Filmreife Alltagsgeschichten aus Polen

21.09.2010
Wojciech Kuczok, geboren 1972 im oberschlesischen Chorzów, wurde für seinen ersten Roman "Dreckskerl" 2004 in Polen mit dem bedeutendsten Literaturpreis des Landes, dem "Nike" ausgezeichnet. Zu Recht gerühmt wurde dabei sein furioser Sprachfluss. Den findet man auch in Kuczoks neuem Roman "Lethargie" wieder.
Ganze Tage verbringt Adams arbeitsloser Nachbar mit Fensterbanking, legt sich ein großes Kissen zurecht und beobachtet, was auf der Straße passiert. Manchmal wird der Nachbar von seiner ebenfalls arbeitslosen Frau abgelöst, oder die beiden machen es sich gemeinsam bequem.

Sie sitzen lieber am Fenster als vor dem Fernseher, der nichts bietet außer Wiederholungen und Serien, in denen unechte Polizisten unechte Diebe, Banditen und Mörder jagen. Am Fenster hat man das hier, in einem heruntergekommenen Stadtviertel irgendwo in Oberschlesien, live und sogar ohne Gebühren, selbst wenn die Polizei nur selten und ungern einschreitet.

Szenen aus dem Milieu Oberschlesiens gehören zu den starken Seiten im letzten Roman des polnischen Schriftstellers Wojciech Kuczok, der unter dem Titel "Lethargie" bei Suhrkamp erschienen ist. Kuczoks 2008 im polnischen Original veröffentlichtes Buch erzählt parallel drei eigenständige, nur sehr lose miteinander verbundene Geschichten.

Die erste handelt von dem homosexuellen Adam, einem frisch gebackenen Facharzt der Orthopädie, der gerade dabei ist, sich von seinem fürsorglichen, aber despotischen Elternhaus auf dem Lande abzulösen. Adam zieht es in die Stadt. Dort, in einem heruntergekommenen Kiez, beginnt er ein Verhältnis mit einem Halbstarken ohne rechtes Zuhause, der für seinen Unterhalt bislang als Bahnhofsdieb und Mitglied einer jungen Schlägertruppe gesorgt hat.

Im Mittelpunkt der zweiten Geschichte steht Robert, ein für seine Anfangserfolge gefeierter Schriftsteller, der nichts mehr zustande bringt, nachdem er die Tochter eines prominenten konservativen Politikers geheiratet und eine Etage im Haus seiner Schwiegereltern bezogen hat. Der noch junge Robert zieht sich immer mehr in sich selbst zurück und lebt erst wieder auf, als ihm die Diagnose einer tödlich verlaufenden Krankheit gestellt wird.

Die dritte Geschichte stellt Roberts letzte Liebe in den Mittelpunkt, die gefeierte Schauspielerin und Werbeikone Roza. Roza führt eine unglückliche Ehe mit einem erfolgreichen Finanzexperten, dem Bilanzen auch im Privatleben über alles gehen. Nach außen hin zärtlich besorgt, hintergeht der Geldhai seine Gattin nach Strich und Faden und löst so bei ihr eine Schlafkrankheit aus.

Wojciech Kuczok, geboren 1972 im oberschlesischen Chorzów, wurde für seinen ersten Roman "Dreckskerl" 2004 in Polen mit dem bedeutendsten Literaturpreis des Landes, dem "Nike" ausgezeichnet. Zu Recht gerühmt wurde dabei sein furioser Sprachfluss. Den findet man auch in Kuczoks neuem Roman "Lethargie" wieder, wobei die Zeichnung einiger Charaktere eher an einen Holzschnitt erinnert – beziehungsweise ans Kino. Das verträgt wohl mehr Zuspitzung als ein literarischer Text, und in der Tat hat Kuczok seinen Stoff gleichzeitig als Drehbuch für den Film "Senność" aufbereitet, der im Herbst 2008 in die polnischen Kinos kam und Erfolge feierte.

Kuczoks Roman ist ein überaus unterhaltsames, nicht selten witziges Buch darüber, worunter recht unterschiedliche Menschen im heutigen Polen und nicht nur dort leiden - auch wenn sich die beschriebenen Leidenszustände wohl nur schwer unter "Lethargie" zusammenfassen lassen.
Besprochen von Martin Sander

Wojciech Kuczok: Lethargie
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010,
253 Seiten, 19,90 Euro