Finnland nach dem Lockdown

Lage stabil, Laune gut

22:24 Minuten
Ein Fahrradfaher vor der Uspenski-Kathedrale in der finnischen Hauptstadt Helsinki.
Selbst Helsinki ist keine wirkliche Großstadt: Es ist einfach, hier Abstand zu halten. © dpa / picture alliance / Robert Harding
Von Michael Frantzen · 05.10.2020
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Die Finnen sind ein Volk, das schon immer Abstand gehalten hat. Das hat sich in Zeiten von Corona bewährt. Hier kam der Lockdown früh. Es gibt geringe Infektionszahlen und viel Gelassenheit im Umgang mit der Pandemie.
Humor ist, wenn Frau trotzdem lacht. Helsinki, die finnische Hauptstadt. Es ist Donnerstagabend. Und der Wirbelwind auf der Bühne: ganz in seinem Element. Comedy von Frauen gemacht, aus feministischer Sicht: das ist das Alleinstellungsmerkmal von Helenas Pöllänens "All Female Panel".
Seit drei Jahren gibt es ihre Comedy-Reihe im "Botta", dem Szene-Club hinter dem Parlament, und normalerweise füllen die fünf Komikerinnen locker den großen Saal mit Platz für 110 Zuschauer. Normalerweise. Jetzt können sie froh sein, dass sie in den kleinen Saal dürfen. 40 Leute passen da rein – gerade so viele, wie die Corona-Vorgaben hergeben.
"Du stellst schon fest, dass weniger Leute in Comedy Clubs gehen. Wir verkaufen weniger Tickets, seitdem Corona wieder größeres Thema ist. Ich glaube, viele haben Angst. Heute haben wir nur knapp 20 Tickets verkauft. Ich manage das 'All-Female-Panel' zusammen mit den vier anderen. Als Produzentinnen verdienen wir unser Geld mit dem Kartenverkauf. Du kannst dir ja vorstellen, was da am Ende übrig bleibt: fast nichts."

Loses Mundwerk und viel Galgenhumor

Im 5,5-Millionen Einwohner-Land hat Helena einen gewissen Promi-Status. Die Frau mit dem losen Mundwerk bricht in der Pause in schallendes Gelächter aus. Prominent? Sind andere. Aber natürlich erkennen sie jetzt Leute auf der Straße. Seit im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Yle im März eine Doku über das "All Female Panel" lief. Wie sie es mit Ach und Krach und viel Galgenhumor schafften, von einem Auftritt an der spanischen Costa del Sol nach Helsinki zurückzukommen, Stunden bevor Spanien die Grenzen dicht machte.
Die finnische Komikerin Helena Pöllänen
Darf nach dem Lockdown jetzt wieder auf die Bühne: die finnische Komikerin Helena Pöllänen.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
"Meine Schwester hat mir ein Auto am Flughafen von Helsinki hingestellt, damit ich direkt in das Sommerhaus unserer Eltern in Ostfinnland fahren konnte. Da habe ich mich die ersten zwei Wochen einquartiert. Ganz alleine. Ich musste ja in Quarantäne, weil ich aus Spanien kam. Keiner wusste, wie es weitergeht. Mit der Zeit habe ich dann festgestellt: Mist, alle meine Engagements sind gecancelt. Also habe ich mir gedacht: Okay, dann bleibst du einfach länger hier. Es blieb mir nichts anderes übrig als abzuwarten."

In harten Zeiten tut Lachen gut

Die Komikerin nimmt einen Schluck Bier. Seit Juli ist sie wieder in Helsinki – und heilfroh zurückzusein. Zwar hatte sie in ihrem Asyl im finnischen Nirgendwo einen Aushilfsjob als Sozialarbeiterin für alkohol- und drogenabgängige Jugendliche. Doch der war zeitlich befristet und mittelprächtig bezahlt. Und die 3000 Euro staatliche Künstler-Nothilfe hat sie nicht bekommen. Warum, weiß sie bis heute nicht.
"Wie ich damit klar gekommen bin? Na ja, es wäre super gewesen, die 3000 Euro zu haben. Aber ich arbeite seit Jahren freiberuflich. Ich bin es gewöhnt vorzusorgen. Deshalb lege ich in den Monaten, in denen ich gut verdiene, Geld auf die hohe Kante, um damit Durststrecken zu überbrücken. Ich bin auch so zurechtgekommen. Aber klar wäre es eine Erleichterung gewesen. So habe ich mir gedacht: Suchst du dir halt einen anderen Job."
Helena ist zurück auf der Bühne. Eine kurze Improvisation, dann übergibt sie das Mikrofon an die nächste Komikerin. Auch bei ihr dreht sich alles um Corona, was sonst.
"Humor ist eine gute Art, um mit der ganzen Situation klarzukommen. Er hat etwas Verbindendes. Deshalb: Ja, du kannst Witze über Corona machen, solange sie respektvoll sind. Schau dir nur die sozialen Medien an: Da wimmelt es von witzigen Corona-Zitaten und Clips. Gerade in harten Zeiten tut es gut zu lachen."

Die drittniedrigste Corona-Infektionsrate Europas

Seinen Humor hat auch Mika Salminen nicht verloren. Das letzte halbe Jahr als hektisch zu bezeichnen, sei noch untertrieben, meint der Gesundheitsdirektor von THL, dem "Nationalen Institut für Gesundheit", so etwas wie das Robert-Koch-Institut Finnlands. Krisensitzungen, Pressekonferenzen gemeinsam mit der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin, Termine im Gesundheits- und Sozialministerium: Die Tage des 1,90-Meter-Mannes waren lang, die Nächte kurz.
Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Pro Kopf hat Finnland die drittniedrigste Corona-Infektionsrate Europas. Weniger als 340 Finnen sind an den Folgen von Covid-19 gestorben.
"Ich kann ihnen auch nicht genau erklären, warum das so ist. Ich kann ihnen aber ein paar Hypothesen bieten. Punkt eins: Finnland hat verhältnismäßig schnell und umfangreich das öffentliche Leben heruntergefahren. Im Vergleich zu anderen nordischen Ländern wie Norwegen und Dänemark ein, zwei Wochen früher, von Schweden ganz zu Schweigen. Das hat es uns ermöglicht, dafür zu sorgen, dass sich das Virus weniger schnell ausbreiten konnte. Punkt zwei: Wir haben für drei Wochen den Großraum Helsinki abgeriegelt. Niemand konnte mehr rein oder raus. Auch das hat das Virus in Schach gehalten. Und Punkt drei: Wir sind ein dünn besiedeltes Land. Selbst Helsinki ist keine wirkliche Großstadt. Das alles sind Faktoren, die uns zu Gute kommen."
Mika Salminen, Gesundheitsdirektor des "Nationalen Instituts für Gesundheit" in Finnland
Mika Salminen ist Gesundheitsdirektor des "Nationalen Instituts für Gesundheit".© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Untergebracht ist THL auf einer Art Campus am Stadtrand Helsinkis, in frisch renovierten Funktionsbauten mit minimalistischen Möbeln und moderner Kunst an den Wänden.

Viele Finnen machen Homeoffice

Salminen hat sich ins Institutskasino gesetzt. Durch das Fenster fällt die Nachmittagssonne. Außer ihm ist niemand da. Wegen Corona sind fast alle Kollegen zu Hause, im Homeoffice.
"Das funktioniert viel besser als gedacht. Ich weiß noch, wie ich im März in Krisen-Sitzungen saß, mit den Personalchefs der Ministerien und alle meinten: Unmöglich, das schaffen wir nie. Wie sollen denn alle von zu Hause aus arbeiten? Da brechen doch unsere Datensysteme zusammen. Nichts ist zusammengebrochen. Wir haben ziemlich schnell unsere Kapazität hochgefahren, ganz problemlos. Während des Lockdowns von Mitte März bis Mitte Mai haben zwei von drei Finnen Homeoffice gemacht. Wir raten den Leuten immer noch: Wenn ihr wählen könnt, arbeitet zu Hause. An unserem Institut tun das momentan schätzungsweise 90 Prozent."

Auch Finnland hat einen "Christian Drosten"

Der Gesundheitsexperte schaut auf sein Handy. Schon wieder eine neue Nachricht. Jemand vom Sozialministerium. Vor ein paar Tagen ist er zusammen mit der Premierministerin vor die Presse getreten, um dafür zu werben, Schutzmasken zu tragen: in der U-Bahn, den Zügen, da, wo es eng wird. Verpflichtend ist das nicht, aber "dringend empfohlen", meint der Christian Drosten Finnlands.
"Bislang reagieren die Leute ganz nett, wenn sie mich auf der Straße erkennen. Aber ehrlich gesagt: Eigentlich wäre es mir lieber, ich bliebe weiter unerkannt. Und die ganzen Medienanfragen. Ich bin froh, dass ich vorher Medientraining hatte. Das hilft. Unser Institut hat auch schon Todesdrohungen erhalten. Ich selbst, Gott sei Dank, noch nicht, aber Kollegen von mir. Dafür schicken mir Verrückte Hate Mails. Deshalb bin ich auch kaum noch auf Twitter. Früher war ich da sehr aktiv, aber jetzt poste ich nur noch selten etwas."
Zurück ins Zentrum der 650.000-Einwohnerstadt, in die Aleksanterinkatu 48A. Siebter Stock, ein unscheinbares Namensschild. Seit Anfang des Monats ist Janne Känkänen Chef von NESA, der "Nationalen Notfall-Agentur", der neue Job dementsprechend: "herausfordernd" und "interessant". Vorherzusehen war das nicht. Der Mann, der lieber zwei Mal überlegt, bevor er etwas sagt, kommt aus dem Wirtschaftsministerium.

"Die Lage ist ausgesprochen stabil"

Mit irgendwelchen Notfallszenarien hatte der Technokrat nichts am Hut. Bis Ende April sein Vorgänger seinen Hut nehmen musste, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die gekauften Millionen Schutzmasken made in China nichts taugten: Sie waren gefälscht.
"Unsere Agentur musste in kürzester Zeit dafür sorgen, dass wir diese Masken und andere medizinische Gegenstände erwerben, um unsere Notfallbestände aufzustocken. Der internationale Wettbewerb im Frühling war brutal. Wohlmöglich ist es deshalb auch zu dem Fehler mit den gefälschten Schutzmasken gekommen. Zurzeit ist die Lage stabil. Unsere Lager sind voll, wir haben eine Art Puffer für den Krisenfall. Also wirklich: Im Moment ist die Lage ausgesprochen stabil."

Krisenszenarien und Notfallversorgung vorbereiten

Überall im Land der Seen und Wälder gibt es Notfall-Depots, wo genau: Känkänen schüttelt den Kopf. Kein Kommentar. Seit der Sache mit den gefälschten Masken ist es wieder ruhig geworden um die Agentur, regen sich die Finnen eher darüber auf, warum es manchmal eine geschlagene Woche dauern kann, bis das Ergebnis eines Corona-Tests da ist. Dem NESA-Chef ist das nicht unlieb. So kann er sich wieder ganz in Ruhe seiner neuen Aufgabe widmen. Und aufstocken für den Notfall.
"Es gibt bei uns eine starke Tradition, sich auf die verschiedensten Krisenszenarien vorzubereiten. Das mag auch daran liegen, dass Russland unser Nachbar ist. Selbst nach dem Ende des Kalten Krieges hielten wir es für ratsamer, unsere Kapazitäten für die Notfallversorgung aufrechtzuerhalten. Wir haben da nicht gekürzt. Außerdem haben wir uns genau angeschaut, welche neuen potenziellen Gefahren lauern, und wie wir uns wappnen können. Das reicht von Cyberattacken über Umwelt- bis hin zu Gesundheitskrisen."

"Die Show kann weitergehen"

Luftlinie sind es keine 200 Meter von der NESA-Zentrale bis zum Büro von Rosa Meriläinen. Doch der Kontrast könnte größer kaum sein. Von Geheimniskrämerei hält die Frau im schwarz-rot gepunkteten Kleid und den grauen Turnschuhen wenig. Die 44-Jährige lacht. Nicht wirklich. Die ehemalige Grünen-Parlamentarierin leidet KULTA, den Interessen-Verband der finnischen Kunst- und Kultureinrichtungen.
"Die meisten Kunst- und Kultureinrichtungen in Finnland werden Corona überleben, falls es nicht zu einem zweiten Lockdown kommt. Aber ich bin da optimistisch. Wir haben eine ganz andere Situation als im März. Zu Beginn der Pandemie hatten wir keinen blassen Schimmer, wie wir mit solch einer Krise umgehen sollen. Wir wussten nur: Wir müssen dichtmachen. Jetzt wissen wir, es geht auch anders, wenn du dich an die Abstands- und Hygieneregeln hältst und weniger Leute reinlässt, kann die Show weitergehen. Ich bin mir sicher, auch wenn es zu einer zweiten Corona-Welle kommen sollte, müssen wir nicht erneut das ganze Land herunterfahren."

Den Finnen fällt es leicht, Abstand zu halten

Die studierte Politikwissenschaftlerin hat sich ins Besprechungszimmer des Co-Working-Spaces gesetzt. Viel Platz gibt es hier zwar nicht, aber zumindest kann man Abstand halten, anders als in ihrem winzigen Büro am Ende des Gangs.
Rosa Meriläinen von KULTA, dem Interessenverband der finnischen Kunst- und Kultureinrichtungen
Rosa Meriläinen von KULTA, dem Interessenverband der finnischen Kunst- und Kultureinrichtungen.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
"Wir Finnen haben das mit dem Social Distancing ziemlich gut hinbekommen. Es fällt einem Finnen leicht, Abstand zu halten. Das tun wir so und so schon die ganze Zeit. Es ist ganz normal, dass sich Freunde zur Begrüßung nicht die Hände schütteln oder Küsschen geben. Es fällt uns auch leicht, anständige Bürger zu sein. Selbst ich: Eigentlich würde ich mich als Rebellin bezeichnen, aber ständig ertappe ich mich dabei, wie ich brav die staatlichen Vorgaben befolge. Wir versuchen, uns an das zu halten, was die Regierung vorschreibt. Ich denke, das hat auch mit unserem Wohlfahrtsstaat zu tun."
In den Sommerferien war Rosa zusammen mit ihren Eltern auf Segeltour, zehn Tage vor der Küste Helsinkis: ein Traum. Und dass die Schulen wieder offen sind: auch eine große Erleichterung. Kein Vergleich zum Frühling, dem Lockdown.

"Der Lockdown hat mich enorm gestresst"

Die Kulturfrau schließt für ein paar Sekunden die Augen, ehe sie anfängt zu erzählen, wie das war, als Frans, ihr 14-Jähriger, und die zwei Kleinen, Auri und Johannes, die ganze Zeit zu Hause saßen, und sie irgendwann mit den Nerven am Ende war.
"Ich habe von morgens bis abends gearbeitet. Da wäre es hilfreich gewesen, wenn ich gewusst hätte, ich kann mich darauf verlassen, dass meine Kinder – keine Ahnung - zwischen neun und zwölf Online-Unterricht haben. Doch das war nur bei Frans der Fall. Die Lockdown-Zeit hat mich enorm gestresst. Ich stand kurz vor dem Burnout. Ich dachte nur: Nein, nicht schon wieder. Ich hatte ja schon zwei Burnouts. Deshalb habe ich den Rat einer Psychologin gesucht. Sie ist spezialisiert auf arbeitsbedingten Stress und hat mir gezeigt, wie ich es schaffen kann, den Stress zu reduzieren."

Auch loslassen statt alles organisieren

Morgen früh trifft sich Rosa wieder mit ihrer Psychologin. Bis Weihnachten hat sie noch weitere Termine. Und danach? Sie hebt die Hände: wird es hoffentlich einen Corona-Impfstoff geben, und bei ihr zu Hause wieder eitel Sonnenschein herrschen.
"Es ist wichtig, dir einzustehen: Du kannst nicht alles organisieren. Es gibt Dinge, die sich nicht ändern lassen. Meine Kinder machen keine Hausaufgaben? Dann ist das halt so. Sie essen nicht vernünftig? Und spielen die ganze Zeit Fortenite, das Computerspiel: bitte schön! Es war befreiend mir einzugestehen: Du kannst auch loslassen!"
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