Frage des Tages

Werden Bücher "unlesbar"?

Hände einer Frau halten eine Tasse über einem dicken Buch
Dicke Wälzer - kommen sie aus der Mode? © picture alliance / ZB / Hans Wiedl
Günther Stocker im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 14.10.2015
Ist das Lesen von dicken gedruckten Romanen überhaupt noch zeitgemäß, betrachtet man das Leseverhalten einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft? Das fragen wir Günther Stocker vom Institut für Germanistik der Universität Wien.
Menschen klagen, dass sie sich nicht mehr konzentrieren können und schon soundso lange kein Buch mehr ganz durchgelesen haben. Die digitale Hektik treibt uns weg vom Bücherregal, lautet der kulturpessimistische Ansatz.
Jetzt ist in Frankfurt die Buchmesse und viele fragen sich, wer und ob eigentlich jemand alle Bücher der Longlist oder auch nur der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelesen hat? Oder ist das nicht schon eine Zumutung in Zeiten des Informationsüberflusses und der schnelllebigen Texte? Ist das Lesen von dicken gedruckten Romanen überhaupt noch zeitgemäß, betrachtet man das Leseverhalten einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft?
Der Wiener Germanist Günther Stocker hält es für möglich, dass Texte, die für die Lektüre gedruckter Bücher konzipiert wurden, in einer digital geprägten Welt unlesbar werden. Dieser Ansatz basiere auf der geschichtlichen Veränderung des Leseverhaltens, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Im Gegensatz zu gedruckten Büchern seien digitale Texte auf Bildschirmen "wunderbare Ablenkungsmaschinen":
"Dass man ständig Möglichkeiten hat, aus dem Text heraus zu gehen – sobald der Text etwa zu langweilig wird oder einen überfordert. Es gibt eine spezifische Aufmerksamkeitsökonomie, nach der wir funktionieren. Wenn wir die Möglichkeit haben, direkt auf der medialen Oberfläche sofort rauszugehen mit einem Klick, dann wird das auch häufig genutzt".
Geringere Aufmerksamkeitsspannen
Diese Ablenkung führe dazu, dass die Aufmerksamkeitsspannen geringer werden würden, so das Ergebnis mehrerer Studien. Beim gedruckten Text hingegen gebe es diese Ablenkungsmöglichkeiten nicht.
Die Veränderung des Leseverhaltens betreffe nicht nur jüngere Menschen und "digital natives", sondern auch erfahrene Leser gedruckter Bücher:
"Die dann plötzlich merken: Hier funktioniert im Lesefluss etwas plötzlich nicht."
"Slow-Food" des Schreibens

Es gebe Autoren, die gezielt gegen die durch digitale Medien ausgelösten Veränderungen anschreiben würden, zum Beispiel Peter Handke oder auch Frank Witzel, der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises:
"Das ist quasi das Slow-Food, im Gegensatz zu anderen Formen. Es gibt ein schönes Zitat von Bert Brecht, der im Zusammenhang mit dem Dreigroschen-Prozess in den 30er Jahren gesagt hat: 'Der Filme Sehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Autor, der Erzählungen schreibt, ist ein Filme Sehender.' Also es betrifft ihn natürlich auch in seinem Schreiben."
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