Faszination für Talmud und Tora

Von Gerald Beyrodt · 27.08.2010
Lange waren alle Rabbiner in Deutschland Importe: ausgebildet in Jerusalem, London oder New York. Inzwischen überschlagen sich die deutsche Kollegs mit Nachrichten von selbst ausgebildeten Rabbinern.
Alltagsfragen zum jüdischen Gesetz sollen die Absolventen des orthodoxen Rabbinerseminars Berlin sattelfest beantworten können: Etwa, ob die Hühnersuppe noch koscher ist, wenn ein Tropfen Milch hineingefallen ist. Denn schließlich gebietet das jüdische Gesetz, Milch und Fleisch zu trennen.

Die angehenden Rabbiner lesen neben Talmudtraktaten den "Schulchan Aruch", den gedeckten Tisch - ein wichtiges jüdisches Regelwerk mit Vorschriften für den Alltag, und weitere Werke zum jüdischen Gesetz. Rabbiner David Rose vom Kuratorium des Seminars:

"Wir wollen in erster Linie jüdische Gemeinden in diesem Land mit Führungspersönlichkeiten ausstatten und Juden in Deutschland Orientierung geben. Dafür brauchen wir Rabbiner, die sich in den Gesetzen des jüdischen Alltagslebens auskennen, mit dem jüdischen Gesetz überhaupt und mit jüdischer Philosophie."

Das Rabbinerseminar gehört zu einer traditionellen Talmudschule der orthodoxen Lauder-Stiftung. Die jungen Männer studieren hier wie vor Hunderten von Jahren geräuschvoll. Jeweils zwei Männer lesen sich gegenseitig aus Tora und Talmud vor, diskutieren und streiten darüber.

Nächste Woche wird das Rabbinerseminar in Leipzig zwei Rabbiner ordinieren. Der 29-jährige Shlomo Afanasev wird in Potsdam Gottesdienste leiten und Gemeindemitgliedern ihre Fragen beantworten.

"Die Leute haben ganze Menge Fragen. Viele von uns waren ganze Zeit von unsere Wurzeln entfernt und jetzt, wenn es Möglichkeit gibt, jemand zu fragen, und etwas über die Judentum zu lernen, es gibt sehr große Bedarf."

In der Tat könnten viele Juden in Deutschland nicht erklären, wie man eine Küche koscher macht, wissen nicht genau, wie man im Einzelnen den Schabbat begeht. Manche haben lange in Deutschland säkular gelebt, viele andere stammen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wo sie ihre Religion kaum leben konnten.

Auch Shlomo Afanasev kommt aus der einstigen Sowjetrepublik Usbekistan, aus Taschkent. Er hat selbst erst spät den Weg zur Religion gefunden. Im Alter von 20 Jahren betrat er das erste Mal eine Synagoge – da war er gerade nach Deutschland eingewandert. Fortan hat ihn die Faszination von Talmud und Tora nicht mehr losgelassen. Drei Semester hat der ausgebildete Buchhalter noch an der Fachhochschule Wirtschaft studiert, doch er merkte: Sein wirkliches Interesse lag bei den jüdischen Themen.

"Ich habe sehr viele tolle Menschen kennengelernt, Menschen, die sind sehr belesen, sehr klug sind, das alles hat mir sehr inspiriert und ich wollte viel lernen. Danach nach vier, fünf Jahren, wollte ich alles ein bisschen tiefer lernen. Wenn es gut ist, dann will man mehr lernen und Rabbinerseminar gibt Möglichkeit, alles in organisiertem Rahmen, so wie es vor Jahrhunderten gemacht worden ist, das weiterzulernen. Ehrlich gesagt, vor sieben Jahren, hatte ich keinen Plan, Rabbiner zu werden, aber es hat sich entwickelt."

Denn der heute 29-Jährige sah, dass es Menschen gibt, die seine Hilfe als Rabbiner brauchen können, sagt er. Dabei denkt er

"insbesonders an Juden, die jemand brauchen, der in heutige Sprache, alles, was mit Judentum zu tun hat, erklären kann, in verschiedene Sprachen, Deutsch, Englisch, insbesonders Russisch."

Wie man die jüdische Religion heute vermitteln soll und was überhaupt Jüdischsein heute bedeutet – auf diese Fragen finden Rabbinerseminare je nach Ausrichtung sehr unterschiedliche Antworten. Liberale und konservative Kollegs gehen mit der Zeit: Im Umgang mit den Texten verwenden sie historisch-kritische Methoden wie an der Universität, sie lassen Frauen als Rabbinerinnen und Kantorinnen zu, heißen Schwule und Lesben im Rabbineramt willkommen. In Deutschland vertritt das Abraham-Geiger-Kolleg diese Prinzipien. Doch zwischen dem liberalen und dem orthodoxen Kolleg gibt es in Deutschland kaum Berührungspunkte. Der orthodoxe Rabbiner David Rose:

"Wir wissen vom Abraham-Geiger-Kolleg. Und sie wissen von uns, aber wir haben nicht viel Kontakt. Sie verfolgen ihre Ziele, wir verfolgen unsere Ziele."

Das orthodoxe Rabbinerseminar Berlin lehnt Neuerungen wie bei den liberalen Juden ab. Zwar haben die meisten der Rabbinerkandidaten studiert, aber meist Fächer ohne speziellen Bezug zur jüdischen Religion. Mit den Universitätsfächern wie Jüdische Studien oder Judaistik arbeitet das Rabbinerseminar nicht zusammen, würde Tora und Talmud nicht mit Mitteln der Geschichtswissenschaft hinterfragen. Frauen als Rabbinerinnen? Undenkbar.

Shlomo Afanesev: "Bei uns ist nicht gestattet. Man fragt mich sehr oft, ich versteh nicht wieso. Mann macht, was Mann am besten macht, und Frau macht, was Frau am besten macht. Wer braucht schon ein Frau, der Rabbiner ist. Es gibt kein Bedarf zwischen uns."

Auch die Hand würde Shlomo Afanasev einer Frau nicht geben:

"Nein, ich würde das nicht machen, wir beten alle getrennt. Wir sind alle orthodox."'"

Manchmal sind Frauen irritiert, wenn Shlomo Afanasev den Händedruck verweigert. Dann müsse man die Regel eben erklären, sagt er. Orthodoxe Männer dürfen nur die Hand der eigenen Frau anfassen. Eine Regel, mit der sie jeder nur möglichen Versuchung zuvorkommen sollen.

Man fragt sich: Wie möchte Shlomo Afanasev mit Jüdinnen und Juden ins Gespräch kommen, die weniger orthodox sind als er? Viele Juden leben ein modernes Leben und das Seminar lehrt wie ehedem. Wie will Shlomo Afanesev den Spagat schaffen, zwischen beidem zu vermitteln?

""Das stimmt, ist ziemlich schwer. Aber muss erklären den Leuten, die draußen sind. Natürlich haben sie ihre Erwartungen. Man muss erklären, das darf ich machen, das darf ich nicht machen. Und ich muss erklären, wieso fahre ich kein Auto am Schabbes, wieso nutze ich kein Handy, obwohl für die meisten Leuten ist das alles ein bisschen ungewöhnlich. Wenn man alles gut erklären kann, ist nicht so schwer."

Am nächsten Montag wird Shlomo Afanasev Rabbiner. Ganz gewiss wird er ein Lehrer sein, der jüdische Rituale, der Tora und Talmud liebt, der von der Tradition begeistert ist. Ein Brückenbauer zu säkularen, zweifelnden oder progressiven Juden wohl eher nicht.