Finnland

Kunst zwischen Sex, Gewalt und Alkohol

Das Künstlerhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg
Das Künstlerhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg © dpa / picture alliance / Stephanie Pilick
Von Carsten Probst · 27.11.2013
Kalervo Palsa führte ein ärmliches, zurückgezogenes Leben in Lappland. Wenn er nicht gerade seine sexuellen Gewaltfantasien malte, trank er. Das Werk des 1987 gestorbenen Künstlers ist dennoch sehenswert.
Palsas Werk hätte gut auf die diesjährige Biennale in Venedig gepasst; oder in den Hamburger Bahnhof, das riesige Museum für Gegenwartskunst in Berlin. Beide Orte, beides erste Adressen im internationalen Kunstbetrieb, haben sich jüngst mit Werken sogenannter Outsider-Künstler hervorgetan. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, sprach man noch von "Kunst der Geisteskranken", später von "Art Brut". Mittlerweile reicht es aus, dass ein Künstler sich selbst als Außenseiter betrachtet und sein mehr oder weniger umfangreiches Werk weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit entsteht. Diese Kriterien erfüllt Kalervo Palsa wiederum mühelos:
"In den 70er-Jahren, als ich ihn kennenlernte, hatte er immer Bücher von Outsider-Künstlern dabei, zum Beispiel von Henry Darger, einem berühmten amerikanischen Outsider-Künstler, der in den 70er-Jahren starb. Hier, in diesem Bild von Palsa über 'Alice in Wonderland', können Sie den Einfluss von Darger ziemlich gut sehen. Palsa zeigte mir damals diese Bücher und sagte: 'Das ist doch viel interessanter als die übliche Kunstgeschichte. Picassos kann man überall sehen, aber dies hier sieht man nirgendwo.' So war das damals, in den 70er-Jahren war es nicht so verbreitet, Kunst von Schizophrenen auszustellen."
3000 Bilder soll das Pirtolas Werk umfassen
So berichtet es Erkki Pirtola, Künstler, Autor und Filmemacher, der einige Jahre in der Nachbarschaft von Kalervo Palsa in Helsinki gelebt hat, ihn oft besuchte und sich gut auskennt in dessen Werk, das sage und schreibe an die 3000 Bilder umfassen soll. Als Kalervo Palsa 1987 im Alter von nur 40 Jahren starb, dokumentierte Erkki Pirtola in einem beeindruckenden Film die Auflösung seines Ateliers, einer ärmlichen Hütte im lappländischen Kittilä, wo Palsa nahezu sein ganzes Leben verbracht und der er, leicht pathetisch, er den Namen "Gethsemane" gegeben hatte, nach dem Ort, an dem Jesus verraten wurde.
"Er hatte nicht studiert, er war Autodidakt. Er bewarb sich zwar mal an der Akademie, aber letztlich verbrachte er die meiste Zeit mit Trinken. Er trank schon, seit er jung war, und lebte immer unter den Ausgestoßenen in Kittilä, wo es extrem kalt war. Vor allem während der Winterzeit tranken sie da viel minderwertiges Zeug, Methanol, das sie durch Brot gefiltert hatten. Sie sahen das ironisch wie ein Sakrament, den Leib Christi, zwar ohne Wein, aber mit Brot, immerhin. Er hat es überlebt, aber es gibt Bilder bei ihm von Leuten, die im Schnee liegen und gestorben sind, mit der Flasche in der Hand. Er sah sie Sterben im Schnee und malte sie."
Sexuelle Gewaltfantasien im Großformat
Palsa führte ein ärmliches, zurückgezogenes Leben, aber das bedeutet nicht, dass er stumpf vor sich hinlebte. Seine langjährige Förderin Paula Venesma, aus deren privater Sammlung diese erste Ausstellung seiner Bilder in Berlin zusammengestellt ist, berichtet von seiner immensen Bildung und seinem hohen Arbeitseifer. Zu seinen Lebzeiten wurde er freilich kaum ausgestellt, und wenn, dann verschwanden die Bilder schnell wieder, weil sie skandalös waren. In etlichen geht es versteckt oder offen um sexuelle Gewaltfantasien. Ein großformatiges Gemälde stellt tableauartig mehrere Vergewaltigungsszenen dar, auf einem anderen uriniert ein Mann auf einen am Boden liegenden, nackten gekreuzigten Körper. In einer kinderbuchartigen Zeichnung tanzen Kinderskelette um eine Straßenlaterne, an der sich ein Junge erhängt hat. Erkki Pirtola deutet auf ein Bild, auf dem in einer Art Fabrikhalle Dutzende Menschen übereinander herfallen und sich gegenseitig umbringen, ganz wie man es aus in mittelalterlichen Höllendarstellungen kennt.
"Im Grunde war er ein Nihilist, auch wenn ihn die politischen Revolten der 60er-, 70er-Jahre wohl teilweise inspirierten. Er glaubte nicht an Menschlichkeit. Er glaubte nicht an das Gute im Menschen - im Gegenteil, an das Schlechte im Menschen glaubte er, wie man zum Beispiel hier sieht, auf diesem Bild, wo jeder dem anderen irgendetwas antut."
Aber es wäre verfehlt, Palsas Werk allein auf das vermeintlich Skandalöse zu verengen. Tatsächlich scheint er sich als Autodidakt immer wieder in völlig verschiedenen Stilen und Sujets zu erproben, die scheinbar so wenig miteinander zu tun haben, dass man sie, wüsste man es nicht durch diese Ausstellung, kaum nur einem einzigen Künstler zuschreiben würde. Man sieht überaus detailversessen gezeichnete Landschaften neben bitterlich-ironischen Skizzen in Comic-Manier. Intime, expressive Porträts stehen neben collageartig arrangierten Bilderbögen mit höchst realistisch ausgeführten Traummotiven in geradezu esoterisch anmutenden Farben.
Vom handwerklichen Standpunkt schwankt die Qualität der Bilder, manche wirken auch inhaltlich pathetisch aufgeblasen und fast naiv - und doch löst dieser Bilderkosmos ohne Weiteres das ein, was man sich auch bei der Biennale in Venedig oder im Hamburger Bahnhof in Berlin von eben dieser sogenannten Outsider-Kunst immer versprochen hat: den ungefilterten, intensiven Eindruck eines ganz eigenen, radikalen Künstlerlebens jenseits des Kunstbetriebes. Diese Schau allerdings könnte, wie zu befürchten ist, der Anfang vom Ende des Outsider-Status' Palsas sein.