sehr, sehr spannende historische Entdeckungen, Bücher, neue Sichtweisen. Und daran können wir ja gerade sehen in den letzten Jahren, wie der Erste Weltkrieg plötzlich anders gesehen wird, die Zeit des Nationalsozialismus, die ist ja noch ganz offen, weil sie auch noch weiterwirkt, und natürlich auch unsere jüngste Geschichte, also jetzt ab 89, oder auch davor die Geschichte der BRD.
Meine Sache ist es jetzt nicht zu recherchieren, sondern eben eher gefühlsmäßig – auch natürlich aus dem, was ich dann doch gehört, was ich gelesen habe – ein Bild zu entwerfen, in dem ich versuche, selbst einen Zugang zumindest zu finden. Es wird keine Wahrheit sein, aber vielleicht ein gefühlsmäßiger, stimmungsmäßiger Zugang. Darum ging es mir.
Kassel: Wenn ein Leser etwas da liest … Wenn Sie wollen, habe ich ein Beispiel, ich glaube, ich habe an einer Stelle was gelesen, empfunden, was Sie gar nicht gemeint haben. Ist das okay? Wir können das Beispiel nennen, vielleicht vertu ich mich auch …
Witzel: Gerne!
Kassel: Es gibt so eine Szene mittendrin, da wird so diese Cognac- und Zigarettenqualm-geschwängerte Atmosphäre in so engen holzvertäfelten Büros beschrieben, …
Witzel: Ja.
Kassel: … da habe ich an die DDR gedacht und nicht an die eigentliche Nachkriegszeit und vielleicht an die Nazi-Zeit davor oder Ähnliches. Irgendwie glaube ich, das haben Sie nicht gemeint, aber wenn ich da was lese, was Sie da gar nicht reingeschrieben haben, das ist für Sie wahrscheinlich auch in Ordnung, oder?
Witzel: Das ist für mich sogar sehr in Ordnung, weil, ich möchte ja gerne einen Assoziationsraum für den Leser aufmachen. Und dazu dienen auch die Fragen. Sie sollen nicht nur verunsichern, also dass der Leser sich dann beständig, nachdem er so viele Fragen gehört hat, selbst etwas fragt, sondern natürlich auch ihn ermächtigen, dass er das, was er empfindet in dieser Zeit, auch ernst nehmen kann und vielleicht zu Gedanken kommt, die ich nur auslöse, aber die seine eigenen sind. Das wäre für mich wirklich ein Kompliment meinem Buch gegenüber.
Kassel: Das sagt Frank Witzel, mit dem ich vor der Sendung schon geredet habe – also, ehrlich gesagt: Nicht heute Morgen um vier, schon davor. Heute aber erscheint offiziell sein neuer Roman, der heißt "Direkt danach und kurz davor", und das Buch erscheint im Verlag Matthes und Seitz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Frank Witzel: "Direkt danach und kurz davor"
Matthes & Seitz
552 Seiten, 25 Euro

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