Felicitas von Lovenberg im Interview

Lesen ist Zähneputzen für den Geist

Felicitas von Lovenberg ist Chefin des Piper-Verlages.
Felicitas von Lovenberg © dpa / picture-alliance / Arne Dedert
Moderation: Andrea Gerk · 19.04.2018
40 Jahre gibt es die "Gebrauchsanweisung für..."-Reihe des Piper Verlags. Geschäftsführerin Felicitas von Lovenberg hat nun eine "Gebrauchsanweisung fürs Lesen" verfasst: Denn die liebe Gewohnheit, zu lesen, falle vielen immer schwerer.
Andrea Gerk: Ein ganzes Buch zu lesen, fällt manchen Menschen inzwischen ziemlich schwer, deshalb tun sich einige in Slow-Reading-Cafés zusammen und lesen still mal wieder ein dickes Buch. Offenbar brauchen wir inzwischen eine "Gebrauchsanweisung fürs Lesen", und die gibt es auch. Geschrieben hat sie Felicitas von Lovenberg, seit zwei Jahren ist sie Verlegerin des Piper-Verlags, davor war sie viele Jahre im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", und ich bin jetzt mit ihr in einem Studio in München verbunden. Guten Morgen, herzlich willkommen, Frau von Lovenberg!
Felicitas von Lovenberg: Guten Morgen, Frau Gerk!

Eulen nach Athen?

Gerk: Jeder, der erst mal so die mühsame Technik des Lesens, die ja wirklich sehr komplex ist, gelernt hat, der kann eigentlich lesen. Warum brauchen wir trotzdem eine Gebrauchsanweisung?
von Lovenberg: Ich weiß nicht, ob wir eine Gebrauchsanweisung wirklich brauchen, denn natürlich liest auch eine solche Gebrauchsanweisung nur derjenige, der ohnehin liest. Ich war mir schon im Klaren, dass ich da wahrscheinlich auch einfach Eulen nach Athen trage. Aber die Gebrauchsanweisungen sind in erster Linie beim Piper-Verlag eine sehr renommierte Reihe von Büchern eigentlich zu Orten und Städten und eben auch zu Dingen, die man gern tut, inzwischen. Und die Reihe ist in diesem Frühjahr 40 geworden, und um das zu feiern, wollte sich der Verlag eben was Besonderes ausdenken. Das vielleicht zum Entstehungshintergrund dieses Buches …
Gerk: Aber ganz so weit hergeholt ist es ja trotzdem nicht?
von Lovenberg: Nein, nämlich genau, wie Sie sagten: Ich glaube, was den meisten Menschen immer schwerer fällt, Lesen ist eigentlich ja eine liebe Gewohnheit für diejenigen von uns, die es immer tun oder häufig tun oder regelmäßig tun. Und es ist einfach klar, dass viele Menschen aus dieser Gewohnheit irgendwann mal so rauskippen, weil das Leben gerade zu hektisch ist oder der Beruf zu fordernd oder die Familie oder einfach eben so viele andere Angebote kommen, und darunter leidet ja unser Buchmarkt erwiesenermaßen. Insofern war mein Anliegen schon auch, zu sagen, warum ist Lesen eigentlich wichtig, und nicht nur, was ja alle wissen, warum bildet es und macht Vergnügen und erweitert den Wortschatz und sorgt dafür, dass wir uns gutfühlen, sondern was macht Lesen eigentlich mit uns, und was bringen wir als Menschen mit, um lesen zu können.
Und ich hab mich da ziemlich reingekniet und hab lauter mich sehr beglückende Dinge dabei herausgefunden, und insofern bin ich jetzt so weit, dass ich sage: Wenn es die Menschen wieder zum Lesen bringt, wenn man ihnen erklärt, dass sie weniger zur Depression neigen, weniger zu Demenz und Alzheimer, dass Menschen, die lesen, einfach stabiler sind, dass sie empathischer sind, dass es ihnen besser geht, dass sie in der Regel mehr verdienen, dass sie länger leben – all diese Dinge kann man inzwischen nachweisen. Dass Menschen, die Bücher lesen eine halbe Stunde am Tag, jeden Tag, das ist im Grunde genommen wie Zähneputzen für den Geist. Und insofern, da wir in einer Zeit leben der Selbstoptimierer, wo viele Menschen viele Dinge tun, nicht, weil sie sie gern tun, sondern weil sie denken, dass sie ihnen gut tun, muss man vielleicht auch das heute mal sagen dürfen: Lesen tut unserem Geist einfach sehr, sehr gut.

Das "Individuum Buch" muss den Leser ansprechen

Gerk: Das wissen ja tatsächlich - und das haben Sie ja auch selbst schon gesagt - alle, die lesen, aus eigener Erfahrung. Die Frage ist ja auch immer für Verleger natürlich: Wie kriegt man die dazu, die noch nicht abhängig sind von der Lesedroge. Was haben Sie da für Initiativen? Was macht zum Beispiel der Piper-Verlag, um an die ranzukommen, die jetzt nicht automatisch Bücher kaufen?
von Lovenberg: Das ist ja der Leser, das bekannte und eben doch unbekannte Wesen. Das ist für alle Verlage so, wir alle versuchen natürlich, über die sozialen Netzwerke, über den Buchhandel, über Medien insgesamt den Leser möglichst direkt anzusprechen, gleichzeitig immer wissend, dass der Leser ja kein Verlagsprodukt in erster Linie kauft, sondern das Individuum Buch ihn ansprechen muss. Also der Leser guckt nicht zuerst, in welchem Verlag ist ein Buch erschienen, sondern wer hat es geschrieben, und worum geht's? Und insofern tut man als Verlag viel für das einzelne Buch und versucht immer, für das einzelne Buch Leser zu aktivieren. Ehrlich gesagt, ist aber eine der Erkenntnisse, auf die man dann stößt, dass das Beste, was man für viele Bücher tun kann, um Leser anzuziehen, Gewinnspiele sind. Nur: Es gibt auch nur so viele Gewinnspiele, die Sie im Jahr veranstalten können, um die Leute für ein Buch zu interessieren. Manchmal ist das auch etwas ernüchternd, ehrlicherweise.
Gerk: So einen etwas trockenen Weg hat man ja jetzt, habe ich bei Ihnen gelesen, in den USA gewählt. Da gibt es jetzt das vertiefte Lesen, das "Deep Reading", was wir ja verlernen.
von Lovenberg: Als Schulfach, ja.
Gerk: Was neurowissenschaftlich auch schon untersucht ist, dass sich das auch schon nicht ganz so positiv auf unsere Gehirnstruktur auswirkt. Und das hat man jetzt als Schulfach eingeführt. Ist so was der richtige Weg, um neue Leser zu gewinnen?
von Lovenberg: Grundsätzlich bin ich eigentlich der Meinung, dass das stetige Wachstum auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt uns ja hoffnungsfroh stimmen darf, denn das heißt ja: Es wird mehr Geld für Kinder- und Jugendbücher ausgegeben als je zuvor, und mehr davon stehen in den Kinderzimmern. Also wenn auch nur ein Bruchteil davon vorgelesen und gelesen wird, dann ist ja klar, dass wir eine Generation von Lesern heranwachsen sehen. Gleichwohl ist es natürlich wichtig - in einer Zeit, wo auf Lehrplänen kaum noch komplette Bücher stehen, sondern nur noch Textauszüge -, auch schon jüngeren Menschen zu sagen: Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch.
Also du musst dir schon mal die Zeit nehmen, auch mal von vorn bis hinten dabeizubleiben und vielleicht auch mal eine kleine Durststrecke zu erleben, um das literarische Erlebnis wirklich zu haben. Dieses Sich-versenken in eine Sache, das ist ja auch ein ganz großes Glücksgefühl, bedeutet das. Und insofern kann das sicherlich sinnvoll sein. Insgesamt bin ich einfach der Meinung, dass wir gesamtgesellschaftlich – das klingt jetzt immer gleich so vermessen –, aber dass wir einfach wieder viel mehr über Bücher reden müssen mit unseren Liebsten, mit unseren Freunden, im Bekanntenkreis, also dass einfach das Leitmedium Buch in unserer Gesellschaft auch sich anfühlen muss wieder wie ein Leitmedium. Und dazu kann einfach nur jeder beitragen, indem man eben nicht ständig nur über die neueste Serie auf Netflix redet, sondern seinen Freunden erzählt, Mensch, ich hab da ein Buch gelesen, das hat mich total begeistert. Letztendlich wird doch nur zur Droge zur Sucht das, was man irgendwie auch gern tut und wo es einem gut mit geht. Das heißt, man muss den Menschen einfach gute Bücher empfehlen.

Bücher sind mit Erinnerungen verbunden - E-Books nicht

Gerk: Aber ist da nicht die digitale Welt inzwischen fast wichtiger als das, was irgendwie Menschen untereinander sprechen oder sich gegenseitig empfehlen? Gerade junge Leute - Schüler, Studenten - sind ja quasi mit ihren digitalen Medien geradezu körperlich verwachsen. Müssen Sie da nicht als Verlag auch ganz umdenken und irgendwelche digitale…?
von Lovenberg: Das haben wir schon getan. Wir sind tatsächlich in den sozialen Netzwerken ungeheuer aktiv und sind da auch in den Rankings überall sehr weit vorn. Aber dadurch, dass natürlich alle sich auf die sozialen Medien stürzen, glaube ich eben doch, dass nichts über die persönliche Beziehung geht. So ist es ja auch: Warum lieben Menschen ihre Bücher, und warum ist es auch bis heute so, dass das E-Book eben nicht, wie man früher mal gedacht hat, heute 80 Prozent aller Lektüren ausmacht, und 20 Prozent das physische Buch, sondern warum ist es umgekehrt? Weil wir einfach mit unseren Büchern Erinnerungen verbinden, weil das eben mein Buch ist, weil ich mich haptisch daran erinnere, wie es sich angefühlt hat, es in der Hand zu halten.
Weil ich weiß: Da war ein Satz, der mich umgehauen hat, auf irgendeiner linken Seite ziemlich in der Mitte. Und ich glaube: Ähnlich ist es mit Empfehlungen. Es ist etwas anderes, wenn mir jemand, den ich kenne oder dem ich traue, dem ich glaube, also wenn ein toller Kritiker oder eben ein Freund oder ein Bekannter mir etwas empfiehlt oder schenkt, hat man dazu eine andere Beziehung, weil natürlich auch auf den sozialen Netzwerken alles voll ist von Kaufempfehlungen. Ich meine, das machen ja nicht nur Verlage, sondern jeder, der was anzubieten hat, geht in die sozialen Netzwerke, und irgendwann verschwindet man da ja auch in einem Tunnel, der personalisiert ist durch die Cookies und so. Man sieht ja nur noch das, was man ohnehin schon weiß und kennt. Man bekommt ja immer mehr von demselben angeboten. Die Welt ist aber so groß und so vielfältig, und das, glaube ich, entdeckt man immer noch besser ganz altmodisch und analog, indem man die Augen aufmacht und die Ohren und die Nase und den Mund, und die Welt irgendwie in sich rein lässt. Aber das ist jetzt vielleicht nur meine Meinung.

"Bücher, über die man spricht" - das ist zu wenig

Gerk: Und das haben Sie ja auch Ihrem Verlag quasi auf die Fahne geschrieben: "Bücher, über die man spricht". Das ist das, was Sie erreichen wollen.
von Lovenberg: Ehrlich gesagt, tue ich mich fast mit diesem Leitsatz etwas schwer. Den gibt es schon sehr lange. Ich möchte viel mehr machen als Bücher, über die man spricht. Ich möchte irgendwie Bücher, mit denen man lebt, die einen begleiten. Bücher, über die man spricht, ist im Grunde genommen zwar schön, und das tut dann auch was, aber heutzutage ist mir das schon fast zu wenig. Ich möchte Bücher, über die man spricht, aber in der Hoffnung, dass man, damit man über sie spricht, eben sie vorher auch wirklich liest und damit 'was anfangen kann.
Gerk: Man braucht ein klares Profil, damit über einen gesprochen wird. Wie würden Sie das beschreiben, was Ihnen da vorschwebt für Ihren Verlag, seit Sie den übernommen haben?
von Lovenberg: Im Grunde genommen das, wie der Piper-Verlag vor über hundert Jahren gegründet wurde. Eine große Vielfalt, ein hohes Niveau und Bücher, die ganz viele unterschiedliche.. – also im Grunde genommen ist der Piper-Verlag ein Verlag, wo ich sage: Es gibt keinen Menschen, für den wir nicht das richtige Buch haben. Der Verlag war immer schon sehr vielfältig, immer sehr stark im Sachbuch, sehr stark in der Belletristik. Wir machen Science-Fiction, Fantasy, Abenteuer und Reise, und zu Piper gehört ja auch der Berlin-Verlag, der große Literaturverlag. Also im Grunde genommen bleibt es unser Credo, nicht zu sagen: Wir können nur eins! Sondern: Wir können vieles, aber das, was wir machen, soll immer besonders gut sein und auch die Menschen ansprechen. Wir möchten niemanden belehren, von oben herab.
Gerk: Felicitas von Lovenberg. Vielen Dank für dieses Gespräch!
von Lovenberg: Ich danke Ihnen, Frau Gerk!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Felicitas von Lovenberg: Gebrauchsanweisung fürs Lesen
Piper-Verlag, München 2018
128 Seiten, 10 Euro

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