Frank-Walter Steinmeier: "Virus des Absurden"

Die Vernunft in postfaktischen Zeiten

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Veranstaltung "Ist die Vernunft noch zu retten?"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Veranstaltung "Ist die Vernunft noch zu retten?" © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Von Burkhard Schäfers · 28.05.2017
Anlässlich des Evangelischen Kirchentags diskutierte Susan Neiman, Philosophin und Direktorin des Einstein-Forums, mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über die Frage, ob die Vernunft noch zu retten ist. Das Internet, so Steinmeier, bedrohe sie.
Der Klimawandel ist keinesfalls durch Menschen verursacht. Kondensstreifen von Flugzeugen sind Chemikalien, mit denen uns die Regierung langsam vergiften will. Vitamintabletten helfen am besten gegen Aids. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sorgt sich angesichts dieser – wie er sagt – Litanei des alten und neuen Unsinns um die Vernunft in der Welt.
Steinmeier: "Dass es auch bei uns eine zunehmend aggressive Aversion gegen Fakten und eine wütende Sehnsucht nach Sündenböcken gibt, ist unbestreitbar."
Was neu sei in der politischen Auseinandersetzung heute: Ein grassierender Mangel an Vernunft, meint der Bundespräsident, und spricht vom "Virus des Absurden". Es werde Politik mit der Angst der Menschen gemacht, Wahrheit absichtlich gefälscht. Dem Publikum beim Evangelischen Kirchentag gefällt es naturgemäß, dass der Protestant Steinmeier die großen Denker und das Christentum als gemeinsame Allianz für die Vernunft betrachtet:
"Immanuel Kant nannte das die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sigmund Freud, dass das Ich Herr im eigenen Hause werde. Und der christliche Glaube sagt, dass die Wahrheit uns frei macht. Alles Verbündete im Kampf für die Vernunft. Viele Verbündete, aber man fragt sich: Warum so wenig Vernunft?"

Seitenhieb auf den US-Präsidenten

Die wiederum ist das Forschungs- und Lebensthema der Philosophin Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Diese Woche erschien ihr Buch: "Widerstand der Vernunft – ein Manifest in postfaktischen Zeiten". Die US-Amerikanerin beginnt ihren Auftritt auf dem Kirchentag mit einem Seitenhieb auf Präsident Donald Trump:
"Es ist dem jetzigen Bewohner des Weißen Hauses entgangen, aber es gibt auch Ideale. Die sind nicht immer realisiert, aber die sind genau so real wie Gold und Waffen."
Susan Neiman beschäftigt sich in ihrer Forschung viel mit Immanuel Kant. Sie betrachtet den Aufklärer als Quelle fortschrittlicher Politik. Und Fortschritt bedeutet – darin ist sie sich mit dem Bundespräsidenten einig – urteilen und handeln auf der Basis von Fakten. Neiman hält die Vernunft für eine zentrale Säule im politischen Diskurs.
"Vernunft hat mehrere Teile nach Kant. Ohne die Vernunft hätten wir keine Wahrheitsfindung. Vernunft geht um Werte, die nicht messbar sind. Und ich stimme dem Satz des Bundespräsidenten zu: Wer sollte uns retten, wenn nicht die Vernunft?"

Gefühlte Wahrheiten sind keine Fakten

Frank-Walter Steinmeier indes macht einen anderen Trend aus: Gefühlte Wahrheiten drohten, dauerhaft an die Stelle überprüfbarer Fakten zu treten. Als eine Ursache hierfür nennt er den digitalen Medienwandel.
"Das Internet verschafft uns Zugang zu einer nie gekannten Fülle von Informationen. Aber wir dürfen diese Flut von Informationen nicht mit Wissen verwechseln, schon gar nicht mit Weisheit. Wissen braucht nachprüfbare Fakten und gesicherte Zusammenhänge, Weisheit braucht Erfahrung und Urteilskraft. Und vieles in der Informationsmaschine Internet liefert eben genau das Gegenteil."
An vielen Stellen im Netz würden entscheidende Standards der Objektivität langsam ausgewaschen, konstatiert der Bundespräsident. Darin stecke eine existenzielle Gefahr für das politische Gemeinwesen.
"Wer Fakten und wissenschaftliche Forschungsergebnisse einfach für irrelevant erklärt, macht eben die ernsthafte Debatte über Zukunft unmöglich. Und dabei könnten wir doch wissen, die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie."
Und deshalb, so lautet das Fazit des Bundespräsidenten und der Philosophin auf dem Kirchentag, sei im gesellschaftlichen Diskurs viel Geduld gefordert. Um der vermeintlich so anziehenden Unvernunft etwas entgegen zu setzen.
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