Flüchtlinge auf Lesbos

Die Vergessenen von Moria

Ein Mann steht vor einem eingeschneiten Iglu-Zelt.
Im Flüchtlingscamp Moria leben 5600 Menschen, dabei ist das Lager nur für 2300 ausgelegt. © AFP
Von Alexander Bühler · 04.01.2018
Trotz der Kälte hausen sie in Zelten, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal und die Versorgung ist miserabel: Im Lager Moria auf der Insel Lesbos leben rund 5600 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen - und die griechischen Behörden schauen tatenlos zu.
Wie jeden Sonntagmorgen marschiert eine Kapelle der griechischen Marine zum Hauptplatz des Städtchens Mytilini, um die griechische Fahne zu hissen. Eine patriotische Demonstration, denn die Insel Lesbos, auf der Mytilini liegt, ist nur ein paar Seemeilen von der Türkei entfernt. Dieser Sonntag ist jedoch anders. Am Hauptplatz lagern Flüchtlinge, demonstrierende Flüchtlinge.
Einige der Flüchtlinge tragen selbstgemalte Plakate "Open the Islands" steht darauf oder auch "I want Athen". Diese Pappe hält die jüngste Demonstrantin vor sich, eine Vierjährige.
"Unsere Tochter will wirklich immer so eine Tafel vorzeigen, wie sie darauf kam, weiß ich auch nicht genau. Sie ist die Zustände im Lager Moria leid, sie trägt das Plakat, damit wir endlich befreit werden."
Das erzählt der Vater des kleinen Mädchens, ein Afghane. Moria ist jenes berüchtigte Lager auf Lesbos, in dem die griechische Regierung statt der 1700 Menschen, für die das Lager ursprünglich angelegt war, knapp 6000 untergebracht hat. Im Sommer kam es zu einem Aufstand angesichts der desolaten Zustände vor Ort, im vorhergehenden Winter erfroren drei Menschen im Lager.

Die Zelte sind nicht wasserdicht

"Die Kinder sind immer krank. Vor einigen Wochen regnete es und der Zeltboden ist immer noch nass. Die Zelte sind nicht wasserdicht. Das saubere Wasser aus der Leitung fließt nur drei Stunden lang. Es gibt nicht genügend Duschen, keine hygienischen Toiletten."
Griechenland hat offensichtlich große Probleme, Flüchtlingen eine würdige Heimstatt zu bieten. Und das, obwohl längst hunderttausende von ihnen nach Zentraleuropa weitergezogen sind, obwohl die Türkei mittlerweile viele Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindert. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat in einer Studie untersucht, was die Situation in Flüchtlingslagern wie Moria mit der seelischen Gesundheit der Menschen dort anrichtet und kommt zu einem verheerenden Schluss. Aria Danika, hat das Projekt auf Lesbos geleitet.
"Nach der Reise, die die Menschen erlebt haben und der Bedingungen in Moria, dass sie nicht wissen, was die Zukunft bringt, wann die Entscheidung zu ihrem Asylantrag kommt, und wie lange sie noch in Moria bleiben werden oder wohin sie dann geschickt werden. In Folge dessen sind die Leute traumatisiert und gestresst, sie leiden an Depressionen, an ernsten Angststörungen, am Posttraumatischen Stresssyndrom. Viele verletzen sich selbst. Und wir wissen auch, dass Leute versuchen, Selbstmord zu begehen."
An einem offenen Feuer wärmen sich im Flüchtlingscamp Moria einige Männer die Hände.
Unmenschliche Zustände: Im Flüchtlingscamp Moria leben fast 6000 Menschen.© imago/ZUMA Press

Mehrere Selbstmordversuche

Tatsächlich waren es allein im November ein 28-jähriger Mann und ein 12-jähriges Kind, die versucht haben, sich zu erhängen. Und auch insgesamt ist die Zahl der Selbstmordversuche in den letzten Monaten deutlich angestiegen. Aria Danika sieht einen Bezug dazu, dass die griechische Regierung immer weniger Organisationen erlaubt, in den Lagern zu arbeiten. Insgesamt wurden die Mittel zur Finanzierung der Lager gekürzt. Und zwar so sehr, dass sich Ärzte ohne Grenzen mittlerweile weigert, im Lager Moria selbst eine Präsenz zu haben.
"Unter den Ärzten im Lager gibt es keine Psychologen. Dort gibt es keine Kapazitäten für eine spezialisierte Behandlung. Die meisten sind Allgemeinmediziner. Moria ist kein Ort, an dem man für längere Zeit bleiben kann. Es war als Transitlager geplant. Heute ist es wie ein Konzentrationslager. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der in Moria arbeitet, hat den Lagerleitern bei einem Koordinationstreffen, gesagt, wenn er zuhause Hunde unter diesen Bedingungen halten würde, würde er verhaftet. Nicht Menschen. Hunde."
Eine Situation, die im Gegensatz zu Griechenlands wiederholten Bekundungen steht, Flüchtlinge menschenwürdig zu behandeln. Dazu hatte sich die Regierung sowohl in grundlegenden Verträgen wie der EU-Flüchtlingskonvention, als auch der Richtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, festgelegt. Eine andere offene Frage ist, wo das Geld geblieben ist, das die EU Griechenland für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge bereitgestellt hat. Insgesamt über eine Milliarde Euro aus zwei verschiedenen EU-Fördertöpfen.

Die Gelder der EU kommen nicht an

"Unseren Schätzungen und Quellen zufolge wurden zwischen 2015 und 2016 7 von 10 ausgegebenen Euro verschwendet – sie versickerten durch lokale Korruption oder falsche Infrastrukturmaßnahmen. Etwa Flüchtlings-Aufnahmezentren, die keine Straßenanbindung hatten. Manchmal wurde das auch an Träger überwiesen, die nichts mit der Bewältigung der akuten Situation zu tun hatten. Aber noch viel wichtiger: Alle Ausgaben wurden im Notfall-Modus getätigt: Das bedeutet: Eine riesige internationale Bürokratie wurde geschaffen, teure Experten wurden eingesetzt, Organisationen, die miteinander konkurrierten. Eine Situation, die man eigentlich hätte managen können, schlingerte ins Chaos. Diese Rechnung wird vom europäischen Steuerzahler bezahlt. Und trotzdem haben alle diese Ausgaben die Situation noch nicht einmal stabilisiert."

Die Verblüffung über dieses Chaos, über das Missmanagement ist dem Journalisten Daniel Howter immer noch anzumerken. Wie konnte - und wie kann in einem Land, das am Rande der Pleite steht, soviel Geld verschwinden oder erst gar nicht erst angetastet werden? Denn auch das ist passiert. Dokumentiert in den EU-Kommissionsmitteilungen zu AMIF, dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds und dem Fonds für die Innere Sicherheit. Dort findet sich eine Übersichtstabelle, aus der ersichtlich wird, wieviel jedes EU-Mitgliedsland bekam und bekommen sollte, um die sogenannte Flüchtlingskrise zu bewältigen. Im Falle Griechenlands waren das etwa 718 Millionen Euro. Ausgegeben davon wurden aber nur 240 Millionen. Warum diese Beschränkung? Wer das Lager Moria besucht der sieht die Folgen dieser Sparmaßnahmen auf Schritt und Tritt.
Reihe an Reihe knubbeln sich die Zelte auf den Terrassen eines ehemaligen Olivenhains. Rauchschwaden umhüllen die provisorischen Behausungen. Männer hocken in Grüppchen um kleine Feuerstellen, versuchen sich zu wärmen. Innerhalb des mit hohem Stacheldraht umzäunten Geländes des Lagers Moria, war kein Platz mehr für diese jungen allein reisenden Flüchtlinge. Die Situation in Moria sei bedrückend, sagen sie:
"Wir sind aus dem Kongo. Wir kamen per Flugzeug in die Türkei, dann per Boot hierher. Wir sind seit acht Monaten hier. Ich bin Elektriker. Ich hatte Arbeit, bin aber geflohen, weil es im Kongo viele Probleme gibt."
"Ich bin Mechaniker."
"Ich Elektriker. Es gibt hier keine Hygiene. Das ist nicht gut. Es gibt zwar Toiletten, aber sie sind sehr schmutzig. Wir sind einfach zu viele. Warum sind die griechischen Polizisten und Soldaten so bösartig? Ein Polizist hat mich geschlagen, dabei bin ich nur runtergegangen, Zigaretten kaufen. Ich sah Araber wegrennen und hielt an. Als die Polizisten mich sahen, rief ich: Hehhehey - Ich bin keiner von denen! - Sie sagten: You, you! Bumm."
Ein Zelt weiter:
"Merhaba."
"Woher bist du? Aus Syrien?"
"Nein, Irak."
Flüchtlinge stehen im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nach dem Brand.
Flüchtlinge stehen im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nach dem Brand.© AFP / LOUISA GOULIAMAKI

Stacheldraht, Zäune, Betonmauern

Das Campingzelt dieser Gruppe steht schräg am Hang. Das ohnehin schon dünne Plastik des Oberzelts ist abgeschabt. Vier Männer sitzen vor dem Eingang, vier weitere versuchen im Inneren auf Wolldecken zu schlafen. Eine Wolke Mücken tanzt im Schein der Glühbirnen, die die Iraker selbst im Zelt angebracht haben. Ob sie so den Winter überstehen können, scheint fraglich, schon Regen bereitet große Probleme:
"Wie viele Leute leben denn hier?"
"13 Männer. Gestern war hier Wasser drin. Hier, das Video!"
Auf dem Video ist zu sehen, wie das Wasser in fingerdicken Adern unter dem Zeltboden entlangfließt, so viel, dass es sogar das Plastik empor drückt. Die Männer, die sich gegenseitig filmen, schwanken zwischen Amüsiertheit und Schock.
Der Rückweg zum Auto führt am abgeriegelten Teil des Lagers Moria vorbei. Flutscheinwerfer tauchen alles in taghelles Licht. Der Stacheldraht, der Zaun und die Betonmauer erinnern mehr an ein Hochsicherheitsgefängnis, als an ein Lager für Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind. Für den griechischen Aktivisten Giorgios, der sich in Moria seit Beginn der Flüchtlingswelle engagiert, ist das mittlerweile ein gewohnter Anblick, der ihn trotzdem aber immer wieder entsetzt.
"Wie hoch ist der Stacheldraht? Vier Meter?"
"Eher sechs. Ja es sind sechs."
"Die Container da drüben sehen wohnlich aus?"
"Das sind Büros. Im Lager gibt es meistens nur Campingzelte."

Das Lager dient der Abschreckung

Winterfest ist anderes, denn auch auf den Inseln sinkt die Temperatur manchmal unter den Gefrierpunkt. Zur Isolierung verlegt die Lagerleitung schlicht Holzpaletten unter die Zelte. Wenn selbst der zuständige Minister Iannis Mouzalas erklärt, er könne nicht garantieren, dass niemand erfrieren wird, fragt man sich schon, ob dies tatsächlich Ausdruck von Hilflosigkeit ist, oder ob hinter der Mangelversorgung nicht etwas anderes steckt. Der Journalist Daniel Howter hat seine eigene Erklärung für die Situation vor Ort:
"Die politische Priorität bestand darin, die Menschenströme zu reduzieren. Dafür ging man einen Deal ein: Einerseits gab man der Türkei Geld, die Boote zu stoppen. Andererseits musste man den Flüchtlingen selbst eine Botschaft senden: Dass sie in Griechenland eine furchtbare Zeit haben würden. Deswegen lässt man die Flüchtlinge dort einfach verrotten, damit diese ihre Familien, Freunde und Bekannte in Syrien, im Irak, in Afghanistan selbst warnen: Geht nicht diesen Weg."
Aber wer hat das am Ende entschieden die Situation eskalieren zu lassen anstatt die Millionen der EU in die Hand zu nehmen, um die Situation wenigstens abzumildern? Ist das die griechische Regierung? Die EU? Niemand scheint das so genau zu wissen, nicht einmal griechische Beamte. Marios Andriotis, der politische Berater des Bürgermeisters von Lesbos ist jedenfalls ratlos:
"Wir warten auf die EU-Finanzierung für die Kosten des Lagers Karatepé, das wir betreiben. Wir haben Projektvorschläge und Budgets an das Migrations- und das Innenministerium geschickt, um einen Teil der Kosten zu bekommen, die Griechenland von der EU als Teil der Nothilfe zugesagt wurden. Der zuständige EU-Kommissar Avramopoulos sagt uns und den Bürgermeistern aller fünf Inseln, auf denen Flüchtlingslager sind, dass es eine Finanzierung gibt und es nur eine Zeitfrage ist. Angeblich habe es nur einige Verzögerungen gegeben, bis das Geld bei Zentralregierung angekommen sei. Aber bis jetzt haben wir insgesamt 750.000 Euro erhalten, also nur für Ausgaben in 2015."

Die Behörden schweigen

750.000 Euro. Mehr nicht. Und das, obwohl Lesbos seit 2015 einer der wichtigsten Anlaufpunkte der Flüchtlinge ist. In der Vergangenheit landeten hier teilweise tausende Flüchtlinge am Tag, mussten versorgt werden. Da sind 750.000 Euro nur ein kleiner Teil der Ausgaben. Wo sind die übrigen Millionen, die die EU für Griechenland bereitgestellt hat?
Erste Anfrage an das griechische Presseministerium: "Da ich zur die Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln recherchiere, würde ich gerne die Lage im Lager Moria mit eigenen Augen sehen und den Direktor interviewen."
"Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass die zuständigen Behörden für Moria sich nicht dazu in der Lage sehen, da die dortigen Mitarbeiter im Lager überlastet sind und sich nicht um die Presse kümmern können."
Zweite Anfrage: "Ich würde gerne jemanden zu den Zuständen in Moria befragen und möchte wissen, warum die EU-Gelder nicht benutzt werden."
Sechs Tage später die Antwort vom Presseministerium: "Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir gerade eine negative Antwort vom Ministerium für Migrationspolitik bekommen haben. Das Interview kann im Moment nicht stattfinden, da der Minister sehr beschäftigt ist."
Die Behörden, der Behördenleiter sind beschäftigt. Vielleicht wollen sie auch einfach nicht mit den Medien Sprechen. Der zuständige Minister heißt Yiannis Mouzalas. Er will nächstes Jahr Menschenrechtskommissar der EU werden. Dabei könnte er sich zunächst vor Ort engagieren: Die Studie von Ärzte ohne Grenzen zeigt ja: Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge treiben sie in den Wahnsinn - oder in den Tod. Studienleiterin Ana Marques:
"Wir müssen die Kosten für menschenwürdige Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge mit den Folgekosten der aktuellen Situation vergleichen, also für Rehabilitation und Psychotherapie der Flüchtlinge. Dazu kommen noch die sozialen Kosten einer gespaltenen Gesellschaft mit etlichen Familienkonflikten. Und wieviel wird es dann das Bildungssystem kosten, mit Kindern umzugehen, die so aufwachsen müssen. Und wie sieht es mit Justiz und Kriminalität aus? Angesichts dieser Aussichten müsste es doch einleuchtend sein, die Empfangsbedingungen schnell zu verbessern, denn die zukünftigen Kosten werden enorm sein, wenn wir weitermachen wie bisher."
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