FDP

Aus den Augen, aus dem Sinn

Brandenburgs FDP-Chef Gregor Beyer (l.) und Fraktionschef Andreas Büttner stellen in Potsdam die Wahlkampagne der FDP vor.
Nimmt sich im Brandenburg-Wahlkampf selbst auf die Schippe: die FDP © picture alliance / dpa
Von Wolf-Sören Treusch · 22.09.2014
Vor einem Jahr flog die FDP aus dem Bundestag. Seitdem sind die Liberalen wie paralysiert und kämpfen ums nackte Überleben: eine Partei im Auflösungsprozess.
Spot: "Die kleine FDP möchte aus dem Bundestag abgeholt werden. Die kleine FDP bitte."
Lindemann: "Wir stehen nicht am Abgrund, sondern wir sind im Abgrund."
Lindner: "Die Nachfolgerin der alten FDP kann nur die neue FDP werden."
Spot: "Die kleine FDP bitte."
Niedermayer: "Man hört nichts mehr von ihr, und das bedeutet natürlich für die Wähler auch: Sie ist aus den Augen, aus dem Sinn sozusagen."
Heute vor exakt einem Jahr erlebte die FDP ein Wahldebakel, dessen Wucht noch immer nachwirkt. 4,8 Prozent der Wähler gaben ihr bei der Bundestagswahl die Stimme. Zu wenig. Zum ersten Mal seit 1949 verpassten die Freien Demokraten den Einzug ins Parlament. 93 Abgeordnete verloren ihr Mandat, etwa 500 Referenten und andere Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Der 22. September 2013 ist ein historischer Tag in der Geschichte der FDP. Ob die Partei im Herbst 2017 dasselbe wird sagen können, dann nämlich wenn sie den Wiedereinzug in den Bundestag schaffen sollte, ist offen. Völlig offen.
Abschied aus dem Bundestag
Im Bundestagsbüro von Lars Lindemann ist es still. Ungewohnt still. Kein Telefon klingelt, keine Tastatur klackert. Nur die Sekretärin macht Geräusche. Mit grimmiger Miene zerreißt sie Seitenweise Papier. Akten aus vier Jahren Parlamentsarbeit landen im Mülleimer. In den Büroräumen und auf dem Flur stapeln sich Umzugskartons.
Lars Lindemann gehört zu den 93 FDP-Abgeordneten, die nun ihr Bundestagsbüro räumen müssen. Vier Wochen haben sie dafür Zeit, vier Tage sind seit der Wahl vergangen. Jean-Paul Neuling, Pressereferent von Lars Lindemann, ist immer noch verdattert.
Neuling: "Ich persönlich habe wirklich nicht gedacht, dass es unter die Fünf-Prozent-Hürde fällt, war natürlich ein Schock, jetzt heißt es aufrappeln, weitermachen, immer weiter, kämpfen. Ich glaube aber auch, dass die Partei ne große Chance hat, denn - wenn man das mal als Unternehmen sieht: Ich kauf ja auch Aktien von nem Unternehmen, wenn sie unten sind. Und ich glaube, jetzt hat man wirklich, wenn die richtigen Leute da sind, die so einen Laden wieder aufbauen können, wenn wir dieses Problem der Kommunikation lösen werden, dann glaube ich, dass die FDP wieder gestärkt, wie der Phönix aus der Asche bei der nächsten Bundestagswahl dabei sein wird."
Das Wahldebakel der FDP ist noch so frisch, die Stimmung in den Fraktionsräumen so bedrückend, dass die Durchhalteparolen des Pressereferenten irgendwie albern klingen.
Der Bundestagsabgeordnete selbst schreibt Abschiedsbriefe. Ein, zwei persönliche Sätze, handschriftlich, mit Füllfederhalter. Lars Lindemann, Anfang 40, wache Augen, markanter Schädel. In der vergangenen Legislaturperiode Gesundheitsexperte der FDP und klassischer Hinterbänkler. Wir kennen uns, für eine frühere Reportage über ihn und seine Partei hatte ich ihn einige Male begleitet. Nun sitzt er da, erkennbar angeschlagen, in der Boxersprache würde man sagen: Die Wähler haben ihm einen Wirkungstreffer verpasst.
Lindemann: "Es war die nötige Dosis, die die FDP bekommen musste, um die Chance zu haben, sich wieder neu aufzubauen. Ich meine, dass wenn 5,1 Prozent am Sonntagabend das Ergebnis gewesen wäre, würde es genauso weitergehen wie von 2009 bis 2013. Und das möchte ich ausdrücklich nicht, und da werde ich mich auch persönlich einbringen."
Der FDP-Bundesvorsitzende, Christian Lindner, sitzt am 06.08.2014 in Erfurt (Thüringen) bei einer Wahlkampfveranstaltung vor einem Wahlplakat der Thüringer FDP auf dem steht: "Wir sind dann mal weg. Genauso wie der Mittelstand"
Der FDP-Bundesvorsitzende, Christian Lindner, vor einem Wahlplakat der Thüringer FDP (2014): "Wir sind dann mal weg. Genauso wie der Mittelstand"© picture alliance / dpa / Martin Schutt
Spott, Häme, Hass
Wirkungstreffer ja, aber Lars Lindemann kämpft. Will nicht k.o. gehen. Auch wenn es ihm in einem Punkt schwer fällt. Er hatte mir einmal erzählt, wie sehr es ihn bedrücke, mit wie viel Spott, Häme, sogar Hass die FDP bedacht werde. Und dass das auch seine Kinder mitbekämen. Und, frage ich, auch noch am Tag nach der Wahl?
Lindemann: "Da möchte ich nix sagen dazu. Das war so, und das war nicht schön. Den Satz, den ich gesagt habe, kann man stehen lassen, aber mehr nicht. Das war nicht schön. Sage ich ganz ehrlich: Das tut mir auch jetzt noch weh. Das haben die nicht verdient. Sorry."
Seit 1949 saß die Freie Demokratische Partei im Bundestag. Die meiste Zeit davon war sie an der Regierung beteiligt. Sie stellte zwei Bundespräsidenten und gestaltete wesentlich die deutsche Einheit. Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte sie mit 14,6 Prozent ihr historisch bestes, vier Jahre später mit 4,8 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis. Der Absturz der FDP ist beispiellos. Oskar Niedermayer, Parteienforscher an der Freien Universität Berlin:
"In der Dramatik kann ich mich eigentlich nicht erinnern, dass es das jemals gegeben hätte, und man muss ja sagen, dieser Sturz ist ja nicht innerhalb mehrerer Jahre erfolgt, sondern der Sturz ist eigentlich im halben Jahr oder im dreiviertel Jahr nach der Bundestagswahl 2009 erfolgt, das heißt so Mitte, Ende 2010 lag die FDP schon am Boden, die Leute haben ihr nichts mehr zugetraut inhaltlich, die Personen, die ne Rolle spielen, waren ganz negativ bewertet von der Bevölkerung, und daran hat sich dann bis zur Bundestagswahl und bis heute eigentlich nicht viel geändert."
Seit 1949 im Bundestag
Weder Parteichef Guido Westerwelle, dessen Beliebtheitswerte, kaum dass er Bundesaußenminister geworden war, in den Keller sackten, noch sein Nachfolger Philipp Rösler, der so gern liefern wollte, stattdessen nach kurzer Zeit aber geliefert war, konnten die Karre aus dem Dreck ziehen. Ihre programmatischen Ansätze verpufften, es interessierte sich niemand mehr für sie. Ulf Poschardt, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung "Die Welt" und bekennender FDP-Sympathisant, steigt tief in die Ursachenforschung ein:
"In Deutschland gibt es so eine Art Gerechtigkeits- und Sozialreligion. Und die hat das Land in einer schwierigen Phase, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Nazi-Barbarei, nach all den Verbrechen an die Menschlichkeit zusammengeschweißt. Also: wir sind eine Gesellschaft, es gibt keine großen Unterschiede, das Individuum ordnet sich dieser Wiedergutmachungs- und neuen Erfolgsgeschichte unter, und eine Partei, die immer für gesellschaftliche Unterschiede da war, die sich im Zweifelsfall immer für die Individualität, für die Freiheit stark gemacht hat und den Staat eher kritisch beäugt hat als mit so nem verknallten Blick, ist ein Ketzer."
Und wie das so ist mit Ketzern: Irgendwann landeten sie auf dem Scheiterhaufen.
Poschardt: "Also, ich wage jetzt mal eine etwas kühnere dialektische These und glaube, dass die Art der Abstrafung, die da im Augenblick für die FDP passiert, eher ein Indiz einer Verbundenheit ist als eines routinierten Umgangs mit irgendeiner Partei, die man halt mal aus Versehen gewählt hat. Diese Art von krasser Bestrafung, die ja fast mit so einer dogmatischen Härte vollzogen ist, die deutet ja auch daraufhin, dass die Enttäuschung bei den Leuten, die vielleicht zum ersten Mal FDP gewählt haben, dann besonders groß ist. Das macht auch deutlich, dass man mit dieser Idee möglicherweise sehr viel mehr anfangen konnte als man sich selber eingestehen wollte."
Lindner: "Ihr müsst mir übrigens mal ne Zwischenzeit ab und an geben, 10? Na, wunderbar."
Wofür steht die FDP?
7. Dezember 2013. In einer alten Eisenbahnhalle in Berlin-Kreuzberg trifft sich die FDP zum außerordentlichen Bundesparteitag. Das Wahldebakel liegt elf Wochen zurück, die große Abrechnung findet nicht statt. Kurz debattieren die 650 Delegierten die Fehler der Vergangenheit, dann machen sie business as usual: Sie wählen eine neue Führungsspitze.
Lindner: "Wir sind eine plurale Gesellschaft. Und die FDP, sie muss nicht fürchten, bekämpft zu werden für das, wofür wir stehen, die FDP muss nur fürchten, für nichts zu stehen, liebe Freundinnen und Freunde."
Favorit für den Posten des Parteichefs ist Christian Lindner, Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen und ehemaliger Generalsekretär der Bundes-FDP.
Lindner: "Außerparlamentarische Opposition, liebe Freunde, heißt für mich Machete UND Florett, Stammtisch UND Talkshow, Straße UND Feuilleton. Neiden wir uns unsere unterschiedlichen Möglichkeiten nicht!"
Den Eurokritikern in seiner Partei um Frank Schäffler sagt er den Kampf an. Christian Lindner warnt vor Flügeldiskussionen, appelliert an den Teamgeist der Delegierten. Schluss mit der Trauerarbeit, ruft er ihnen zu.
Lindner: "Ab heute, liebe Freundinnen und Freunde, muss gelten: Greift der politische Gegner einen von uns an, dann bekommt er es mit der gesamten FDP zu tun."
Am Ende seiner gut 20-minütigen Bewerbungsrede tobt die Halle. Mit großer Mehrheit, fast 80 Prozent, wählen die Delegierten Christian Lindner zu ihrem neuen Parteichef.
Einer hat nicht getobt: ein schlanker Mann, Mitte 30, Eurokritiker, bis vor zwei Jahren FDP-Funktionär im Brandenburgischen, aus beruflichen Gründen mittlerweile in Bonn.
Fischer: "Ich habe keine Hand gesehen, die uns gereicht wird, oder die der Gruppe um Frank Schäffler gereicht wird. Ich bin ja nur ein ganz normales FDP-Mitglied. Aber ich glaube, ich habe in den letzten Jahren relativ viel selbst gearbeitet als Ortsvorsitzender von einem kleinen Ortsverband, und ich glaube, es gibt viele, die das so ähnlich sehen und auf die wir nicht verzichten können. Und es sind auch viele ausgetreten. Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe und die ich auch sehr geschätzt habe. Die ich auf Parteitagen getroffen habe, die sind nicht mehr da, die Reihen lichten sich."
Sagt es, zieht einen "Lindner. DAS ist meine FDP"-Aufkleber von seiner Tasche und klebt ihn an den nächstbesten Stahlträger. Lindner brauche seine Unterstützung nicht mehr, jetzt sei er Mainstream.
Im Vorraum der Halle begegne ich Lars Lindemann. Wie bewertet er den Auftritt seines neuen Parteivorsitzenden?
Lindemann: "Er hat im Saal begeistert, das haben aber Leute wie Guido Westerwelle vor ihm auch. Einen Parteitag zu begeistern, ist ja das eine, wir wollen die Wähler wieder begeistern, dazu gehört ein bisschen mehr als dazu beitragen zu können, dass die Menschen im Saal aufstehen."
Kubicki: "Liebe Freunde, ich habe immer das große Glück, dass ich auf Bundesparteitagen in die Hände von Journalistinnen oder Journalisten falle, ..."
Auch Parteivize Wolfgang Kubicki hat einen großen Auftritt.
Kubicki: "... Lutz van der Horst, das ist dieser wuschelige Reporter von der Heute-Show, er kam zu mir und sagte 'Herr Kubicki, ich will mich bei Ihnen entschuldigen, die Heute-Show ist mit der FDP wirklich miserabel umgegangen in der Vergangenheit' und hat mir dafür ein Bärchen gegeben. Aber er hat zu mir gesagt 'ich will mich wirklich entschuldigen'. Und da habe ich gesagt 'ich will Sie jetzt mal ernst nehmen: wenn Sie das wirklich ernst meinen, treten Sie heute in die FDP ein'. Der Mann ist noch im Saal."
Und unter dem Gejohle der Parteitagsdelegierten hält der Reporter der Heute-Show das Beitrittsformular in die Kamera.
Ein Wahlplakat der FDP mit der Aufschrift "Sachsen ist nicht Berlin! Für Schwarz-Gelb: FDP wählen!" ist am 07.08.2014 in starkem Regen an einem Baum in Dresden (Sachsen) zu sehen.
FDP-Wahlkampf in Sachsen: Auch hier scheiterte die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde.© picture alliance / dpa / Arno Burgi
Lachnummer FDP
Lindemann: "Ich betrachte diesen gefaketen Parteieintritt als die unterste Schublade, wie man sich Späße erlaubt. Wir wissen, dass gerade auf Kosten der FDP gerade in der Heute-Show in den letzten vier Jahren erheblichst auf unserem Rücken Dinge ausgetragen worden sind, die die einzelnen Mitglieder ganz sicher nicht zu vertreten haben. Und dass man das dann auf einem Parteitag, wo man sich genau davon verabschieden will, wo man sich genau davon abgrenzen will, wo der Vorsitzende davor einfordert, dass, wenn es jemanden gibt, der einen von uns angreift - so hat er formuliert - er es mit uns allen zu tun bekommt, jemand dann den Oberspaßvogel so inkorporiert und der sich daraus dann wiederum einen Spaß macht, dann kann ich nur sagen, hat Wolfgang Kubicki zwar das gemacht, was er gut kann, nämlich ordentlich Aufmerksamkeit erregen, aber ob er uns damit einen Dienst erwiesen hat, werden wir dann demnächst im ZDF sehen."
"Aber: die Delegierten haben gejubelt."
"Ja. Ich war nicht dabei."
Aller Neuanfang ist schwer. Vor allem wenn die mediale Plattform für die eigenen Botschaften weg ist. Seit dem Außerordentlichen Parteitag im Dezember vergangenen Jahres ist es merklich ruhiger geworden um die FDP. Ulf Poschardt von der Zeitung "Die Welt":
"Natürlich ist es aber auch bei uns so, dass die Berichterstattung über die FDP komplett eingebrochen ist. Im Sinne von: es ist einfach nicht mehr relevant. Früher bei einer Regierungspartei im Bund ist praktisch jede Irrung und Wirrung ein Thema, und das ist es eben nicht mehr. Und jetzt muss man sehen, in welchen Momenten es Sinn macht, eine Geschichte zu machen, weil: selbst bei unserer Leserschaft, die mit Sicherheit das größte Interesse aufbringt, wenn ich es mit anderen Zeitungen, Zeitungsgruppen und Mediengruppen vergleiche, auch die sind eigentlich mit dem Thema erstmal durch."
Selbst wenn Christian Lindner exponierte Positionen einnimmt und beispielsweise Waffen für die Kurden im Irak ablehnt, interessiert das so gut wie niemanden.
Leben in der zweiten Liga
Lindner: "Bis 2017, das sage ich meinen Leuten immer, spielen wir sozusagen in der zweiten politischen Bundesliga als Apo, da ist man nicht regelmäßig in der Sportschau, und die Saison müssen wir durchspielen, weil ein Aufstieg eben nur am Ende der Saison möglich ist, zwischendurch spielt man mal im Pokal, also: man kommt in eine Talkshow, aber in die Sportschauberichterstattung oder in die Tagesschau kommt man erst in der Ersten Liga, da sind wir gegenwärtig nicht, also es ist viel Hartnäckigkeit und Nervenstärke von allen 57.000 FDP-Mitgliedern und den Millionen Unterstützern, die wir haben, gefordert."
Ein Jahr nach dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit hat die FDP noch immer ein massives Imageproblem. Die "verbrannte Marke", von der Parteivize Kubicki nach der verlorenen Bundestagswahl 2013 sprach, ist aus den Köpfen der Wähler noch nicht raus. Die Menschen glauben der FDP nicht mehr, meint Parteienforscher Oskar Niedermayer:
"Der größte Fehler der FDP vor der Bundestagswahl war, dass sie ihr Alleinstellungsmerkmal in Bezug auf den Mindestlohn aufgegeben hat, das war so damals im gesellschaftlichen Mainstream, ja, 85 Prozent waren für den Mindestlohn, aber eben 15 Prozent dagegen. Und in diese Lücke, also ausgewiesene marktwirtschaftliche, wirtschaftsliberale Partei zu sein, ist jetzt die AfD gestoßen, und das ist ein weiteres Riesenproblem für die FDP. Denn ob die AfD der CDU ein, zwei Prozent wegnimmt, ist der CDU nicht ganz so wichtig als wenn sie der FDP ein, zwei Prozent der Stimmen wegnimmt und sie dadurch eben unter die fünf Prozent drückt, wie man jetzt in Sachsen ja gesehen hat, dass die FDP aus dem Landtag geflogen ist."
Pressekonferenz nach Sachsenwahl: "Ich habe heute Morgen intensiv und auch kollegial mit Holger Zastrow telefoniert und äh, natürlich auch mein Bedauern darüber ausgedrückt, dass die FDP ihre erfolgreiche Regierungsarbeit nicht fortsetzen kann, ..."
Montag vor drei Wochen, im Lichthof der Berliner Parteizentrale der FDP: Wo in den Jahren der Regierungsbeteiligung die Medienvertreter früh genug kommen mussten, um einen Platz zu ergattern, folgen heute nur noch 13 Kolleginnen und Kollegen den Ausführungen des Parteichefs. Christian Lindner muss erklären, warum es auch in Sachsen für die FDP nicht gereicht hat. Ähnlich wie der Kollege Zastrow in Dresden hat er keine Erklärung. Die Konkurrenz durch die AfD sieht Lindner nicht.
Welche Konkurrenz?
Lindner: "Das ist eine defensive Protestpartei, Leute, die Ängste haben, wollen diese Partei offensichtlich unterstützen, Leute, die Protest haben, weil sie sich bei anderen Parteien nicht beheimatet fühlen, wählen diese Partei, aber das ist keine echte Alternative und erst recht keine liberale Partei, also werden wir uns nicht auf den Wettbewerb mit der AfD konzentrieren."
Und auch den Streit in der Hamburger FDP spielt er herunter. Dort wollen mehrere Mitglieder aus der Partei austreten und eine neue liberale Gruppierung gründen. Für Christian Lindner kein Anlass, über Veränderungen nachzudenken.
Lindner: "Die FDP wird nicht linksliberal oder 'mitfühlend liberaler': ein sehr missverstandener Begriff, der inzwischen ein Eigenleben entwickelt hat, das mit dem Ursprung nichts zu tun hat, das wird die FDP unter meiner Führung nicht werden. Auch nicht sozialliberal allein, sondern umfassend liberal. Also von denjenigen, die sich als sozialliberal begreifen, bis zu jenen, die wirtschaftsliberale Positionen vertreten, wollen wir das gemeinsame Dach FDP wieder stärken. Es wird keinen Links- oder Rechtsschwenk der FDP geben, die Nachfolgerin der alten FDP kann nur die neue FDP werden."
Die neue FDP! Ein mühsamer Weg wird es dorthin. In einem hat sich der Parteichef festgelegt: der "Hauptwettbewerber", das sei weiterhin die Große Koalition.
Lindner: "Ich will die Wähler von der CDU zurück, die bei der Bundestagswahl von der FDP enttäuscht waren."
Und die will Lindner mit einem "Schuss neuer Radikalität" für sich gewinnen. Da darf es auch etwas lauter und schriller zugehen. Um auf dem Marktplatz politischer Entwürfe Gehör zu finden, versuchen die Liberalen, Positionen zu besetzen, die noch frei sind.
Lindner: "Alle diskutieren über Rente mit 63 oder 67, eine Partei muss sagen: Jeder entscheidet selbst zwischen 60 und 70, wann er geht. Arbeitet er länger: höhere Rente, geht er früher: geringere Rente. Also: ich arbeite mich lieber an diesen grundsätzlichen, im besten Sinne auch radikalen Ideen ab als jetzt Metadiskussionen zu führen: wie kommt die FDP in die Medien und so, bin fest davon überzeugt, ein kluges Argument, eine gute Idee, die finden ihren Weg."
Philipp Rösler und Christian Lindner sitzen an zwei nebeneinanderstehenden Konferenztischen.
Der alte und der neue Chef: Philipp Rösler (li.) und Christian Lindner© Maurizio Gambarini / picture alliance / dpa
Wer braucht denn noch die FDP?
Niedermayer: "Nur: der inhaltliche Aufbruch ist eben versandet, weil er eben nicht nach außen getragen werden konnte, es konnte nicht in der Außenkommunikation das Gefühl hergestellt werden bei den Leuten: 'aha, da ist jetzt ne Partei, die hat aus ihren Fehlern gelernt, die bricht zu neuen Ufern auf, die wird noch gebraucht im deutschen Parteiensystem'. Im Gegenteil: nach der Bundestagswahl war immer noch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überzeugt, dass man die FDP als Partei braucht, heutzutage ist es eine kleinere Minderheit."
In Zahlen: nur noch 35 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die FDP werde als Partei noch gebraucht. Das geht aus dem Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen von Anfang September hervor. Gerade mal 27 Prozent glauben, die FDP werde den Wiedereinzug in den nächsten Bundestag schaffen.
Ein kluges Argument wird seinen Weg in die Öffentlichkeit finden, sagt Christian Lindner. Aber was, wenn man nicht der einzige ist, der klug argumentiert. Wo bleibt das Alleinstellungsmerkmal der FDP?
Beispiel Bürgerrechte. Ende August ziehen 3000 Menschen durchs Berliner Regierungsviertel und demonstrieren gegen Vorratsdatenspeicherung und digitalen Überwachungsstaat. Insgesamt 81 Organisationen haben dazu aufgerufen, darunter auch die Jungen Liberalen. Mit 20 Aktivisten sind sie bei der Demo dabei, jeder zweite von ihnen trägt eine gelb-blaue Fahne. Auch der 18-jährige Matti.
"Man muss es so sehen, dass es da wirklich um die Sache geht und nicht darum, welches Fähnlein man trägt, sondern dass wir alle ein gleiches Ziel haben, und das wir auch unterstützen müssen, und da kann man sich sehr gut mit anderen Parteien, mit denen man auf anderen Ebenen eventuell Schwierigkeiten hat, sehr gut zusammenbringen."
Eine Partei mit Potenzial
Matti findet nicht, dass es das Alleinstellungsmerkmal sei, das der FDP fehle. Die Partei habe vielmehr ein Vertrauensproblem. Und genau deshalb sei er im Januar 2013 Mitglied geworden.
"Ich denke nicht, dass man in eine Partei eintreten sollte, wenn die Partei an der Spitze ist und man sie supertoll findet, weil: dann muss man nicht eintreten, dann muss man sie einfach nur wählen. Ich hatte das Gefühl, dass die FDP eventuell andere Denkanstöße gebrauchen könnte, deswegen bin ich eingetreten und wollte auch die Partei, die, wie ich finde, Potenzial hat, mitgestalten."
Neue Denkanstöße, das heißt für ihn: mehr Polizeipräsenz am Ort und praxisnäherer Unterricht in der Schule. Mit Forderungen wie diesen zog der 18-Jährige sogar als Direktkandidat der FDP in den Brandenburgischen Wahlkampf. Für 12 von 44 Wahlkreisen hatte die Partei niemanden gefunden. Ein Mandat errang Matti Karstedt nicht.
Jede Wahlniederlage bedeutet für die FDP weiteren personellen und finanziellen Aderlass. Christian Lindner und Wolfgang Kubicki sind die beiden einzigen aktiven Politiker, die überregional bekannt sind. Auch finanziell wird die Lage komplizierter. 2013 haben die befreundeten Unternehmen aus der Mittelständischen Industrie noch hohe Summen gespendet. Aber werden sie das auch tun, wenn die FDP völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist?
Die Marke FDP
Zurück im Thomas Dehler Haus in Berlin, dritter Stock: Hier befindet sich die Parteizentrale der FDP. Nach den vielen Wahlniederlagen ist die Zahl der Mitarbeiter geschrumpft: 20 statt wie vor einem Jahr noch 40 kümmern sich um die Belange der Partei. Man ist zusammengerückt. Christian Lindner und die Generalsekretärin Nicola Beer teilen sich ein Vorzimmer.
Hier entwickeln sie ihren Masterplan mit dem alleinigen Ziel: Rückkehr ins Oberhaus der Politik, in den Bundestag. Die internationale Unternehmensberatungsgruppe Boston Consult hat ihnen dabei geholfen. Hat die Lage der FDP, so Lindner, "schonungslos analysiert" und hat ihnen schließlich mitgeteilt: Die Marke FDP ist weniger ramponiert als befürchtet.
Lindner: "Die Positionierung der FDP, also Mittelstandsorientierung, Leistungsorientierung, positiver Individualismus, Bürgerrechte: Diese bürgerliche Positionierung ist unverändert attraktiv, die FDP muss nur an den konkreten Forderungen und ihrer Glaubwürdigkeit arbeiten."
Erzählt eure Geschichten anders, emotionaler, lösungsorientierter, insgesamt positiver, empfahlen die Unternehmensberater, nur so werdet ihr glaubwürdiger.
Lindner: "Trotzdem bestimmen die Wechsel von Privatleuten, die ehemals FDP-Bundesminister waren, in die Wirtschaft die Schlagzeilen, das hat nichts zu tun mit unserer politischen Arbeit, und das ist die schwere Hypothek der vergangenen vier Jahre, dass solche Berichte über die beruflichen Pläne eines Herrn Niebel oftmals mehr Resonanz haben in der Öffentlichkeit als wenn wir einen neuen konzeptionellen Vorschlag machen."
Eine weitere Erkenntnis: Die FDP muss moderner werden. Die Mitglieder an der Basis wollen an den Entscheidungsprozessen stärker beteiligt sein. Knapp 14.000 von ihnen nahmen im Frühjahr an einer Mailumfrage teil. In mehreren Regionalkonferenzen werden die Kreisvorsitzenden aus ganz Deutschland demnächst das neue Grundsatzprogramm der FDP diskutieren. Am 30. November will Parteichef Lindner das Ergebnis der Neuausrichtung auf einem Parteikonvent vorstellen.
Lindemann: "Ich bin mit der jetzigen Bundesführung nicht ganz zufrieden, auch nicht einverstanden mit dem, wie sie die Dinge da angehen, aber das gehört zum politischen Streit innerhalb einer Partei dazu."
Lars Lindemann weiß noch nicht, ob er an diesem Parteikonvent teilnehmen wird. Ihn stört es sehr, dass Christian Lindner permanent betont, auf die Bundestagswahlen 2017 komme es an, nicht aber auf die vielen Landtags- und Kommunalwahlen davor. Außerdem hat es ihn sehr geärgert, dass die Eurokritiker in der FDP bei den letzten Parteitagen so abgewatscht wurden. Er selbst hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn er im Bundestag ein Rettungspaket nach dem anderen abnicken sollte.
Ich frage Lars Lindemann, ob sich unter dem neuen Parteichef die Strukturen verbessert hätten. So, wie er, Lindemann, es nach der Bundestagswahl gefordert hatte. Kurze Pause, dann:
"Also wenn ich ehrlich bin: nein. Die Partei organisiert sich immer noch in Hinterzimmern, Dienstagabend 19 Uhr, was für jeden Menschen, der beruflich sehr aktiv ist und zudem noch eine Familie hat, schon eine erhebliche Herausforderung ist, zu diesen Terminen dann noch seine Zeit aufbringen zu müssen, und alles, was davon abweicht, oder jeder Versuch, der in eine andere Richtung geht, wird äußerst kritisch beäugt, man hängt da sehr tief in dieser Vereinsmeiereistruktur, da sind wir noch nicht wirklich vorwärts gekommen."
Vom Abgeordneten zum Lobbyisten
Auf seiner Website ist Lars Lindemann immer noch Bundestagsabgeordneter, der letzte Eintrag aus dem Oktober vergangenen Jahres. Beruflich hat er die Seiten längst gewechselt: vom Gesundheitsexperten der Bundestagsfraktion wurde er zum Lobbyisten der Gesundheitsindustrie. Lindemann ist Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands e.V. Nur nebenbei ist er Schatzmeister der Berliner FDP und leitet einen Ortsverband.
Politisch ist es ruhig geworden um ihn, nur einmal sorgte er für Wirbel. Die BILD-Zeitung zitierte ihn mit den Worten: "Hartz IV-Empfänger an den Stadtrand". Natürlich habe er das so nicht gefordert, erklärt Lars Lindemann heute, der Satz sei aus dem Zusammenhang gerissen. Nun seien einige Parteifreunde so schockiert, dass sie ihm, Lindemann, den Parteiaustritt nahe legten. Der versteht die Aufregung nicht:
"Dieser Diskurs gehört dazu. Wir brauchen mehr Streit, wir brauchen mehr Spannungsbögen innerhalb der Partei. Um wieder wahrnehmbar zu werden für die, die sich für unsere Politik interessieren. Wenn ich immer nur versuche, im Mainstream zwischen Süddeutscher Zeitung und FAZ meinen Platz zu finden, da sind schon alle, da werden wir nicht wahrgenommen, es geht nicht darum, die beliebteste Partei zu sein, sondern als Partei gebraucht zu werden. Ich will die fünf, sechs Prozent in Berlin erreichen, die sagen: 'ja, genau das will ich'. Ich möchte nicht 50 Prozent gefallen oder von denen gemocht werden in Berlin. Die wählen mich sowieso nicht."
Kein Land in Sicht
Die FDP steckt in der größten Krise ihrer Geschichte. Vor einem Jahr flog sie aus dem Bundestag. Bei sämtlichen Landtagswahlen danach scheiterte sie immer klar an der Fünf-Prozent-Hürde. In keiner Landesregierung ist sie mehr vertreten, bundesweit verfügt sie nur noch über 66 Landtagsmandate. Es ist schwer vorstellbar, wie diese Partei ihre "Durststrecke", Zitat Christian Lindner, beenden kann. Ulf Poschardt, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung "Die Welt", und Oskar Niedermayer, Parteienforscher an der Freien Universität Berlin.
Poschardt: "Ich glaube, dass die FDP große Verdienste für die Geschichte des Landes hat, und ich glaube, dass ihr grundsätzliches Anliegen, auf Eigenverantwortlichkeit, individuelle Freiheit und Marktwirtschaft zu setzen, etwas hochvernünftiges ist, wenn das dann noch in Kombination kommt mit Bürgerrechten und Bildungsthemen, dann ist es eigentlich komplett unverständlich, warum diese Partei im Augenblick bei gerade mal drei Prozent rumkrebst."
Niedermayer: "Ich denke schon, dass man eine liberale Partei, die vor allen Dingen im Sozialstaatskonflikt die marktwirtschaftliche Position, die wirtschaftsliberale Position abdeckt, im Parteiensystem wirklich braucht. Nur: jetzt gibt es eben eine andere Partei, die diese Interessen vertritt, die im ökonomischen Bereich der FDP das Wasser abgräbt, die AfD, obwohl sie gesellschaftspolitisch wo ganz anders steht."
Die Leute haben "die Fresse voll"
Kann diese Konstellation gar das Ende der FDP bedeuten?
Niedermayer: "Die Gefahr ist jetzt sehr, sehr groß. Ich will nicht unbedingt sagen, dass ich mir sicher bin, denn der Partei ist ja schon etliche Male das Totenglöcklein geläutet worden, und sie ist wieder auferstanden. Aber ich glaube, dass sie jetzt in einer existenziellen Krise ist und dass es ihr sehr schwer fallen wird, noch mal in der Bundespolitik eine relevante Rolle zu spielen. Ja, der Untergang der Partei ist jetzt eine reale Option, und der ist umso realer geworden, nachdem sie jetzt in Sachsen die letzte Regierungsbeteiligung verloren hat, also insofern ist die Zukunft der Partei nicht gerade rosig."
Poschardt: "Ich glaube aber: die Volatilität von Verachtung und Verehrung ist groß, und es kann auch sein, wenn sich die wirtschaftliche Lage eintrübt, dann könnte sich auch die Bereitschaft der Wähler ändern, die im Augenblick sagen: 'ist doch alles gut so wie es ist', die schönen sozialen Wohltaten: Rente, Mindestlohn usw., wenn man merkt, dass es vielleicht doch nicht so eine gute nachhaltige Idee ist, dann könnte man auch wieder zulassen: 'vielleicht sollte ich denen jetzt mal zuhören'. Im Augenblick ganz klar: eigentlich haben die Leute nach wie vor die Fresse voll."