Florian Werner liest Musik

Lucy auf LSD

Von Florian Werner · 06.11.2014
Mit ihren Kostümen, den psychedelischen Albumhüllen und der Musik, die sie covern, zeigen "The Flaming Lips" ihre Nähe zu den Hippies der 60er-Jahre. Jetzt hat die US-Band das Album der Beatles "Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band" neu aufgenommen. Dazu gehört auch der Song "Lucy in the Sky with Diamonds".
Picture yourself in a boat on a river
With tangerine trees and marmalade skies
Somebody calls you, you answer quite slowly
The girl with kaleidoscope eyes
Stell Dir vor, Du sitzt in einem Boot, am Ufer wachsen Mandarinenbäume, der Himmel besteht aus Orangenmarmelade, und plötzlich taucht ein Mädchen mit Kaleidoskopaugen auf.
Angeblich hatte der damals dreijährige Julian Lennon seinem Vater eine Zeichnung mitgebracht, die seine Spielkameradin Lucy O'Donnell zeigte, am Himmelszelt schwebend, von Diamanten umschwirrt; das Bild, beteuerte John Lennon später, diente ihm als Inspiration. Aber es ist schon verständlich, warum viele Hörer 1967 meinten, es handele sich bei dem Songtitel um ein Akrostichon − und bei Lucy, Sky und Diamonds um eine Anspielung auf die halluzinogene Droge LSD.
Cellophane flowers of yellow and green
Towering over your head
Look for the girl with the sun in her eyes
And she's gone, gone, gone ...
Neben Kinderzeichnungen und Lysergsäurediethylamid gab es aber auch literarische Einflüsse. Am deutlichsten ist das Vorbild von Lewis Carroll und dessen Alice-im-Wunderland-Geschichten: Wie im Kaninchenbau bzw. dem Land hinter den Spiegeln sind auch in Lucys Himmelswelt Raum und Zeit variabel; Menschen und Tiere können plötzlich zu gewaltiger Größe anwachsen oder auch schrumpfen − und bisweilen verschwinden sie ganz, wie die Carrollsche Grinsekatze, von der zuletzt nur noch das Lächeln übrig ist.
Gone, gone, gone, gone, gone, gone ...
Wie kann ich wissen, dass ich nicht allein auf der Welt bin?
Hier stellt das Lied eine zentrale erkenntnistheoretische Frage − die durch die Wiederholung des Wortes gone, "weg" in der Version der Flaming Lips noch betont wird: Wie kann ich wissen, dass ich als denkendes, fühlendes Wesen nicht allein auf der Welt bin? Wie kann ich wissen, dass es sich bei den Figuren, die ich sehe, nicht um automatisierte "Schaukelpferdmenschen" handelt oder, wie es in einer späteren Strophe heißt, um Wesen aus plasticine, also Knetmasse? "Doch da sehe ich zufällig Menschen auf der Straße vorübergehen", schreibt René Descartes in den Meditationen, "und doch sehe ich nichts als Hüte und Kleider, unter denen sich ja Maschinen verbergen könnten."
Followed her down to a bridge by a fountain
Where rocking horse people eat marshmallow pie
Everyone smiles as you drift past the flowers
That grow so incredibly high.
Tatsächlich wechseln die mechanisch wippenden Wesen kein Wort mit dem Du, das den Fluss hinuntertreibt − sie lächeln nur enigmatisch wie die entkörperte Grinsekatze. Ja, nicht einmal die Augen, die traditionell als Indiz für das Vorhandensein eines Bewusstseins (oder gar einer Seele) gewertet werden, lassen erahnen, ob die Figuren belebt sind: Die Knetmassemenschen spiegeln nur mit ihren looking-glas ties ihr Gegenüber. Und in Lucys Kaleidoskopaugen bricht sich vielfach verschachtelt die Sonne.
Picture yourself on a train in a station
With plasticine porters with looking glass ties
Suddenly someone is there at the turnstile
The girl with kaleidoscope eyes
Letzten Endes ist auch der Song nichts weiter als eine Spiegelung: ein verspätetes, verzerrtes Echo auf die Sechzigerjahre, die bei den Flaming Lips gleichermaßen als psychedelischer Sehnsuchtsort und als dessen Parodie erscheinen. Und − er verweist bei allen Coverversionsqualitäten unentwegt auf das große Vorbild: Wie jede gute Kopie weckt er die Sehnsucht danach, das Original zu hören.
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