Flucht vor dem Lärm

Auf der Suche nach Stille

Eine Frau liest in einer Hängematte am Badestrand eines Campingplatzes in Lindau ein Buch.
Wir sind umgeben von Lärm - die Begegnung mit Stille ist für viele deshalb eine neue Erfahrung. © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Von Ulrike Jährling · 25.04.2018
Lärm macht unproduktiv, aggressiv und krank. Deshalb begeben sich viele auf die Suche nach Stille. Aber wie und wo ist sie zu finden? Und was passiert, wenn man ihr begegnet? Ein Feature über die Wirkung von Ruhe und Entschleunigung.
"Die Stadt ist mir einfach zu laut. Gerade am Wochenende die vielen Touristen in unserer Straße, unter unserem Schlafzimmerfenster. Die Läden, die Geschäfte, der 24-Stunden-Lebensmittelladen unter unserem Haus. Das ist mir zu laut!"
Nora, eine Frau aus Berlin.
"Viele Leute, viel Lärm, Verkehrslärm."
Laute Geräusche lassen den Blutdruck steigen. Der Körper schüttet das Stresshormon Cortisol aus. Schon zwei Minuten Stille senken den Blutdruck und stimulieren den Blutfluss im Gehirn.
"Musik überall, Unterhaltung und Zerstreuung überall. Und auch so optische Sachen."
Gerda, eine Frau aus Leipzig.
"Gerade wenn man mit der Bahn fährt - überall wird man vollgepumpt mit Werbung, Plakate - das ist mir auch zu viel."
Unser Gehirn entstammt der Zeit, als es Lagerfeuer gab und Sternenhimmel. Und echte Stille.
"Auf'm Klo ist eigentlich auch immer Stille. Das stille Örtchen."
"Bei dem Wort Stille - also wenn ich an die Stille denke, dann denk ich nicht an die Stille, die von der Akustik her still ist, sondern eigentlich die Stille in mir drinnen."

Stille tut gut

"Also, an manchen Tagen geht es in den Gedanken turbulent zu. Und man kann die nicht ordnen, aufdröseln und so zur Ruhe bringen. Und an manchen Tagen – und das sind eigentlich die besseren Tage – ist alles so wohl geordnet. Und auch mal leer einen kurzen Moment. Also wenn die Gedanken eher in Richtung Stille gehen, geht’s einem besser würde ich sagen."
"Und dann sitzen die Leute auf dem Hof, gucken in die Gegend und man merkt ihnen an, sie tun eigentlich gar nichts, und sie fühlen sich unendlich wohl."
Imme de Haen. Ihr gehört der "Hof der Stille" im Brandenburger Havelland.
"Ja, in der DDR, natürlich! Da gab es ja auch ein Jesuiten-Kloster. Und dieser Jesuit hat – das ist in Biesdorf gewesen – der hatte ein Meditationswochenende veranstaltet. Und da ist man natürlich dabei zu beten, zu singen und zu schweigen. Und das Schweigen hat die Teilnehmer sehr beeindruckt. Die haben gesagt, das ist toll! Das ist so verbindend, so Frieden stiftend. Man müsste das in die Stadt hinaustragen können."
Maria Diefenbach. Mitbegründerin des "Raums der Stille".

Der "Raum der Stille" befindet sich im Seitenhaus des Brandenburger Tores. Mitten in Berlin. Ich plane ihn zu besuchen und die "friedenstiftende Stille" zu erkunden. Imme de Haen erzählt mir von ihrem "Hof der Stille", der umgeben ist von Naturschutzgebiet. Was geschieht hier, wenn nichts geschieht? Dazu berichten mir Freundinnen von ihren Stille-Erfahrungen. Und nicht zuletzt möchte ich mich selbst etwas "stiller" bekommen:
"Kadampa Meditationszentrum Berlin, Guten Tag."
"Ja schönen guten Tag, Ulrike Jährling mein Name. Ich wollte fragen: Ich habe sie im Internet gefunden und auch dieses Angebot dieser 'freien Mittagsmeditation'. Ich wollte jetzt nochmal nachfragen: Muss ich irgendwie Mitglied bei Ihnen sein, oder kann ich einfach so vorbeikommen?"
"Können Sie einfach vorbeikommen!"
"Auch wenn ich komplett unbeleckt bin in dem Ganzen?"
"Das macht nichts. Können sie einfach machen. Ausprobieren!"
"Ausprobieren?"
Ein Schild weist auf den Raum der Stille im Brandenburger Tor hin.
Mitten im Trubel um das Brandenburger Tor findet sich der Raum der Stille.© imago/Enters

Mit den Kindern ist die Musik aus dem Leben verschwunden

Ich finde das verlockend. Mitten an einem Freiberufler-Schreibtisch-Tag, zwischen Mails, Telefonaten und kreativer Arbeit, abschalten! Kein Mittagsmeeting mit noch mehr Input. Stattdessen eine Mittagsmeditation. Der Termin steht jetzt immerhin im Kalender.
Der Austausch mit Menschen aus meinem Umfeld zeigt: Stille scheint uns immer wichtiger zu werden. Mit jedem Altersjahr mehr.
"Mir ist auch mittlerweile Musik zu laut. Früher hab ich ja selber gern sehr laut Musik gehört, sehr laut aufgedreht, dass sich meine Eltern beschwert haben. Mittlerweile werde ich fast selber so wie meine Eltern. Also wenn die Kinder hier extrem laut Musik hören, jeder eine andere Richtung und von beiden Zimmern werde ich beschallt – dann drehen meine Nerven durch."
"Aber das haben viele, also hör ich oft von Leuten, dass Musik sie regelrecht stört. Also Leute mit Kindern sagen das. Dass die Musik in dem Moment aus ihrem Leben verschwunden ist. Nicht mehr mitgemacht, nicht mehr neue Bands. Nicht mehr mitgegangen."
Der Nachwuchs schient ein akustisches "Zuviel" von allem nicht zu kennen. Meine Zahnärztin bringt es beim Smalltalk wunderbar auf den Punkt: "Die Jugend? Immer Musik, Hausaufgaben vorm Fernseher ... Und später, wenn 'se reich sind, kaufen sie sich ein Wochenende, wo sie das Smartphone abgeben müssen."
Mein Sohn spielt per Smartphone und Boom-Box heftigste, bass-lastige Musik vor.
"Und das macht Dir keinen Stress? Ich krieg Schweißausbrüche beim Hören!"
"Ich find halt so 'ne Musik. Beim Hören auf Kopfhörern ist es einfach so, du denkst: Boah! Ich hab wirklich manchmal so Momente, wo ich durch die Straße laufe und einfach nur: Oah!"

Was Stille im Gehirn bewirkt

"Stille" ist für meinen 17-jährigen Sohn und seine Freunde eher kein Thema. Es regiert die Kraft der Jugend. Warum unsere Nerven im Alter dünner werden, auch was Geräusche angeht, erklärt unter anderem ein Blick in die Forschung. In einer Studie mit Mäusen sollte der Einfluss von verschiedenen Geräuschen auf das Gehirn untersucht werden.
Getestet wurde mit normalen Umgebungsgeräuschen, besonders hohen Geräuschen und Hundebellen. Dazu kamen Momente der Stille – für einen neutralen Vergleichswert. Das Forschungsergebnis war verblüffend: Im Hippocampus der Mäuse, also jener Hirnregion, die mit dem Lernen, dem Gedächtnis und mit Emotionen verknüpft ist, wuchsen neue Zellen. Auslöser dafür waren nachweislich: täglich zwei Stunden Stille.
Stille sorgt für Regeneration.
"Ich such' die auch in Kirchen. Ganz bewusst. Also wenn andere bummeln gehen, shoppen gehen, gehe ich lieber in eine Kirche und setz mich da hin und ruh mich mal aus. Das tut mir sehr gut, in der Stille der Kirche zu sitzen."
Mit ihrem "Hof der Stille" hat sich Imme de Haen einen Traum erfüllt. Im Brandenburger Havelland restaurierte sie einen alten klassischen Vierseithof. Große Ulmen spenden den roten Backsteinhäusern Schatten. Regelmäßig empfängt die Meditationslehrerin hier Gäste.

"Ich muss immer schmunzeln! Wenn Leute ankommen und die Natur sehen und das Wasser sehen und die Bäume sehen – das ist eine ganz wunderschöne Natur –, sind sie ganz begeistert. Und dann fragen sie mich auch gleich: 'Welche Ausflüge kann man machen? Was kann man besichtigen? Wo kann man hier hinfahren?' Dann gebe ich ihnen ein paar Tipps, und dann sagen sie: 'Haben Sie auch eine Karte?' Und: 'Ach, das ist ja interessant, also gell, da machen wir dann morgen einen Ausflug.' Am anderen Tag sagen sie: 'Ja, wir haben uns überlegt vielleicht doch eher übermorgen.' Und letztlich kommt es überhaupt nicht zu dem Ausflug, weil sie gemerkt haben, wie vielfältig und wie anregend und wie spannend es ist, wenn gar nichts passiert."
Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard formuliert es noch zugespitzter:
"Wenn alles still ist, geschieht am meisten."
Straße in Brandenburg bei Fürstenwerder am Großen See
Auf dem "Hof der Stille" in Brandenburg kommen gestresste Großstädter wieder zur Ruhe.© imago/Gerhard Leber

Wie sich Hören und Sehen verändert

"Durch die unglaubliche Stille bietet der Hof ein wunderbares Feld für Wahrnehmung. Der Selbstwahrnehmung und der Naturwahrnehmung. Es verlangsamt sich alles. Das Hören. Das Sehen. Das Spüren. Und dadurch wird es viel intensiver."
Gäste auf dem Hof der Stille können sich einquartieren und einfach zur Ruhe kommen. Oder sie gehen einen Schritt weiter:
"Ich veranstalte ja sogenannte Schweigewochen. Das heißt, dann kann man nicht nur die Stille in der Umgebung genießen, sondern dadurch, dass man auch nicht mehr sprechen darf, eine ganze Woche lang, merkt man, dass sich Stille immer noch intensivieren kann."
"Ich habe bis jetzt nur die Erfahrung von einem Schweigetag. Und das war Wahnsinn. Ich war total tiefenentspannt, ich war ganz bei mir. Ich bin mir selber ganz anders begegnet, hab mich selber noch mal ganz anders kennen gelernt und war richtig traurig, als dass Schweigen dann wieder durch die Gruppe gebrochen wurde. Also das war innerhalb eines Seminars. In Kloster Lehnin. Und das war so schön, dass ich eigentlich Sehnsucht habe, das irgendwann noch einmal zu wiederholen."
"Genau, Schweigen. Das ist ja auch so was Fernöstliches oder Buddhistisches oder so. Dass man gar nicht spricht. Würd' ich aber nicht aushalten!"
"Es ist noch nie jemand vorzeitig abgereist, weil er gesagt hat, das halte ich nicht aus. Aber jeder – behaupte ich mal – hat am zweiten Tag spätestens den Impuls abzureisen. Und zu sagen: Was mach ich hier eigentlich, bin ich verrückt?"

Eine Stunde meditative Arbeit

Bereits vor dem Frühstück gibt es die erste Meditation. Ganz wichtig in der weiteren Struktur des Tages innerhalb der Schweigewoche ist die meditative Arbeit, sagt Gastgeberin Imme de Haen. Eine Stunde lang.
"Im Winter zum Beispiel Nüsse knacken oder Flyer falten und im Sommer Unkraut jäten. Und dann gibt es nochmal eine Meditation, dann Mittagessen, und der Nachmittag ist im Prinzip frei. Aber für den Nachmittag gibt es dann immer noch eine Naturaufgabe. Und da liegt dann ein Zettel im Flur, da steht die Aufgabe drauf. Und eine meiner Lieblingsaufgaben lautet dann zum Beispiel: Suche das ganz Kleine und vertiefe dich darin."
"Eva Strittmatter: Vor dem Winter
Ich mach ein Lied aus Stille
und aus Septemberlicht.
Das Schweigen einer Grille
geht ein in mein Gedicht.
Der See und die Libelle.
Das Vogelbeerenrot.
Die Arbeit einer Quelle.
Der Herbstgeruch von Brot."
"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es wirklich sechs Tage braucht, um da hinzukommen, wo man eigentlich hinmöchte. Nämlich das, was einem im Alltag ständig begegnet, das zu relativieren."
"Der Bäume Tod und Träne.
Der schwarze Rabenschrei.
Der Orgelflug der Schwäne.
Was es auch immer sei,
Das über uns die Räume
Aufreißt und riesig macht
Und fällt in unsre Träume
in einer finstren Nacht."
Eine Teilnehmerin einer Schweigewoche auf dem Hof der Stille fragte einmal, ob sie Vorher-Nachher-Fotos machen darf, erzählt Imme de Haen.
"Ich war zwar nicht so begeistert, aber ich hab's dann gelassen. Und Sie können sich nicht vorstellen – es ist, als ob die Teilnehmerinnen auf der Wellness-Farm gewesen wären. Sie sind rosig, sie sind freundlich, lächelnd, die Haut ist gut durchblutet, die Augen strahlen. Und im Verhältnis dazu, wie sie angekommen sind - müde, nervös, gereizt, blass – ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht."

Flucht vor dem Stress im Alltag

Die Teilnehmer werden immer jünger, beobachtet Imme de Haen. Auch ein Topmanager war schon da. Nach einer Kündigung im Job war seine Frage in der Stille: Wo soll es hingehen, was will ich wirklich?
"Ich mach ein Lied aus Stille.
Ich mach ein Lied aus Licht.
So geh ich in den Winter.
Und so vergeh ich nicht."
Imme de Haen, die früher die evangelische Journalistenschule in Berlin leitete, ist keine Buddhistin, aber sie hat für das Konzept des Buddhismus viel übrig. Sie geht ihn selbst immer wieder – den Weg in die Stille. In der Meditation. Dazu kommt: Ihr Hof der Stille ist in der Stille gelegen.

"In dem Dorf, in dem der Hof liegt, hört die Straße auf. Es gibt keine Durchgangsstraße. Der Hof liegt direkt am Naturpark Westhavelland, es ist alles Naturschutzgebiet, ringsum. Hinter dem Hof fließt ein Nebenfluss der Havel, da gibt es dann Schwäne und Reiher, weiße Reiher und graue Reiher, und manchmal fliegt der Adler über den Hof und natürlich die Wildgänse. Im Herbst machen hunderttausende Gänse dort Rast. Die Natur ist so vielfältig und so rein, dass ich immer das Gefühl habe: Ich stelle den Ort zur Verfügung, ich biete auch ein bisschen Inhalt an, aber eigentlich überlasse ich alles der Natur. Und die heilt. Und die sorgt dafür, dass die Menschen, die zu mir kommen, sich wohlfühlen und sich "entfalten" können. Und das ist eigentlich alles."
Eine Woche Schweigen. Und dann: Auftauchen. Am Ende der Schweigewoche steht die Abschlussrunde.
"Wir heben dann das Schweigen auf, ganz feierlich, mit Gong. Und dann hat jeder die Möglichkeit was zu sagen. Und dann ist erstmal Stille."
"Schon wieder?"
"Ja. Was soll man denn jetzt eigentlich sagen. Und dann kommen die Sätze. Und dann fließen die Tränen. Und dann ist jeder so bewegt und so berührt von diesen unglaublichen Erfahrungen, die man gemacht hat im Laufe der Woche. Wo wirklich nichts passiert ist eigentlich."
Eine Frau meditiert vor einem Sonnenuntergang.
Meditieren oder auch nur eine Stunde schweigen fällt vielen Menschen schwer.© imago/stock&people/UIG

Meditieren in der Straßenbahn

Zurück in der Großstadt. Gerda und Nora kämpfen sich durch den Geräusche-Stress des Alltags. Die eine in Berlin, die andere in Leipzig. Überall Input.
"Für mich immer noch sehr fremd und gewöhnungsbedürftig, dass einer so vor sich hin quatscht, und die anderen mit seinem Alltagsgewäsch traktiert."
"... Bewerbungsgespräche führt in der Straßenbahn ... Anruft und sagt: Mein Name ist so und so. - Hab ich jetzt in letzter Zeit zwei Mal erlebt. Einmal hat einer angerufen wegen irgendwelchen Schuldensachen, um die zu klären. Mit seinem vollen Namen. Für mich befremdlich."
Nora, die als Sozialpädagogin arbeitet, hilft sich mit Meditation.
"Hab ich gerade heute wieder gemacht. Ich bin heute auch in der Bahn gefahren, im vollen Wedding, musste zu einem Hausbesuch. Und es war mir einfach zu voll, zu laut, auch stinkende Leute in der Bahn, und da habe ich einfach für mich selber die Stille gesucht. Ich habe aber auch so eine App auf meinem Handy, eine Meditations-App. Also es gibt ja da ganz verschiedene. Einfach Kopfhörer rein und dann die Stille."
"Man sagt ja auch, dass es Leute gibt, die sich einfach nur Kopfhörer aufsetzen, damit sie so aussehen also ob, damit sie nicht angesprochen werden. Die sind dann so unnahbar dadurch."
Die erste Anmutung ist sonderbar: Meditieren in der Straßenbahn. Aber wer geübt ist ...
"Also ich habe so einen Meditationskurs gemacht, da war gerade nebenan ein Dachbau. Und die Dachdecker haben laut gehandwerkt, und da hab ich gesagt, ich kann doch hier nicht meditieren, wenn die Dacharbeiter da so laut arbeiten! Und da wurde ich darauf hingewiesen, dass auch gerade in Bangkok oder in den asiatischen Ländern – da ist es ja immer sehr laut – die Leute in ihren Räumen meditieren und einfach wegtreten und den Großstadtlärm – in Bangkok zum Beispiel – gar nicht mehr wahrnehmen."

Ein Raum der Stille im Brandenburger Tor

Szenenwechsel. Mit Freundin Gerda stehe ich mitten in Berlin, vorm Brandenburger Tor. An der Eingangstür zum angrenzenden nördlichen Seitenhaus hängt ein Plakat:
"Treten Sie ein, hier dürfen Sie schweigen. Ah, Handy aus."
"Information über den Raum der Stille liegen dort auf dem Tisch."
Obwohl ich Berlinerin bin, die so manches Mal Gäste durch ihre Stadt lotste, wusste ich bis zu meinen Recherchen nichts von diesem "Raum der Stille" – hier im Brandenburger Tor. Im kleinen Foyer sitzt eine ältere Dame an einem Tischchen und verweist auf die ausliegenden Informationsblätter. Es gibt sie in über 20 Sprachen. Wir nehmen das Papier mit hinein in den Raum der Stille, Lesen funktioniert ja auch leise. Eine "Stillbeschäftigung".
Der Raum der Stille ist unspektakulär. Graue Stühle an der Wand, beige Vorhänge vor den Fenstern, die Decke mit Akustik-Platten abgehängt, ein Lichtspot auf einen Webteppich an der Wand – mehr nicht. Ein Besucher liest ein Buch, eine Dame sitzt mit geschlossenen Augen, wir studieren den Flyer. Der Raum der Stille ist in seiner Gestaltung bewusst schlicht gehalten, lesen wir, weil er auf jede religiöse, weltanschauliche oder politische Ausrichtung verzichtet. Er ist gedacht als ein Ort, Zitat: "der Nachdenklichkeit, der Geschwisterlichkeit und der Friedfertigkeit".
Als wir nach zehn sehr stillen Minuten den Raum wieder verlassen, haben wir erstmal keinen Platz für edle Gedanken. Die Stille hat uns fast befremdet.
"Das drückt so. Ich dachte, ich muss gleich husten, und hoffentlich ist mit mir alles in Ordnung: Mein Blut rauscht so, ich finde, auch wenn gar nichts ist – ist es so bedrückend. Da stört man selber mit seinen Körpergeräuschen. Man muss so leise atmen."
Menschen und ihre Wahrnehmungen. Wie berührend die gleiche, für uns als drückend empfundene, Stille auf andere wirkt, zeigt der Blick auf die vielen Eintragungen im Gästebuch, das im Foyer ausliegt.
"Ich komme aus Südkorea. Frieden wünsche ich."
"Mein Papa hat, glaub ich, gebetet, war schön."
"Japanisch? Was denkst du?"
"Oder chinesisch. Das ist wirklich rührend, mit den ganzen Sprachen. Und dass es Menschen aus der ganzen Welt so sind. Und dass alle trotzdem diesen Gedanken so verstehen."
"Einer hat geschrieben: Tut mir leid. 24.12. Da war garantiert Familienkrach."
"Wenn man still ist, kann man besser küssen."
"Stille stillt meinen Kampf, Stille stillt meine Sehnsucht. In der Stille bin ich voll da."
"Eine wunderbare Geste: Hier dürfen Sie schweigen. Danke."
"Ich bin voller Gefühle an diesem historischen Ort. Danke."
"Zwei, die ich nie vergesse, sind von jüdischen Besuchern."

Schweigen und Vergeben

Maria Diefenbach, Gründungsmitglied und ehemalige Vorsitzende des Förderkreises "Raum der Stille e.V."
"Eine Frau aus Pittsburgh, die schrieb: Forgiveness have I finally found. Endlich habe ich die Möglichkeit gefunden, hier Vergebung zu erfahren. Die Tatsache, dass mein Großvater von den Nazis ermordet wurde. Ich dachte, dass das Nazi-Denken ein Denken des deutschen Wesens sei. Jetzt aber verstehe ich, so ist das gar nicht. Der Raum der Stille zeigt mir ja, wie anders Deutschland tickt. Und deshalb schreibt sie am Ende: God bless you grandpa. God bless you Germany. Peace rules! Das ist unglaublich, und man könnte fast gerührt sein. Ich bin auch gerührt, wenn ich das vorlese oder sage."
In dieser Gästebuch-Eintragung kommt der Gedanke zum Tragen, der Maria Diefenbach und ihre Mitmenschen im Förderkreis angetrieben hatte: die Idee eines Berliner "Raumes der Stille" zu verwirklichen. Eine Idee, die schon Ende der 80er-Jahre in Ost-Berlin geboren wurde, im Jesuitenkloster in Biesdorf. Der Gedanke der "Friedfertigkeit durch Stille" steckt auch in dem flammenden Brief, den Bürgermeister Eberhard Diepgen 1992 erhielt. Damals wurde erwogen, das Seitenhaus des Brandenburger Tores für Werbezwecke der Stadt zu nutzen. Der Bausenator aber half dem Förderkreis "Raum der Stille e.V.".
"Indem er schrieb: Ein Raum der Stille ist angesichts der schweren Schuld, die Deutschland getragen hat seit 1933 bis 89 – also der würde am ehesten dem Genius Loci, dem Geist des Ortes entsprechen. Und wir wissen ja, was für ein Geist hinter dem Brandenburger Tor steht: Nämlich es war konzipiert als Friedenstor von Friedrich Wilhelm dem Zweiten."
Seit dem Herbst 1994 beherbergt das nördliche Seitenhaus des Brandenburger Tores den "Raum der Stille", finden Besucher hier Momente der schlichten Verschnaufens, der inneren Einkehr oder eben der großen Gedanken.
"‘Welch eine Chance für unser Europa, für unser vereintes Europa! Quelle chance pour une europe unique.‘ Also das ist auch etwas, was einen zum Überlegen, Denken und Danken führt."
Maria Diefenbach wertet die Gästebuch-Eintragungen aus, sie will das "Echo der Stille" herausgegeben.
"Aber nur bis zum Buch 50, wir haben aber Buch 80 inzwischen. Und da kommt es auch vor, dass viele sagen, die Stille, ich kann sie nicht ertragen, Stille ist blöd, und Stille ist tot. Solche Eintragungen gibt es natürlich auch. Aber das sind die allerwenigsten. Die meisten sagen: Ah, was eine wunderbare Stille. Was hat mir das jetzt gegeben. Ich komme immer wieder, wenn ich auftanken muss oder wenn ich irgendwie ein Problem habe, das ich bedenken könnte."
"Dietrich Bonhoeffer: Es liegt im Stille-Sein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche."
Dieser Satz begleitet jeden Besucher in den Raum der Stille, wenn er das Informationsblatt mit hinein nimmt. Eine ganze Riege an ehrenamtlichen Helfern sorgt dafür, dass der Raum der Stille täglich öffnen kann.
"Wir haben hier eine 'Feuerwehr', die ist unglaublich, das will ich Ihnen noch erzählen. Eine Dame, die schon von Anfang an dabei ist. Ursula Schneider, sie ist 94. Und macht immer noch Dienst. Und wenn ich sie anrufe, erkennt sie meine Stimme und sagt 'Brennt's wieder? Ich komme.' Solche Leuten haben wir. Und jemand anders hat mal gesagt: Frau Diefenbach, wir sind ein toller Haufen. Das stimmt auch."
Momentan sammle man Geld für eine Belüftungsanlage, erzählt Maria Diefenbach, auch eine Umgestaltung ist geplant, weg vom Büro-Charme der 1990er-Jahre. Die Schlichtheit des Raumes aber wird bleiben. Und die – durchaus trockene – Stille.
"Also kitschig wäre, wenn wir ein bisschen Musik hätten. Das auf gar keinen Fall. Nee, man sollte tatsächlich, ohne dass man eine Anregung bekommt – wie soll ich denn die Stille hier benutzen - sondern jeder soll nach seiner Art still werden können: Hach, jetzt komm ich dazu, was ist denn wichtig für mich? Dauernd renne ich und Hektik und Stress und so weiter, aber hier? Es ist ja auch eine Anregung, auch zu Hause mal stille zu sein."

Pausen machen kreativ

Wie steht es eigentlich um die Stille, die wir nicht bewusst planen und suchen, sondern die einfach so "passiert"?
"Also ich versuche mein Leben gar nicht so auszufüllen. Wir sind jetzt gar nicht so Event-Leute, die immer unbedingt was machen müssen. Also wir liegen auch oft einfach auf dem Sofa, oder teilweise lieg ich auf dem Sofa und guck in den Himmel, in den Abendhimmel."
"Ich brauch diese Ruhezustände auch. Und auch wegen Kindern, da ist es oft turbulent. Man bekommt viel noch mal von außen gesagt, man muss noch irgendwas tun. Und wenn man dann mal gar nicht tun muss, sondern nur auf dem Sofa liegen darf und darüber nachsinnen darf über den Tag und seine Gedanken ordnen – also das mach ich eigentlich gern. Aber das ist für mich auch so: Dann lieg ich halt auf dem Sofa, die Auszeit nehme ich mir!" Und das hab ich seit Jahren so gelernt für mich. Dass ich das so machen kann."
Sich die Pausen zu gönnen, zu erlauben, ist nicht für jeden selbstverständlich. Gut fühlt sich, wer Leistung bringt. Oder mindestens "aktiv entspannt". Zum Sport geht. Und sowieso: Pause machen wir, wenn wir mit allem fertig sind. Wir wollen sie "verdienen". Dabei machen Pausen sich selbst verdient.
"Vernachlässigen wir Pausen, sinkt unsere Leistungsfähigkeit. Muss der präfontale Kortex im Gehirn ohne Unterbrechung Reize verarbeiten, leidet unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen."

Und: Pausen machen uns kreativ. Was wir selbst manchmal als "verlorene Zeit" betrachten, ist für unser Gehirn echte Arbeitszeit. Seit den 90er-Jahren wissen Forscher um das "Ruhezustands-Netzwerk" im Gehirn, das "default mode network". Der Neuropsychiater Theo Compernolle erklärt es so:
"Dieses Netzwerk ähnelt einem Team aus Millionen intensiv zusammenarbeitender Bibliothekare und Archivare. Die sehen sich alle neuen Informationen an, ordnen, sortieren aus, speichern und bringen sie in Zusammenhang. Zudem suchen sie im Archiv, um festzustellen, ob es älteres Wissen gibt, das dafür wichtig sein könnte. Dabei gehen sie durchaus kreativ vor und erzeugen neue, überraschende Assoziationen."
"Tatsächlich ist das so. Wenn ich nachmittags auf dem Sofa liege, dann denk ich auch darüber nach, was ich gemacht habe, wie ich vielleicht noch ... oder ich denke gar nicht, wie ich noch weiter machen könnte, sondern das schießt mir dann allein in den Kopf, was ich dringend noch machen MUSS! Wie ich weiter arbeiten kann und so."
Gerda ist Buchautorin & Illustratorin.
"Und ohne diese Momente wär ich vielleicht gar nicht so effektiv, oder ich müsste das dann selber vorantreiben. Kann man auch, man kann sich Ideen aus dem Kopf ziehen, wenn man muss. Aber ob die so gut sind? Die verwirft man dann eher als die. Also meistens die Ideen, die einem einfach kommen in so stillen Momenten, sind die, die sich als die besseren und weiter tragenden entpuppen."
Das Ruhezustands-Netzwerk wird ausgeschaltet, sobald wir unser Gehirn wieder bewusst anschalten. Ein Beispiel dafür kennen wir alle: Im Gespräch suchen wir krampfhaft nach einem Namen, der uns gerade entfallen ist. Wer erinnern ihn genau dann, wenn wir nicht mehr an ihn denken. Soll unser geniales Ruhezustands-Netzwerk arbeiten, braucht es Pausen, Stille und Muße.
"Es gibt ein ganz schönes Zitat, von wem auch immer - also ich lese es ganz häufig und es wird immer jemand anderem zugeschrieben, deshalb brauche ich den Namen gar nicht zu nennen – ‚Die Muße ist der Nährboden der Identität.‘"
Eine Frau sitzt am 17.02.2014 in München (Oberbayern) bei Sonnenschein auf einem Stuhl. Milde Temperaturen und sonniges Wetter laden zum Sonnenbaden ein. 
Pausen machen kreativer und müssen nicht erst erarbeitet werden.© picture alliance / dpa / Nicolas Armer

Einfaches Geheimnis: still sitzen und atmen

Wenn Besucher ihren Hof der Stille verlassen, sei es ihre schönste Belohnung, sagt Imme de Haen, wenn sie etwas mitnähmen in ihren Alltag. Sich vielleicht eine Meditationsecke einrichten in den eigenen vier Wänden. Wobei Imme de Haen mit dem Begriff Meditieren ihre Schwierigkeiten hat.
"Ich finde den sehr hoch gehängt. Also ich würde sagen: Sitzen in der Stille reicht völlig aus. Dann hat man auch nicht so ganz große Ideen, was dabei rauskommen könnte."
"Buddhismus ist ja jetzt nicht unbedingt nur eine Religion, sondern einfach auch eine Lehre, wie man gut leben kann."
"Achtsam sein mit anderen, Mitgefühl, achtsam mit sich selbst. Und das machst du ja auch in der Meditation. Also es gibt ja da ganz viele Sachen. Also man muss nicht Buddhist sein, um das gut zu machen."
"Stille ist nicht alles. Also man kann nicht immer in der Stille leben. Aber man braucht die Stille, um leben zu können. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt."
"Eigentlich ist das ganze Geheimnis: Still sitzen und atmen. Ein und aus. Und ein und aus."
"Sie brauchen keine Angst zu haben…"
"Nee, ich freue mich."
Es ist Donnerstag, 12.30 Uhr. Im meinem Kalender stand: Mittagsmeditation. Und was im Kalender steht, das gilt.
"Schön. Es gibt immer noch Leute, die noch nie meditiert haben. Ja. Das ist klar."
Die folgende halbe Stunde auf einem Kissen und mit geschlossene Augen gehört nicht ins Radio. Sie war ganz meine. Meine Stille.
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