Flüchtlingsabkommen mit Türkei

Drohung Erdogans "verweist auf Erpressbarkeit der EU"

Man sieht ein Schlauchboot mit Flüchtlingen an der ägäischen Küste.
Im März hatten Brüssel und Ankara ein Abkommen getroffen, um die Flüchtlingsbewegung Richtung Europa einzudämmen.Nach dem Votum des EU-Parlaments hat Präsident Erdogan mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge gedroht. © picture-alliance / dpa / Cihan Acar
Moderation: Katrin Heise · 26.11.2016
Die Türkei droht, die Grenzen für Flüchtlinge wieder zu öffnen. Das ist ernst zu nehmen, sagt Grünen-Politikerin Barbara Lochbihler. Es zeige die Erpressbarkeit der EU. Sorgen vor einer erneuten Flüchtlingskrise hält sie für weniger berechtigt.
Nach dem Votum des EU-Parlaments für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge Richtung Europa gedroht. "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das", sagte Erdogan in einer Rede in Istanbul an die Adresse der EU. Brüssel und Ankara hatten im März ein Abkommen vereinbart, um die Flüchtlingsbewegung Richtung Europa einzudämmen.
Die grüne Europaparlamentarierin Barbara Lochbihler kritisiert die Erpressbarkeit der EU, und fordert, trotz der Drohung Erdogans, gegenüber der Türkei weiter auf die Einhaltung der Menschenrechte zu dringen.
"Er verweist mit dieser Drohung natürlich auf die Erpressbarkeit der EU mit diesem Deal", sagte Lochbihler im Deutschlandradio Kultur. Erdogan sei ernst zu nehmen, allerdings seien seine Äußerungen oft vor allem auch innenpolitisch motiviert. "Er spricht zu seinen eigenen Anhängern, die er binden will." Ein tatsächlicher Bruch sei nicht sehr wahrscheinlich. Erdogan sei auf die mit dem EU-Türkei-Pakt verbundenen 6 Milliarden Euro auch angewiesen: "Da muss sich die Türkei auch überlegen, ob sie dieses Geld nicht brauchen kann", sagte die Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament.

Sorgen vor erneutem Massenzustrom von Flüchtlingen?

Sorgen vor einem neuen Aufkommen der Flüchtlingskrise durch einen erneuten Massenzustrom hält Lochbihler für weniger berechtigt: Für die meisten Flüchtlinge in der Türkei sei die bekannte Situation überfüllter Aufnahmelager in Griechenland "unattraktiv". Auch habe sich die Lage durch europäische Grenzschließungen längst geändert: " Ein unkontrollierter sehr schneller Zugang von Flüchtlingen wird gar nicht möglich sein". Selbst bei steigenden Flüchtlingszahlen drohe angesichts mittlerweile geschaffener Aufnahmekapazitäten keine chaotische Situation wie vor einem Jahr: "Wir haben ausreichend Erstaufnahmekapazitäten und auch Möglichkeiten Menschen bei uns zu integrieren und auch aufzunehmen", so die außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament.

"An unseren Werten festhalten"

Trotz Erdogans Drohung müsse die EU an ihren Werten festhalten, forderte Lochbihler: "Wir dürfen nicht wegschauen, was in der Türkei passiert. Diesen Drohungen müssen wir begegnen, dass wir sagen, uns ist es ganz entscheidend, dass wir an unseren Werten festhalten und nicht abgeben, besseren Menschenrechtsschutz zu fordern, nur weil er droht, die Grenzen aufzumachen."
Die Vorsitzende des EU-Menschenrechtsausschusses, Barbara Lochbihler (Grüne) in einer Fernseh-Talkshow.
Die Vorsitzende des EU-Menschenrechtsausschusses im Europaparlament, Barbara Lochbihler (Grüne).© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler

Das Interview im Wortlaut:
Katrin Heise: Vorgestern beschoss das Europaparlament, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara einzufrieren wegen der massiven Vorgehensweise gegen Regierungsgegner in der Türkei. Gestern sagte daraufhin Präsident Erdogan: Passt auf, wenn ihr noch weiter geht, dann werden diese Grenzübergänge geöffnet, lasst euch das gesagt sein. Das ist also eine eindeutige Drohung, sich nicht mehr an den vereinbarten Flüchtlingsdeal zu halten. Barbara Lochbihler ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, außenpolitische Sprecherin und Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments. Schönen guten Morgen!
Barbara Lochbihler: Guten Morgen!
Heise: Frau Lochbihler, ist das eine bloße Drohgebärde oder wird Erdogan Taten folgen lassen?

"Erpressbarkeit der EU"

Lochbihler: Erdogan hat sich ja unterschiedlich zu der Parlamentsresolution geäußert. Zuerst hat er gesagt, die ist nicht wichtig, also sie ist nicht rechtsverbindlich und es macht ihm nichts aus, und jetzt droht er. Er verweist mit dieser Drohung natürlich auf die Erpressbarkeit der EU mit diesem Deal. Das haben wir in der Vergangenheit auch gesehen, dass er weiß, dass Mitgliedsstaaten empfindlich reagieren und die Angst umgeht, es käme wieder zu einem erneuten Flüchtlingsansturm nach Europa. Ich denke, man muss immer ernst nehmen, was er ankündigt, man muss aber auch genau zuhören und nachfragen, zu wem er eigentlich spricht. Also er spricht ja sehr oft, wenn er die Türkei als sehr stark darstellt und völlig unabhängig von der EU doch auch zu seinen eigenen Anhängern, die er da binden will. Und wenn man nachfragt, ob denn die Geflüchteten, die jetzt in der Türkei sind und zum Beispiel nicht in den Flüchtlingslagern dann zuhauf kommen würden, dann, glaube ich, müssen wir auch da differenziert hinsehen und sehen, dass die meisten der Menschen, die dann nach Griechenland kämen, hier in eine Situation auf den Inseln kommen würden, die überhaupt nicht attraktiv für sie wäre.
Heise: Die auch nicht nur nicht attraktiv, sondern die eigentlich inzwischen untragbar wäre. Ihre Haltung zu dem Deal war ja immer eindeutig: Sie waren dagegen – Sie haben ja eben schon die Erpressbarkeit angesprochen –, man hätte sich der Türkei nie so ausliefern sollen. Aber wie sieht Ihr Vorschlag aus? Wohin mit den Flüchtlingen, die auf den griechischen Inseln ankommen?
Lochbihler: Gleichzeitig mit diesem EU-Türkei-Pakt hatte man sich vorgenommen auf EU-Seite, Griechenland zu entlasten und die Flüchtlinge, die dort sind, umzuverteilen innerhalb der EU. Hier ist man mit der Verteilung nicht weitergekommen, nur in einer ganz geringen Zahl hat das funktioniert, weil es auch nach wie vor kein solidarisches Verhalten der Mitgliedsstaaten gibt. Auch Griechenland selber hat nicht genügend Verwaltungskapazität aufgebaut, dass die Asylverfahren dort bearbeitet werden, es sind extrem lange Wartezeiten. Und wie Sie sagen, die Zustände für die Geflüchteten dort in diesen Lagern haben sich immer noch weiter verschlechtert und sind untragbar.
Heise: Ich glaube, an genau der Stelle kann man relativ einfach – und das wird ja auch getan – mit Geld und Kapazität, die man reingibt, angreifen. Der andere Punkt, den Sie angesprochen haben, die Solidarität unter den EU-Ländern, da hat sich Angela Merkel ein Jahr lang die Zähne ausgebissen, aber es ist nun mal einfach Fakt. Fakt ist auch, dass die Flüchtenden in ihrer Mehrheit gar nicht in die Slowakei, nach Ungarn, nach Polen wollten, sondern in andere Länder – nach Deutschland, nach Österreich oder in die skandinavischen Länder. Wie damit umgehen?
Lochbihler: Ja, also da darf man nicht nachlassen, auch wenn das schwierig ist.
Heise: Es ist ja immer wieder Teil der Verhandlungen, da wird ja auch nicht nachgelassen, aber es wird auch nicht abgerückt.

"Mit diesem Deal sind ja auch sechs Milliarden Euro verbunden"

Lochbihler: Ja, und es gibt Mitgliedsstaaten, die auch Flüchtlinge aufnehmen. Vielleicht muss man davon ausgehen, dass auch die Länder, die mehr Kapazitäten haben, noch mehr Flüchtlinge nehmen. Man kann nicht darauf insistieren, dass alle gleich viele nehmen. Wir werden keine andere Situation bekommen. Wir könnten natürlich darüber hinaus die Flüchtlinge in der Türkei auch mit humanitärer Hilfe unterstützen, sollte dieser Deal aufgelöst werden. Da bin ich mir übrigens nicht so sicher, weil mit diesem Türkei-EU-Deal sind ja auch sechs Milliarden Euro verbunden für Zugang zum Arbeitsmarkt, für Bildung, für andere Hilfen, und da muss sich die türkische Regierung gut überlegen, ob sie dieses Geld nicht brauchen kann.
Heise: Frau Lochbihler, Sie bewegen sich vielleicht im Raum, darum ist manchmal die Leitung etwas schlechter oder die Funkwellen sind etwas gehemmt.
Lochbihler: Oh, Entschuldigung, ich bewege mich eigentlich nicht, ich hoffe, dass es gut ist.
Heise: Jetzt ist es wieder gut.
Lochbihler: Sie haben es gerade angesprochen, dass Erdogan wahrscheinlich diesen Hebel der Erpressung auch gar nicht so ansetzen kann, weil er ja auch durchaus auf das Geld, was auf der anderen Seite wieder in die Türkei zurückfließt, angewiesen ist. Gerade populistischen Parteien in Europa schüren Ängste vor einer neuen Flüchtlingswelle, ob die jetzt bevorsteht oder nicht, sie schüren Ängste damit. Welchen Gestaltungsspielraum hat tatsächlich die europäische Politik, um menschenwürdige Flüchtlingspolitik zu betreiben?
Heise: Nun, wir können die Familienzusammenführung, die Zusammenführung der Leute, die teilweise schon hier sind, ordnen, intensivieren, wir können Flüchtlinge, die sich um Syrien herum in Lagern befinden, großzügiger aufnehmen in sogenannten Resettlement-Programmen. Wir müssen nach wie vor darauf drängen, dass Menschen, die besonders schutzbedürftig sind, wie Kinder, Kranke, dass wir die aufnehmen, und wir müssen auch ganz realistisch und eben nicht populistisch hinschauen, ob wir dafür Kapazitäten haben. Und wir haben ja seit dem Herbst 2015 Aufnahmekapazitäten geschaffen, es würde jetzt nicht mehr so chaotisch zugehen wir vor einem Jahr. Wir haben ausreichend Erstaufnahmekapazitäten und auch Möglichkeiten, Menschen bei uns zu integrieren und aufzunehmen.
Lochbihler: Also die EU soll sich auf jeden Fall nicht von den Drohungen Erdogans beeindrucken lassen.

"Entscheidend, dass wir an unseren Werten festhalten"

Heise: Nein, ich glaube, wir dürfen das nicht leichtnehmen, wir dürfen auch nicht so tun, also ob wir immer so weitermachen dürfen wie bisher und wegschauen, was in der Türkei passiert, sowohl gegenüber den Flüchtlingen wie auch gegenüber den eigenen Menschen. Aber diese Drohungen, denen müssen wir begegnen, dass wir sagen, uns ist es aber doch ganz entscheidend, dass wir an unseren Werten festhalten und dass wir dann nicht abgehen, besseren Menschenrechtsschutz zu fordern, nur weil er droht, die Grenzen aufzumachen. Leider auf unserer Seite, der europäischen Seite, haben wir ja die Grenzen auch dicht gemacht mit sehr viel Zäunen, also dieser unkontrollierte Zugang sehr schnell von Flüchtlingen wird auch auf unserer Seite gar nicht möglich sein.
Lochbihler: Barbara Lochbihler, Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments, danke schön!
Heise: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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