Flüchtlinge

Ex-Verfassungsrichter rügt "Abschiebe-Unkultur"

Das Bild zeigt, wie die Flüchtlinge von der Gangway in die weiße Maschine steigen. Zwei Polizisten überwachen das Ganze.
Abgelehnte Asylbewerber werden mit dem Flugzeug in ihre Heimat abgeschoben © Patrick Seeger / dpa
Ernst Gottfried Mahrenholz im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 23.12.2015
Niedersachsen hat 125 abgelehnte Asylbewerber aus Albanien, Serbien und dem Kosovo am Mittwoch abgeschoben. Das sei verfassungswidrig, kritisiert der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz und verweist auf den besonderen Schutz von Kindern, die hier zur Schule gehen.
Der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht, Ernst Gottfried Mahrenholz (SPD) machte deutlich, dass es grundsätzlich rechtens sei, Flüchtlinge abzuschieben, die erst kurz in Deutschland seien und kein Bleiberecht hätten. Er verwies dabei auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die klar umrissen habe, dass eine Behörde nur eingreifen dürfe, sofern der Eingriff gesetzlich vorgesehen sei und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale und öffentliche Sicherheit und das Wohl des Landes notwendig sei.
"Das sind ganz klare Bedingungen und die müssen erfüllt sein", sagte Mahrenholz. "Vorher kann man einen Ausländer, der hier lebt, nicht rauswerfen."
Er lobte, dass Niedersachsen eigentlich in einem Erlass vorbildlich festgelegt habe, unter welchen Voraussetzungen abgeschoben werden könne. "Meine Kritik richtet sich daran, dass von diesem eigenen Erlass praktisch abgewichen worden ist, um diese 125 Personen außer Landes befördern zu lassen", sagte der frühere Verfassungsrichter.
Abschiebe-Unkultur in der Kritik
Mahrenholz rügte, dass man nicht neue Flüchtlinge aufnehmen könne und gleichzeitig andere Menschen abschiebe, die hier bereits Wurzeln geschlagen hätten. Er wies auch auf den besonderen Schutz für Kinder und Jugendliche hin, die in Deutschland eine Kita oder Schule besuchten.
"Das ist die Auswechslung der Willkommenskultur zur Abschiebe-Unkultur. Das eine ist wunderbar und das andere ist eben nicht schön und jetzt so zu tun, als müsse man das machen, damit Raum geschaffen wird: Das ist lächerlich."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Die Kanzlerin soll die Flüchtlingskrise in den Griff kriegen. Das sind Forderungen von vielen Seiten, nicht nur aus ihrer Partei, auch aus der CSU. Es sind aber auch viele Kommentatoren, die so sprechen, die genau das fordern und von einer Grenze der Belastbarkeit sprechen. Und ein Satz fällt da häufig, ein Satz, bei dem Sie möglicherweise genauso wie ich, wenn auch nicht vehement, aber doch leicht zustimmend genickt haben: Nicht jeder kann bleiben, der nach Deutschland flüchtet. Was das konkret bedeutet, das hat sich in den letzten Monaten deutlich gezeigt. Die Zahl der Abschiebungen hat sich verdoppelt.
Wie sehr mag man da noch an Willkommenskultur denken, wie sehr ist aber vielleicht gerade das nötig, dieser hässliche Teil, um denen, die Schutz brauchen, wirklich Schutz gewähren zu können? Fragen an den früheren Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz. Der Sozialdemokrat hat erst vor wenigen Tagen heftige Kritik geübt an einer Massenabschiebung in den Kosovo durch das Land Niedersachsen. Herr Mahrenholz, guten Morgen!
Ernst Gottfried Mahrenholz: Guten Morgen, Herr Frenzel!
"Sie haben sich eingerichtet und ein Leben hier geführt"
Frenzel: Diese Abschiebebilanz, die wir da gerade dargestellt bekommen haben, die wurde vonseiten der Innenminister ja quasi als Erfolgsbilanz dargestellt, nach dem Motto, seht her, wir tun was. Tun wir das Falsche?
Mahrenholz: Ja, jedenfalls oft genug das am wenigsten Bedachte. Es sind Menschen, die hier ihre Wurzeln geschlagen haben. Wir haben sie geduldet, und wir haben sie in vielerlei Hinsicht rechtlich etwas diskriminiert, aber das lassen wir beiseite. Sie fühlen sich hier so, dass sie sich eingerichtet haben. Und die Kinder besuchen ja die Schule, besuchen die Kita. Man hat mit den Deutschen Kontakt, nach rechts und links, nicht immer, nicht in jedem Fall. Mit anderen Worten, sie sind geduldet, sie sind seit Jahren geduldet und sie haben hier ein Leben geführt.
Die Zahlen der Abgeschobenen, das ist nur eine Triumphmaske, die finde ich schrecklich, sondern es geht darum, wie viele Menschen sind betroffen, und nicht, welche Zahlen meldet das Innenministerium. Und das sind Menschen wie du und ich, für die die Würde des Menschen gilt als Verfassungsgebot des Staates gegenüber diesen einzelnen Personen.
Frenzel: Herr Mahrenholz, Sie reden über Menschen, die schon länger hier sind. Da kann man das sofort nachvollziehen, wenn man diese Geschichten hört und liest. Aber was ist mit Menschen, die wenige Wochen, vielleicht wenige Monate erst hier sind, in Aufnahmelagern nur sind, nicht wirklich im deutschen Leben angekommen sind? Haben Sie da eine andere Haltung?
Abschiebung bei bestimmten Voraussetzungen legitim
Mahrenholz: Ja, da habe ich eine andere Haltung. Die, die hier gar nicht richtig bislang Wurzeln schlagen konnten und die hier kein Bleiberecht haben, dass der Staat diese Personen abschiebt, das halte ich für rechtens.
Frenzel: Ist es denn aus Ihrer Sicht dann legitim, dass der Staat insgesamt Menschen zurückführt? Sie haben diese Aktion aus Hannover, die ich anfangs erwähnte, als verfassungswidrig bezeichnet. Ist es grundsätzlich verfassungswidrig, oder ist es legitim, abzuschieben?
Mahrenholz: Es ist legitim, abzuschieben, wenn die Voraussetzungen dafür da sind. Und die Voraussetzung dafür hat nicht das Innenministerium, sondern hat die europäische Menschenrechtskonvention ganz klar umrissen. Es heißt dort: Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, sofern der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale und öffentliche Sicherheit und für das Wohl des Landes. Das sind ganz klare Bedingungen, und die müssen erfüllt sein. Vorher kann man einen Ausländer, der hier lebt, nicht rauswerfen.
Man sagt immer, die europäische Menschenrechtskonvention meint aber nicht diejenigen, die hier nur geduldet sind. Das steht da aber nicht drin, und infolgedessen hat Niedersachsen zum Beispiel, darin durchaus vorbildlich, in einem Erlass präzise festgelegt, unter welchen Voraussetzungen abgeschoben werden darf.
Meine Kritik richtet sich dagegen, dass von diesem eigenen Erlass praktisch abgewichen worden ist, um diese 125 Personen außer Landes zu befördern.
Frenzel: Das ist eine juristische Bewertung, Herr Mahrenholz, aber es gibt ja die politische, und da sind wir ganz schnell bei diesem Begriff "Grenzen der Belastbarkeit". Darf es die geben, wenn es um Flüchtlinge geht?
Mahrenholz: Ich habe nicht verstanden, was Grenzen der Belastbarkeit ...
"Auswechslung der Willkommenskultur zur Abschiebe-Unkultur"
Frenzel: Darf es diese Einschätzung geben, dass wir sagen, es gibt Grenzen der Belastbarkeit, und das trifft dann eben auch einzelne Menschen, das trifft einzelne Flüchtlinge, bei denen wir sagen, damit wir eine Flüchtlingspolitik, die grundsätzlich offen ist, weiter in der Bevölkerung durchsetzen können, muss es eben eine Grenze geben?
Mahrenholz: Nein. Das ist ganz indiskutabel. Und dass Sie die Bevölkerung erwähnen, ist ganz wichtig in diesem Zusammenhang. Es wird nämlich von der Bevölkerung nur der Teil zur Kenntnis genommen, der prinzipiell dagegen ist, dass diese Menschen hier wohnen. Und dann sagen sie immer, ja, aber wir brauchen Raum für Flüchtlinge.
Man kann nicht Flüchtlingen einen Raum geben, einen Wohnraum geben, einen Lebensraum geben, indem man andere, die früher geflohen sind, gegen das Gesetz und gegen das Recht vertreibt. Das ist der entscheidende Punkt. Und ich meine, das ist die Auswechslung der Willkommenskultur zur Abschiebe-Unkultur. Das eine ist wunderbar, und das andere ist eben nicht schön.
Und jetzt so zu tun, als müsse man das machen, damit Raum geschaffen wird für Neuankömmlinge, das ist lächerlich.
Besondere Beachtung von Jugendlichen
In Niedersachsen können höchstens 14.000 abgeschoben werden, und natürlich kommen doch viel mehr Flüchtlinge hier rein. Da eine Milchmädchenrechnung aufzumachen, halte ich wirklich für verfehlt, insbesondere gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Die haben eine menschliche Würde, eine eigene menschliche Würde als Heranwachsende.
Man kann die nicht heraustrennen aus ihren geistigen und moralischen und sittlichen Bezügen und Entwicklungen, die ja durch die Schule weitgehend und durch ein Elternhaus, das jedenfalls sorgenfrei leben darf, gewährleistet ist. Da hört meines Erachtens das Recht des Staates auf, etwas zu tun.
Und im Übrigen muss man dem Bund doch bescheinigen, er nimmt auf dieses Thema Jugendliche Rücksicht. Es gibt eine Novelle des Aufenthaltsgesetzes, aus der sich ganz klar ergibt, dass im Prinzip Jugendliche daraufhin angeguckt werden müssen, ob sie nicht hier bleiben können.
Frenzel: Das sagt der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz. Ich danke Ihnen für das Interview!
Mahrenholz: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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