Feuer und Schwefel

Von Tom Noga · 03.02.2008
Als "Man in Black" ging Johnny Cash in die Musikgeschichte ein. Mit Liedern wie "Ring of Fire" oder "I Walk the Line" landet er weltweit Erfolge. Doch mit dem Gedenken an den im Jahr 2003 verstorbenen Sänger und Songwriter tun sich die Country-Hochburgen in den USA schwer.
Gary Hardy: "Entweder Dylan oder Marty Stuart, ich habe vergessen wer, aber einer von beiden hat Folgendes über Johnny Cash gesagt: Seine Musik ist nicht wirklich Country, nicht wirklich Rock’n’Roll und nicht wirklich Gospel – aber sie ist zu 100 Prozent amerikanisch."

Memorial Gardens in Hendersonville, Tennessee, eine halbe Autostunde nördlich von Nashville, ist ein Friedhof, wie man ihn tausendfach in den USA findet. Eine Wiese, die sich über einen Hügel zieht, die Gräber in Reih und Glied, schachbrettartig angeordnet und schmucklos. Kaum Grabsteine, stattdessen Kreuze Und weit und breit kein Hinweis auf Johnny Cash und seine Frau June Carter, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Courtney Wilson kennt den Weg zu ihrem Grab. Etwas wacklig geht der hagere Mittachtziger voraus. Wilson ist Pfarrer und ein Freund der Familie, er hat die Kinder der Cashs getraut und June und Johnny beerdigt.

Courtney Wilson: "John und ich konnten gut miteinander reden, am besten, wenn er im Krankenhaus war. Er lag immer in einer Art Suite, und ich war immer willkommen. Er erzählte mir dann von seinen Träumen, was er noch tun wollte und was er getan hatte. Unsere letzte Begegnung fand auch im Krankenhaus statt. Wir beteten zusammen und gaben uns die Hand, wie zwei alte Freunde, die Abschied nahmen. Wir wussten beide, dass es das letzte Mal war."

Das Grab der Cashs ist nüchtern und schlicht. Nebenan liegt der Country-Produzent Merle Kilgore. Zwei Cowboystiefel aus Marmor flankieren seinen monumentalen Grabstein, auf dem die Worte "Autor von "Ring of fire" prangen. Johnny Cashs größten Hit hat Kilgore zusammen mit June Carter geschrieben.

Auf Cashs Grab stehen nur vier Worte: "I walk the line". So heißt sein erster Hit, so heißt auch der biografische Spielfilm, der sein Leben auf eine dieser Boy-meets-Girl-Geschichten reduziert, die Hollywood so liebt, mit ein paar Drogen, viel Musik und ganz viel Verklärung.

"I walk the line" – ich bleibe treu. June Carter, der Liebe seines Lebens. Und seinem Glauben. Immer wieder hat Johnny Cash religiöse Lieder aufgenommen.

Courtney Wilson: "Mehr als andersherum hat er mich in meinem Glauben bestärkt. Er hatte ein gutes Verständnis der Bibel, auch wenn er kein Theologe war. Einmal sagte er, er redete mich immer mit Bruder Wilson an, also er sagt: Bruder Wilson, ich bin keine Theologe, aber ich erzähle gerne, was Jesus Christus mir bedeutet. Das war untertrieben, denn eigentlich war er Theologe, er kannte sich jedenfalls sehr gut in der Bibel aus."

Courtney Wilson deutet auf den Turm seiner Kirche, der First Baptist Church, weit hinten am Horizont. June Carter ist bis zu ihrem Tod Mitglied seiner Gemeinde gewesen, Johnny Cash dagegen hat meist für sich allein gebetet, in seinem Haus am Old Hickory Lake.

Das Haus existiert nicht mehr. Nach Cashs Tod hat Barry Gibb von den Bee Gees es gekauft, kurz darauf ist es abgebrannt. Auch sonst erinnert wenig in Hendersonville an den berühmtesten Einwohner der kleinen Stadt. Die Straße vor dem Friedhof trägt laut Stadtplan den Namen Johnny Cash Parkway, auf den Straßenschildern aber heißt sie immer noch Main Street.
Courtney Wilson: "Schwer zu sagen, wer John wirklich war, ich glaube, selbst seine Mutter wusste es nicht. Im Grunde seines Herzens wollte er ein gottgefälliges Leben führen und er fühlte sich schuldig, wenn er Drogen nahm. Die Art, wie John einem die Hand gab, war ein Akt wirklicher Anteilnahme, das merkte man. Er war ein höflicher, sympathischer Mensch. Und man konnte wirklich gut mit ihm reden."

Abschied von Courtney Wilson, weiter nach Nashville.

Nashville ist DIE Country-Metropole, Music City USA, wie es in einer Eigenwerbung heißt. Auf dem Broadway, der Amüsiermeile im Zentrum ist Johnny Cash allgegenwärtig. Hier reiht sich Kneipe an Kneipe, in jeder spielen Bands – rund um die Uhr.

In "The Stage" malträtiert eine Country-Rock-Gruppe "Ghostriders in the sky", bei Tootsie’s machen sich Jipsy über Cashs "Ring of fire" her. Die vier Geschwister, drei Mädchen und ein Junge, werden als kommende Superstars gehandelt.

Das offizielle Nashville dagegen tut sich schwer mit dem Mann, der Country in aller Welt populär gemacht hat. In der Country Music Hall of Fame, einem gigantischen Museum, hat Johnny Cash natürlich seinen Schaukasten, aber er ist hier einer von vielen: Drei Sätze zu seinem Leben und "I walk the line" aus der Musikbox – das war’s. Und im Museum der Grand Ole Opry wird er gar nicht erst erwähnt.

Die Opry ist Amerikas langlebigste Radio-Show und so etwas wie die Mailänder Scala der Country-Musik. 1925 als Tanzvergnügen in einem Heuschuppen gegründet, wird die Show heute aus dem Opryland übertragen, einem gigantischen Unterhaltungskomplex auf der grünen Wiese. Opryland besteht aus einem Hotel mit 3000 Betten, Vergnügungspark, Einkaufzentrum und einer Konzerthalle für 4400 Besucher.

Es ist Samstagabend, kurz nach sechs. In Scharen strömen die Menschen herbei. Die Männer in Blue Jeans, mit Stetsons auf dem Kopf, die Frauen in knöchellangen, wehenden Röcken zu den obligatorischen Cowboy-Stiefeln. Vor der Opry werden sie von Schauspielern begrüßt, die Country-Altstars darstellen.

Das sirenenartige "Howdy" ist das Erkennungszeichen von Minnie Pearl gewesen. Über 50 Jahre hat die Komikerin auf der Bühne der Oprty gestanden, als Inkarnation des Landeis schlechthin, in rot-weiß kariertem Kleid, auf dem Kopf einen Strohhut, an dem noch das Preisschild hängt. Ein schwarzhaariger Mann im roten Westernanzug öffnet sein Jacket. Auf der Innenseite steht "Hi" – das soll also Porter Wagoner sein, eine Art amerikanischer Heino. Aber hat Wagoner wirklich schwarze Haare?

Porter Wagoner: "Eigentlich nicht, ich bin ein dunkelhaariger Porter Wagoner. Aber ich habe wenigstens das Hi und das Bye, mit der er jede Show beginnt und beendet. Die Leute halten mich oft für Johnny Cash, aber ich stelle Porter Wagoner dar."

Erstaunlich genug, diese Verwechslung, schließlich ist Johnny Cash immer in schwarz aufgetreten, um sich von den Country-Stars der 50er Jahre in ihren papageienfarbenen Bühnenanzügen abzusetzen. Und sein Verhältnis zur Opry darf man als gespannt bezeichnen. 1965: In einem Wutanfall tritt Johnny Cash während eines Auftritts die Bühnenscheinwerfer aus und wird auf Lebenszeit aus der Opry verbannt. Doch nach zwei Jahren macht die Opry einen Rückzieher: Johnny Cash ist zu groß, um ihn auszuschließen.

Zwei Stunden dauert die Show. Die Sendung wird von einem Werbepartner gesponsert, heute von der Supermarktkette Crocker Barrel. Zwischen den Auftritten lesen zwei Ansager die Werbspots – live, wie seit 1925. Eine Bluegrass-Gruppe tritt auf und ein Country-Popper, eine eher rockige Band und ein Duo mit akustischen Gitarren, Traditionalisten und Newcomer wie Jipsy, die nachmittags noch auf dem Broadway gespielt haben. In der Opry ist Country irgendwie alles.

Diese Breite ist Konzept. Sagt Pete Fisher, während er hinter der Bühne nach dem Rechten sieht, hier eine Hand schüttelt und dort ein Schwätzchen hält. Pete Fisher ist Generalmanager der Opry. Er trägt Dreitagebart zum schwarzen T-Shirt unterm angeknitterten schwarzen Anzug. So einen erwartet man als Kreativen in einer Werbeagentur in New York oder im Management von Pop-Sängerinnen wie Britney Spears. Mit Country hat Fisher nicht allzu viel am Hut. Muss er auch nicht, längst ist die Musik des ländlichen Südens zum Sound für den kleinen Mann mutiert, wo immer er in den USA lebt – und damit Teil der landesweiten Unterhaltungsindustrie.

Pete Fisher: "Die Opry repräsentiert das Establishment der Countrymusik: Wir feiern Amerika und unseren Glauben, wir respektieren die alte Generation, wir pflegen unsere Tradition und wir singen Lieder, an denen sich alle erfreuen können, von den Kindern bis zu den Großeltern. Das sind die Grundwerte der Opry und der Countrymusik. Und es gibt eben Musiker, die nicht mit dem Strom schwimmen wollen. Johnny Cash ist seinen Weg gegangen, er war ein Außenseiter, musikalisch und als er jung war, auch auf der Bühne."

Raus aus Nashville, Richtung Memphis, wo die Karriere von Johnny Cash begonnen hat. Die Landschaft ändert sich: Keine Wälder und Hügel mehr, stattdessen abgeerntete Baumwollfelder, die in der Herbstsonne bräunlich schimmern.

Im Radio läuft der "Folsom Prison Blues", Cashs Hit aus dem Jahr 1955. Familienfreundlich, wie die Opry es verlangt, ist er nie gewesen. "Ich liebe Songs über das Land, das Jüngste Gericht, schlechte Zeiten, Ehebruch, Trennung, Tod, Knast, Verdammnis, Rebellion, Patriotismus", hat er einmal gesagt. Vor allem über den Tod. "Ich habe einen Mann in Reno erschossen, nur um ihn sterben zu sehen", heißt in seiner wohl legendärsten Textzeile aus dem "Folsom Prison Blues".

"When I was just a baby
my mother told me, son,
always be a good boy,
never play with guns.
But I shot a man in Reno,
just to watch him die.
Now I hear that whistle blowing,
I hang my hat and cry ..."

In den 60er Jahren ist Johnny Cash in Folsom aufgetreten, später auch in St.Quentin, einem der härtesten Gefängnisse der USA. Und Marshall Grant ist dabei gewesen. Mit Luther Perkins an der elektrischen Gitarre hat der Bassist die Tennessee 2 gebildet, die Begleit-Band von Johnny Cash.

Marshall Grant sitzt in einem Restaurant in Hernando, Mississippi, gleich hinter der Grenze mit Tennessee. Die Speisekarte ist überschaubar, es gibt Burger und Sandwiches. Um ihn herum vierschrötige Männer mit Baseballkappen, die über viel zu dünnem Kaffee brüten. Grant ist groß und schlank, sein Haar ist schütter. Er ginge für Anfang 60 durch, tatsächlich ist er 79.

Marshall Grant: "JR Cash war der beste Mensch, der je gelebt hat, und das meine ich von Herzen – wenn er nüchtern war. Er war mein bester Freund, aber ich war nicht mit Johnny befreundet. Als ich ihn kennenlernte, nannten ihn alle JR – der war mein Freund. Und June war mit John verheiratet, nicht mit Johnny. Aber bei allem Gutem, was man über ihn sagen kann, und man kann nicht genug Gutes über ihn sagen, auf Amphetaminen war er das exakte Gegenteil, dann war er Johnny. Dann behandelte er uns wie Dreck, sogar seine Eltern, einfach alle, dann hatte er vor niemandem mehr Respekt."

Die Nebenstraße da draußen, Marshall Grant zeigt aus dem Fenster, so haben früher die Highways ausgesehen: einspurig, voller Schlaglöcher. Tourneen sind Stress gewesen: Abends der Auftritt, nachts vielleicht ein Nickerchen, im Morgengrauen raus und dann Stunden lang unterwegs zum nächsten Konzert - tagein, tagaus. Irgendwann sind die Pillen da. Und einige sind nie mehr davon los gekommen: Elvis, Luther Perkins. Und Johnny Cash, anders als im Film, der 1968 mit der Hochzeit des endlich drogenfreien Johnny Cash endet.

Marshall Grant: "Es ist unglaublich, wie diese beiden Menschen füreinander bestimmt warten. Aber er ließ nicht zu, dass es wurde, wie es hätte sein können. June Carter war eine wundervolle Person, ein wirklich guter Mensch. Auf der Bühne in London, Ontario, hatte er sie in eine Position manövriert, in der sie nicht nein sagen konnte. Nach dem Konzert sagte ich zu ihr: June, Du hast einen großen Fehler gemacht. Denn sie wollte ihn eigentlich erst heiraten, wenn er von den Drogen weg war. Und tatsächlich, den Rest ihres Lebens ging sie durch die Hölle."

Marshall Grant wendet den Blick ab. Bald vierzig Jahre sind seit diesem Abend vergangen, aber die Erinnerung schmerzt noch immer Später hat er sich mit Cash wegen dessen Drogensucht verkracht, noch später haben sich die beiden wieder vertragen. Irgendwie, sagt Marshall Grant, ist Johnny Cash immer der Farmersohn aus Arkansas geblieben, trotz aller Erfolge, trotz des Geldes.

Marshall Grant: "Wir drei sind in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen, als Sharecropper. Du lebst auf der Farm eines andere, pflückst Baumwolle und teilst die Ernte mit ihm. Das ist ein hartes Leben, wir hatten nichts, absolut nichts, als wir aufwuchsen, und dieses Gefühl bleibt immer in dir drin. Daher kamen Johns Song-Ideen und alles andere. Diese Welt existiert immer noch. In der Gegend um Hernando kann ich ihnen Ecken zeigen, in denen sich seit meiner Kindheit nichts, aber auch gar nichts geändert hat."

Weiter nach Memphis. Dort dreht sich alles um Elvis. Überall Souvenir-Läden, überall Elvis-Darsteller. Graceland, sein Anwesen, ist eine der meistbesuchten Touristenattraktion der USA.

Und das ehemalige Studio von Sun Records, wo seine Karriere begonnen hat, veranstaltet im Stundenrhythmus Führungen. Johnny Cash, der seine ersten Platten ebenfalls für Sun aufgenommen hat, wird nur in einem Nebensatz erwähnt.

Nur auf der Beale Street ist das anders, der Amüsiermeile von Memphis. Doch während der Broadway in Nashville eine Talentschmiede für junge Country-Musiker ist, wird hier das Gestern beschworen. Auftritt Gary Hardy and the Memphis 2 – allein der Name ist eine Reminiszenz an Johnny Cash.

Gary Hardy ist klein. Er trägt eine randlose Brille, und seine Haare sind nicht mehr richtig blond. Worum es bei ihm geht, verdeutlicht ein Bild neben der Bühne: Elvis, Carl Perkins, Jerry Lee Lewis und Johnny Cash in den Sun Studios. Seine Show begreift Hardy als Hommage an diese vier, vor allem aber an Cash. Garniert mit Anekdoten und ein paar Breitseiten über diese Stadt im Norden, deren Namen er nicht in den Mund nimmt. Gemeint ist Nashville, und die Sprüche spiegeln den Schmerz, dass Memphis, die Geburtstätte von Roll’n’Roll und Soulmusik nur noch ihre Vergangenheit hat.

Viermal treten Gary Hardy und die Memphis Two pro Abend auf, jeweils knapp eine Stunde. Ihr Publikum besteht hauptsächlich aus Touristen, die ihren Besuch an der Wiege des Rock’n’Roll mit ein wenig Live-Musik krönen wollen.

Pause zwischen zwei Auftritten, Gary Hardy ordert einen doppelten Tequila an der Bar. Er ist wer in Memphis. In den 80ern hat er das Sun Studio geleitet, heute firmiert er als musikalischer Direktor der Galloway Church, einer Kirche weit draußen, in einem dieser Viertel, in denen man nachts besser nicht aussteigt. In der Galloway Church hat Johnny Cash zum ersten mal mit den Tennessee 2 auf der Bühne gestanden. Eigentlich der ideale Ort für Museum, sinniert Gary Hardy. Aber in der Gemeinde herrscht Interesse, was hat Cash mit Memphis zu tun, heißt es.

Gary Hardy: "Dabei hat er Memphis geliebt, auch wenn er nur von 1954 bis 58 hier gelebt hat. Er ist nur wegen seiner Leidenschaft für June weg gezogen, schließlich lebte Vivian hier, seine erste Frau – Sie verstehen?"

Vielleicht ist Johnny Cash deshalb nirgends richtig zu fassen: In Memphis hat er nur kurz gelebt, Nashville nicht gemocht und Hendersonville ist nur ein zu groß geratenes Dorf. Sicher liegt es auch an seiner Vielschichtigkeit: Cash hat Cowboy-Lieder gesungen und sich für die Rechte der Indianer eingesetzt, er ist Patriot gewesen und gegen den Vietnamkrieg, er ist mit Bob Dylan auf dem legendären Folkfestival in Newport aufgetreten und hat in seinen letzten Jahren Songs von New-Wave-Musikern wie Depeche Mode und Nick Cave aufgenommen. Doch bei allem, sagt Hardy, ist Johnny Cash immer er selbst geblieben.

Gary Hardy: "Mord, Liebe und Gott, das waren die großen Themen, die sich durch alle seine Songs ziehen. Und alles, was nicht mit Gott zu tun hatte, verursachte Schuldgefühle. Als Südstaatler fand seine erste Begegnung mit Musik in der Kirche statt. Wann immer die Kirche auf war, gingst du hin, das war dein Sozialleben. Und Religion war damals Feuer und Schwefel: Wenn Du sündigst, nicht an Gott glaubst oder nicht zur Kirche geht’s, dann mein Sohn, wirst Du in der Hölle schmoren! Unkeusche Gedanken, Rock’n’Roll – das war Sünde. Als Jerry Lee Lewis 'Great balls of fire' aufnehmen sollte, sagte er: 'Mr. Phillips, ich kann das nicht, das ist die Musik des Teufels.' Sie waren alle hin- und her gerissen, sie wollten alle Prediger werden oder religiöse Lieder singen. Auch Johnny Cash,
anfangs sah er sich als Gospel-Sänger."

Gary Hardy bestellt noch einen doppelten Tequila. Gleich muss er wieder auf die Bühne.

Gary Hardy: "Johnny Cash ist der große Poet des Südens, er spiegelte den armen, weißen, männlichen Südstaatler der 50er Jahre wieder. Fahren Sie nach Dyess, dann werden sie es verstehen. Johnny Cash kam mit zweieinhalb dort hin, die Regierung unter Roosvelt hatte ein Programm aufgelegt, um Farmern auf die Beine zu helfen, die während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren alles verloren hatten. Die Familie bekam 20 Morgen Land, ein Muli und einen Lieferwagen, ein Haus mit zwei Schlafzimmer und Lebensmittel für ein Jahr. Sie konnten das Land bewirtschaften und von den Erträgen das Haus abbezahlen. Nach fünf Jahren gehörte es ihnen. So ist Johnny Cash aufgewachsen."

Unterwegs nach Dyess in Arkansas, auf der anderen Seite des Mississippi. Richtung Norden durch eine flache, menschenleere Landschaft. In der Autobahnausfahrt endet der Asphalt. Es regnet in Strömen, und die Schlaglöcher auf der Schotterstraße füllen sich mit Wasser. Man bekommt eine Ahnung, was passiert, wenn der Mississippi über die Ufer tritt – wie in Johnny Cashs Jugend. Später hat er das Ereignis in "5 feet high and rising" besungen.

Dyess ist eine Ansammlung von Mobile Homes, transportablen Fertighäusern. Im Zentrum eine Südstaatenvilla, unbewohnt, die Fenster eingeschlagen. Vom Kino nebenan steht nur noch die halbe Vorderfront. Das Rathaus ist in einem Container untergebracht. Drinnen Fotos von Johnny Cash. Bürgermeister Larry Sims erläutert.

Larry Sims: "Das ist ein Klassenfoto aus der Oberstufe, Johnny war stellvertretender Klassensprecher. Und dies hier ist die alte Schule."

Die Fotos sind der Grundstock, für das, was einmal das Johnny-Cash-Museum in der Villa nebenan werden soll. Um die 800.000 Dollar sind für Renovierung und Umbau veranschlagt, Gönner sollen das Projekt finanzieren. Aktuell belaufen sich die Spenden auf knapp 20.000 Dollar.

An der Wand gegenüber hängt eine Luftaufnahme von Dyess in den 30er Jahren. Von einem runden Platz im Zentrum gehen sternförmig Straßen ab. Und an den Ortsrändern schließen sich Parzellen an, wie mit dem Lineal gezogen, jede einzelne mit einem kleinen Haus darauf. Eine Stadt vom Reißbrett für damals 20.000 Einwohner

Larry Sims: "Wenn man sich das vorstellt: alle 400 Meter ein nagelneues Haus. Aber nachdem diese Leute, die Eltern von Johnny Cash und all die anderen, die erste Ernte eingebracht hatten, wussten sie nicht weiter. Sie waren gewohnt, dass jemand sagte: Geh raus und pflück Baumwolle. Jetzt waren sie auf sich gestellt, sie wussten nicht, wie man Geld zurücklegt und fürs nächste Jahr plant. Und nach zwei, drei Jahren waren die meisten pleite."

Nur eines dieser Farmhäuser steht noch – das, in dem Johnny Cash aufwuchs. Der Weg dorthin führt hinaus aus Dyess. Immer wieder kreuzen Kanäle die Schotterpiste – das sind die ehemaligen Straßen zwischen den Parzellen, erläutert Larry Sims, nach und nach haben sie sich mit Wasser gefüllt und sind abgesackt. Dann steht es da, das Haus der Familie Cash, einsam in dieser unendlichen Weite, davor ein Schild: "Fotos knipsen fünf Dollar".

Larry Sims: "Hier ist ja nichts, und mache Leute wollen etwas erleben und gehen nach Memphis. Wir brauchen das Museum, um Leute von außerhalb anzulocken. Sonst ... Sie sehen ja, alles ist runter gekommen, warum sollten die Leute hier leben und jeden Tag wer weiß wohin zur Arbeit fahren? Da ist es einfacher, gleich woanders hin zu ziehen. Andererseits muss man doch irgendwo zu Hause sein."

Larry Sims rückt seine Baseballkappe zurecht. "I walk the line in Dyess, Arkansas", boyhood home of Johnny Cash" steht darauf. Daneben die Silhouette eines Mannes, ganz in schwarz, eine Gitarre in der Hand. "Ihr fragt mich, warum ich immer schwarz trage?", hat Johnny Cash einmal gesungen: "Ich trage schwarz für die Armen und Niedergeschlagenen, für die Kranken und Alten, die Einsamen und Zurückgelassenen. Und so lange die Welt nicht besser und gerechter wird, werdet ihr an mir keine andere Farbe sehen."
Blick auf das San-Quentin-Gefängnis in Kalifornien
Blick auf das San-Quentin-Gefängnis in Kalifornien© AP Archiv
Johnny Cash und seine Frau June Carter im Jahr 2002 in Nashville
Johnny Cash und seine Frau June Carter im Jahr 2002 in Nashville© AP Archiv