Fingerübungen

Klavierbuch für Etüden-Geplagte

Chilly Gonzales tritt in Hamburg in der Fischauktionshalle beim Elbjazz Festival 2013 auf.
Gibt jetzt auch Klavierunterricht: Chilly Gonzales, der selbsternannte Musical Genius © dpa picture alliance/ Sven Hoppe
Von Susanne Baltasar · 17.07.2014
Immer diese komplizierten Etüden! Klavierstunden können einem den Spaß am Instrument vermiesen - bis man es schließlich ganz sein lässt. Für Wiedereinsteiger hat der kanadische Pop-Pianist Chilly Gonzales nun ein humorvolles Klavierbuch veröffentlicht.
Chilly Gonzales: "Hi. I am Chilly Gonzales, the musical Genius."
Gestatten, das Musikgenie! Pianist, begnadeter Entertainer und gerade ziemlich weit oben am Pop-Piano-Himmel. Ein Mann mit Herz für Klavierschüler, sogar für gescheiterte. "Re-Introduction Etudes" richtet sich an Menschen, die das Klavierspielen irgendwann dran gegeben haben.
Menschen wie mich. Meine Klavier-Biografie ist so unspektakulär wie typisch: Sechs Jahre Unterricht in einer städtischen Musikschule der 80er-Jahre: Gluck, Bartholdy, Mozart. Menuette, Tänze, Weisen. Allegro, Adagio, Andante. Alle altmodisch, verstaubt und dröge. Besonders schlimm: die Etüden, trostlose Übungsstücke für technische Fertigkeiten. Zum Beispiel die 200 Jahre alte Fingergymnastik von Carl Czerny. Titel: "Die Schule der Geläufigkeit". Genug, Schluss, aus!
Klavierunterricht im Gonzo-Style
Chilly Gonzales versteht.mich. "Ich war schockiert, wie lausig, unmusikalisch und ausgesprochen unspaßig die meisten Notenbücher waren",schreibt er in dem Vorwort und legt frustrierten Ex-Klavierspielern "Re-Inroduction Etudes" ans Herz, bei denen sich die Schüler amüsieren und gleichzeitig die Grundbausteine der Musik lernen sollen. Gonzo Style.
Gonzales: "Auf geht's. Meet music. Seien Sie nicht schüchtern. Re-introduce yourself! Steigen Sie wieder ein!"
Klingt gut. Beim Widereinstieg bitte ich Jan Gerdes, Pianist und Klavierlehrer an der Berliner Musikschule "Tomatenklang", um Hilfe. Ein Freund klassischer Etüden ist auch er nicht: "Weil das Leben zu kurz ist, um mit stumpfen Etüden, die musikalisch nichts hergeben, die Zeit zu verplempern."
Das sieht womöglich auch Chilly Gonzales so, der gern in Bademantel und Pantoffeln auf der Bühne steht. Klassisch ist hier nichts, Gonzo-Style alles. Die 24 Lektionen sind Drake, Mozart, meinen Ohren, M. C. Escher oder Steve Jobs gewidmet. Der Apple-Mann steht Pate für das Thema "Terzen: Akkorde aus mindestens zwei Noten mit einem Abstand von drei oder vier Halbtönen".
Einfache Melodien, unkomplizierte Akkorde
Die Finger knirschen, aber irgendwann kapieren sie, was Chilly will. Terzen, Terzen, Terzen, ein ganzes Stück aus Terzen. Die Noten werden unwichtiger, irgendwann kennen die Finger ihren Weg. Das fühlt sich gut an.
Gerdes: "Der musikalische Spirit überwiegt, es ist jenseits von Trockenheit, diese Stücke, sie haben einfach Charme, Witz, Esprit. Sie sind auch nie so, dass man sich total verzetteln muss, weil man sich an einem technischen Problem verheddert, also der Etüden-Charakter hält sich in Grenzen."
Lektion zwei: Dur und Moll. Auch dieses Thema kommentiert Gonzales humorvoll. Moll sei gnadenlos düster, schreibt er, Dur abgeschmackt und süßlich. Die Wahrheit liegt in der Grauzone dazwischen.
Einfache Melodien, unkomplizierte Akkorde, ein paar Pop-Elemente hier, ein bisschen Erik Satie dort und etwas Jazz obendrüber – so handelt „Re-Introduction Etudes" alles ab: Die Blue Note, Quintenzirkel, 80er-Basslinien, Arpeggios und Septimenakkorde. Das passt. Oder ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass die jahrhundertealten Arpeggios, Akkorde, deren Töne nacheinander angeschlagen werden, das Herzstück von Glenn Millers "In the Mood" and Daft Punks "Aerodynamic" sind?
Gerdes: "Eigentlich ist die Message: Es geht um Musik, eigentlich ist es egal welches Genre man spielt. Und worum geht Musik? Sie besteht aus Intervallen, aus Tönen, die eine Beziehung zueinander haben. Und es geht, aus meiner Sicht, Gonzales auch darum, dem Spieler, Bauteile, Techniken die Hand zu geben, dass es selber mit diesen Bausteinen anfängt zu arbeiten."
Improvisieren oder selber Musik machen heißt das Klassenziel. Fazit nach einer Stunde Wiedereinführung.
Gerdes: "Mir gefällt's. Auf jeden Fall auch eine Alternative, das im Unterricht einzusetzen. Ich finde das auf jeden Fall spielenswert."
Das finde ich auch. Die Finger sind warm, der Kopf ist klar, die Lust aufs Klavierspielen ist geweckt. "Re-Introduction Etudes" ist das Klavierbuch, das ich mir immer gewünscht habe. Wie schön, dass es endlich da ist!
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