Film-Ikone neu erfunden

Von Michael Laages · 08.05.2010
Heike Makatsch spielt die weibliche Hauptrolle im Klassiker "Paris, Texas" am Leipziger Centraltheater. Dem Hausherr Sebastian Hartmann gelingt mit seiner Regie großes Theater, gerade weil er den Film streckenweise ignoriert.
Wim Wenders, der Schöpfer des Film-Originals, saß weit vorn im Saal – und sah im Leipziger "Centraltheater” zum Glück gerade nicht den Versuch, "Paris, Texas” in irgendeiner Form medialer Aneignung möglichst originalgetreu nachzuerzählen. Stattdessen war Wenders Zeuge einer grandiosen Selbstvergewisserung des Theaters – denn auf dessen eigenen Wegen, mit dessen ganz eigenen Mitteln hat der Leipziger Hausherr Sebastian Hartmann das Kunststück fertiggebracht, die Film-Ikone neu zu erfinden: als Meisterstück des Theaters.

Keine Wüste, nirgends – wie ginge das auch im Bühnenkasten. Selbst mit Film- und Videosequenzen bliebe der doch immer, was er ist; und so betont Hartmann das Theaterhafte, wo immer es geht. Mit dem goldgleißenden Vorhang zu Beginn, vor dem Heike Makatsch als Nastassja Kinski eine kleine Szene spricht, die eigentlich erst kurz vor Schluss dran ist; der Vorhang öffnet sich dann und zeigt den gleichen Gold-Vorhang in klein noch einmal – Theater im Theater zeigt Hartmann, massiver geht's nicht; er zitiert den Film, um ihn zu ignorieren. Einmal wird eine Filmszene komplett erzählt, ohne dass wir sie zu sehen bekämen. Und erst so gelingt der Inszenierung ein familiäres Theater-Kammerspiel mit Versatzstücken der Film-Ästhetik.

Die Bühne von Susanne Münzner etwa ist Kinosaal und Peepshow auf der einen und auf der anderen Seite eines dieser armselig-amerikanischen Landstraßen-Cafés, wo Post und Telefon und Theke und Tankstellen-Kasse gemeinsam zu Hause sind. Im Drehen zwischen beiden entsteht die traurige Homestory – vom "lonely cowboy”, der nach der Zerrüttung der Ehe verschütt ging für vier Jahre und nun plötzlich wieder auftaucht, den Sohn sucht beim Bruder (wo die biologische Mutter ihn zur Pflege abgab) und in komplizierter Fahndung auch die Mutter wiederfindet: in der Peepshow eben. Die Wiedervereinigung ist ein szenischer Moment von höchster emotionaler Verdichtung. Ganz großes Kino? Nein, ganz großes Theater.

Natürlich kann Hartmann diese Idylle so nicht stehen lassen – um Jahrzehnte gealtert, mit weißen Perücken und alle ganz tatterig, lässt er das Personal im letzten Bild den alten Kindertraum noch einmal spielen: einen kleinen Hubschrauber per Fernbedienung fliegen lassen. Beides zusammen, das Glück des Wieder-zusammen-seins und die poetische Sehnsucht der alten Kinder, lässt das Publikum atemlos und begeistert zurück.

Hartmann, sonst auch gern mal ein schlimmer Effekthascher, macht an diesem Abend alles richtig; vor allem das szenische "Timing”, der Sinn also für Dynamik, zwischen Gas-Geben und Sich-Zeit-lassen, ist grandios entwickelt, fast wie in frühen Castorf-Inszenierungen. Hartmann rückt auch den eigentlichen Hauptdarsteller ins richtige Licht: den amerikanischen Dramatiker Sam Shepard, der Wenders' Ko-Autor war und im Film ja auch mitspielte. Eine Schande, dass deutsche Theater so wenig von Shepards großen Texten zeigen! Starke Bilder findet Hartmann auch für den intellektuellen Überbau des Stückes – der von der Flucht hinüber in eine Welt ohne Sprache erzählt, eine Welt, die den Menschen nicht mehr braucht. Unsere Welt.

Im Film spielt ja Autor Shepard selbst diesen Irren auf der Brücke, den die Endzeit-Visionen plagen – Manuel Harder in Leipzig ist ein angemessen gefährliches Double. Überhaupt: das Leipziger Ensemble – alle sind an diesem Abend so gut wie vielleicht noch nie; Birgit Unterweger und Peter-René Lüdicke als Stiefelternpaar, Hagen Oechel als irrend-suchender Einsamkeitsapostel Travis, Rosalind Baffoe und Maximilian Harder mit genauen Solo-Passagen am Rande, und Yusuf El Baz als schon recht altkluges Kind, um das sich lange alles dreht.

Heike Makatsch, die zuletzt Hildegard Knef war auf der Kino-Leinwand, "passt” für die Rolle jener jungen Frau, deren Leben sich über den Blick in die (Peepshow)-Kamera definiert; vielleicht fühlt sie sich ja mittelfristig auch wohl im Theater. Sie singt ein bisschen wie einstmals France Gall oder Francoise Hardy: mädchenhaft, zerbrechlich, echt nicht schlecht. Und Steve Binetti, der Gitarrist mit dem großes Talent zur Solo-Bühnen-Show, hat ihr wirklich schöne Stücke geschrieben. Manchmal schrammelt er auch nur etwas wie "The End” von "The Doors” oder "As time goes by” von den "Rolling Stones” vor sich hin - wie Ry Cooders Musik den Wenders-Film zur Ikone reifen ließ, so ist Binetti einer der wichtigen Diamanten im Meister-Puzzle dieses Abends.

Ein Stück Glück. In Leipzig.


"Paris, Texas" am Leipziger Centraltheater
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