Fiktive Wahlkampfreden von Literaten

Wähle! Wähle vernünftig - auch wenn die Zähne knirschen

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff freut sich am 26.10.2013 in Darmstadt (Hessen) bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises
Sibylle Lewitscharoff: "Harmlose, geradezu lustige Qualen" © dpa / picture alliance
Von Sibylle Lewitscharoff · 21.09.2017
Sibylle Lewitscharoff hält eine fiktive Wahlkampfrede aus der Sicht eines Juristen im Ruhestand. Angesichts des Personals in anderen Ländern findet sie, dürften sich die Deutschen glücklich schätzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich spreche zu Ihnen als Rechtsanwalt im Ruhestand, der nicht allzu vermögende Mandanten maßvoll beraten hat – frei nach er Devise: der Gesellschaft das Ihre, dem Mandanten das Seine.

Dankbar für eine Erfolgsgeschichte

Als Kriegskind bin ich gebrannt. Ich weiß um die katastrophale Niederlage im II. Weltkrieg und die beispiellosen Verbrechen, die im Namen der Deutschen begangen wurden. Mein Vater ist in Russland verschollen. Die Mutter flüchtete mit mir als Vierjährigem nach Freudenstadt. Es waren harte Jahre. Doch dann hat zuerst der Westen, sehr viel später das vereinigte Deutschland, einen wirtschaftspolitischen Aufschwung genommen, von dem zuvor niemand geglaubt hätte, dass er möglich sein würde. Seien wir dafür dankbar.
Im Großen und Ganzen hat das demokratisch verfasste Deutschland Politiker an die Staatsspitze geführt, die verantwortungsvoll handelten. Eine Erfolgsgeschichte, ökonomisch wie politisch, Schwächen und Missstände inbegriffen, ohne die menschliches Tun und Lassen nun einmal nicht auskommt.
Wenn ich unsere Politiker mit General Franco, Maggie Thatcher, Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy vergleiche, heutigen tags mit Victor Orban, Jaroslaw Kaczynski und Boris Johnson, ganz zu schweigen von Donald Trump, dürfen wir uns als Bewohner einer der glücklichsten Nationen der Welt fühlen. Das soll so bleiben.

"Die AfD kommt nicht infrage"

Wählen wir also vernünftig. Politische Entscheidungen haben mit einer Liebeswahl nichts zu tun. Kreuzen wir die CDU, die SPD oder die Grünen an, machen wir's nicht ganz falsch. Herr Gauland kommt nicht in Frage. Ihn kann man sich mühelos, nur ein bisschen zeitversetzt, als Gauleiter des einstigen Warthegaus vorstellen. Nun aber genug von Gauwortspielen und dem Grauen von ehedem.
Die FDP hat ihr ehrenhaftes Erbe längst verspielt. Gab's je einen lächerlicheren Auftritt als den von Guido Westerwelle im Dschungelcamp? Ihre jetzige Forderung, das Heil der Schule allein in der Digitalisierung zu suchen, ist ein schlechter Witz. Die Reichen qua Steuerentlastung reicher werden zu lassen, ist ein noch schlechterer Witz.
Die Linke kommt mir so modrig vor wie eh und je, von ökonomischen und weltpolitischen Zusammenhängen will sie nichts verstehen, von militärischen erst recht nichts. Am liebsten würde sie sich an Putins nackte Anglerbrust werfen und dort die letzten Tropfen Sowjetmilch von ehedem saugen.
Ein Problem hat allerdings auch die CDU – in Gestalt ihrer bayerischen Schwesterpartei. Auch wenn man Angela Merkel schätzt – und ich tue das, zumal es mir behagt, dass eine kluge Frau ein so hohes Amt bekleidet – muss man sich deshalb zweimal überlegen, ob man die CDU wählen will.
Was Martin Schulz betrifft, gab es unangemessen hohe Erwartungen. Im europäischen Parlament handelte der Mann vernünftig, jetzt muss man abwarten. Einige seiner aufgeblasenen Sprüche schadeten der SPD, obwohl die Partei beim wichtigen Thema 'soziale Gerechtigkeit' vernünftige Positionen bezieht.
Die Grünen wären eine erstklassige Partei, wäre Winfried Kretschmann ihr Haupt. Von Schulpolitik versteht er gewiss mehr als seine Mitstreiter. Deren kaugummiartiges Mantra von der Gemeinschaftsschule bedeutet nichts weiter als Gleichmacherei auf niedrigstem Niveau. Dennoch verdanken wir der Partei noch immer richtige Anstöße in Sachen Ökologie.

Qual der Wahl – auf höchstem Niveau

Man hat also die Qual die Wahl. Doch das sind harmlose, geradezu lustige Qualen im Vergleich zu dem, womit sich Türken, Chinesen, Nordkoreaner, Iraker, Syrer, Ägypter und unzählige Bewohner anderer Länder derzeit herumschlagen. Als Pragmatiker bin ich deshalb guter Dinge und rate: Wähle! Wähle vernünftig, auch wenn dabei die Zähnlein knirschen.

Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin, lebte in Buenos Aires und Paris. 1994 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, "36 Gerechte". Für ihren Roman "Pong" erhielt sie 1998 den Ingeborg Bachmann-Preis. 2013 wurde Sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Im Sommer 2014 hatte sie die Poetik-Dozentur an der Universität Koblenz-Landau inne.

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