Flüchtlinge und Streitkultur in Deutschland

Wenn Fakten zu Demagogie werden

Flüchtlinge stehen am 03.03.2016 im Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien bei der Registrierung.
Flüchtlinge stehen am 03.03.2016 im Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien bei der Registrierung. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Stephan Hebel · 07.04.2016
Die politische Debatte leide hierzulande zwar nicht, wie anderswo, unter einem gnadenlos vereinfachenden Populismus, stellt der Journalist Stephan Hebel fest. Ein Problem sei allerdings schräge Rhetorik, die Fakten zu Demagogie werden lasse.
Wenn Deutschland diskutiert, sind nicht selten zwei Tonspuren zu hören. Auf der einen ringen engagierte Bürger und gesellschaftliche Gruppen, Politiker und Publizisten um die besten Ideen. Es geht ziemlich gesittet und demokratisch zu. Und die meisten Redner bleiben bei der Sache. Auf der anderen Spur ist es die Demagogie, die den Ton bestimmt.
Zunächst zum seriösen Teil: Wer sich im europäischen oder ferneren Ausland umgesehen hat, wird den hiesigen Politikbetrieb nicht ganz so negativ sehen wie seine Verächter in Dresden oder in den einschlägigen Foren des Internets. Der gnadenlos vereinfachende Populismus ist bei uns zumindest noch nicht ins Zentrum der Debatte gerückt. Nicht einmal beim Flüchtlingsthema, das ja den rechten Rand zu besonders hysterischen Reaktionen animiert.

Seriöses Denken in Alternativen wäre wünschenswert

Oft geht es sogar so gesittet zu, dass man sich etwas mehr Streit im etablierten Spektrum wünschte. Aber bei aller berechtigten Kritik an Parteien und Medien, die vor lauter Einigkeit das Denken in Alternativen verlernen, wäre es doch schön, wenn der demokratische Sound auch in Zukunft die demagogischen Klänge deutlich übertönen würde.
Daran allerdings halten sich leider nicht alle. Dass manche Politikerinnen oder Politiker sich ihre Inspiration dann doch bei den Populisten holen, ist bekannt – seien es christsoziale Bayern, die von dichten Grenzen träumen, oder linke Funktionsträgerinnen, die das Recht auf Asyl in ein gnädig gewährtes Gastrecht umdefinieren.
Es gibt aber auch eine andere Gattung schräger Töne, die man beim ersten Hören vielleicht gar nicht erkennt. Sie kommen von Leuten, die sich einer speziellen rhetorischen Technik bedienen. Sie versuchen gezielt, politische Gegner vom Boden der Tatsachen zu vertreiben.
Wie das geht, lässt sich anhand der Flüchtlingsdebatte zeigen. Da legt zum Beispiel ein Journalist der vermeintlichen Gemeinde der Gutmenschen den Satz ans Herz: "Auch ein unterdrückter Flüchtling kann ein böser Mensch sein". Als hätte das irgendjemand bestritten. Die beliebteste Waffe aus diesem Arsenal ist allerdings die Parole: "Es können nicht alle zu uns kommen."
Welche Funktion kann ein solcher Ausspruch in einer politischen Debatte haben? Es handelt sich ja offensichtlich um etwas, was kein Mensch bestreitet. Aber genau darin besteht der wenig anständige rhetorische Kniff: Wer eine unumstößliche Tatsache in Stellung bringt, lässt Widerspruch wie eine Marotte notorischer Wahrheitsleugner erscheinen.

Unterstellungen wollen mit absurdem Verdacht bloßstellen

Das Problem ist, dass dabei mit blanken Unterstellungen gearbeitet wird. Wer das individuelle Recht auf Asyl gegen die Erfindung von Obergrenzen verteidigt, sieht sich dem absurden Verdacht ausgesetzt, er wolle die 60 Millionen Flüchtlinge, die weltweit unterwegs sind, allesamt nach Deutschland holen. Oder gar die etwa sechseinhalb Milliarden Menschen auf der Welt, denen es wirtschaftlich schlechter geht als uns.
Man müsste eigentlich meinen, dass selbst der größte Populist den Verteidigern des Asylrechts nicht offen unterstellen wird, sechseinhalb Milliarden oder auch 60 Millionen Mühselige und Beladene einladen zu wollen. Und tatsächlich wird dieser unsinnige Vorwurf selten offen erhoben. Meistens bleibt es beim hingeraunten "Es-können-nicht-alle-kommen". Den Rest darf man sich denken.
Aber manchmal spricht auch jemand aus, was sonst nur nahegelegt wird. So zum Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch: "Es können nicht alle zu uns kommen. Von sieben Milliarden Menschen in der Welt geht es 6,5 Milliarden schlechter als uns. Und wenn die sich alle auf die Reise machen, na dann gute Nacht."
Da hat einer die Tonspur gewechselt. Besonders laut, vielleicht. Aber der Einzige ist er leider nicht.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion.





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