Faruk Sen: Massaker an Armeniern war kein Völkermord

Moderation: Matthias Hanselmann · 09.03.2006
Nach Ansicht des Leiters des Essener Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, hat es sich bei der Ermordung von mehr als einer Million Armeniern im Osmanischen Reich nicht um einen Völkermord gehandelt. Genozid bedeute, dass Menschen wegen ihrer Rasse umgebracht würden, sagte Sen im Deutschlandradio Kultur.
Matthias Hanselmann: Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Guten Tag, Herr Sen.

Faruk Sen: Einen wunderschönen guten Tag.

Hanselmann: Können Sie uns vielleicht ein bisschen genauer sagen, wer da zum Marsch auf Berlin aufruft?

Sen: Das ist eine unglaubliche Geschichte. Die türkischen Migranten-Organisationen, die ungefähr 2,7 Millionen türkisch-stämmige Migranten hier vertreten, nehmen daran kaum teil. Die haben alle protestiert und sich davon distanziert. Nur der Atatürk'sche Gedankengut-Verein, die sind eigentlich nicht so eine starke Organisation, machen das mit. Aber die Initiatoren stammen aus der Türkei von einer absoluten Minderheitspartei. In der Türkei gibt es eine türkische Arbeiterpartei, die seit 25 Jahren in der türkischen Geschichte dort mitmachen. Die haben bei den letzten Wahlen 0,002 Prozent der Stimmen bekommen. Und die türkische Arbeiterpartei mit ihrem Vorsitzenden Dogu Perincek hat das dort initiiert. Aber diese Partei hat bundesweit auch 2000 Anhänger, die sind auch ziemlich militante Anhänger. Das heißt, wenn Dogu Perincek als Parteivorsitzender in die Bundesrepublik Deutschland kommt und in einem Fall eine Rede hält, dann können sie auf dem Parkplatz Autos aus dem ganzen Bundesgebiet sehen. Das heißt, seine Anhänger kommen von Kiel bis nach München. Die haben auch einige türkische Persönlichkeiten, sehr konservative Leute aus der Türkei, dazu verpflichtet; aus drei Städten kommen sie mit Flugzeugen hierher, wollen sie die Kraft der Türkei zeigen. Aber wenn diese Leute die wahre Kraft der Türkei repräsentieren, dann würde ich sagen: die arme Türkei.

Hanselmann: Sie sprechen von sehr konservativen Leuten. Kann man sie auch als nationalistisch bezeichnen?

Sen: Es müssen nicht alle Nationalisten sein. Es gibt auch vernünftige Leute, die auch eine konservative Politik treiben. Denn nicht jeder Konservative ist ein Nationalist meiner Ansicht nach. Natürlich, türkische Arbeiterpartei propagiert einen Nationalismus, obwohl diese Arbeiterpartei eigentlich einen maoistischen Hintergrund hat. Das ist eine unglaubliche Geschichte. Aber sehr viele Nationalisten nehmen auch daran teil, aber auch konservative Leute, die mit der Armenierfrage gewisse Schwierigkeiten haben, die nicht aufgeklärt sind, nehmen teil. Aber wichtig ist es, in der Bundesrepublik Deutschland von der türkischen Gemeinde bis zum Anführer religiöser Angelegenheiten, von türkischen Sozialdemokraten bis zu türkischen nationalistischen Organisationen, haben sie sich von diesem Einmarsch, von diesem Marsch distanziert. Und das zeigt, dass die Türken in der Bundesrepublik Deutschland diese Veranstaltung nicht mittragen.

Hanselmann: Also Sie glauben nicht, dass es ein Massenaufmarsch wird?

Sen: Nein, es wird in keinem Falle ein Massenaufmarsch. Wenn türkische Arbeiterpartei so ihre 2000 Anhänger mobilisieren, vielleicht 1000, 1500 Türken werden …daran teilnehmen. Aber wenn diese Teilnehmerzahl über 4000 sind, werde ich sehr erstaunt sein.

Hanselmann: Wir sprechen mit Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Herr Sen, eine der Hauptforderungen der Demonstranten ist, dass mit den so genannten Massakerlügen, Genozidlügen aufgeräumt werden soll und dass in keinem deutschen Schulbuch mehr von einem Völkermord an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben werden soll. Der Deutsche Bundestag hat aber am 16. Juni 2005 genau diesen Begriff für gültig erklärt. Was ist Ihre Meinung dazu?

Sen: Wenn wir diese Resolution vom Bundestag einmal analysieren, steht von Völkermord nichts dabei. Wir müssen das sagen, dass das eine bedauerliche Entwicklung ist, und in der Türkei jeder vernünftige Mensch weiß auch, dass bei diesen Ereignissen in der Türkei zwischen 600.000 bis 1,3 Millionen Armenier umgekommen sind. Das sind die Deportationen, die während des Osmanischen Reiches durchgemacht worden sind. Aber jeder Wissenschaftler von USA bis Österreich geht davon aus, dass die Armenier vorher auch mit der Unterstützung der russischen Armee auch gegenüber den Türken, die in der Gegend leben, auch Massaker ausgeübt haben. Deswegen nehmen die Türken in der Bundesrepublik Deutschland mit Bedauern fest, dass so eine Resolution verabschiedet worden sind. Aber das heißt nicht, dass sie diese Demonstration mit diesem Inhalt unterstützen.

Hanselmann: Nach unseren Informationen sind die Armenier, die auf russischer Seite gekämpft haben im Ersten Weltkrieg, nicht aus dem Gebiet des Osmanischen Reiches gewesen, sie stammten nicht daher. Die anderen sind aber deportiert worden und sind auch zu Hunderttausenden ums Leben gekommen, nämlich die, die auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches gelebt haben.

Sen: Die haben aber auch im Osmanischen Reich natürlich auch als Kollaborateure mitgearbeitet. Aber es ist eine bedauerliche Sache, wenn ein Reich seine eigenen Leute so stark deportiert und für ihr Umkommen einen Beitrag leistet, denn das ist ein Armutszeugnis für die osmanische Geschichte. Denn die Armenier haben während des Osmanischen Reiches für den Aufbau des Staates einen enormen Beitrag geleistet. Und sie müssen davon ausgehen, während der Osmanischen Sultans waren sehr viele Ministerpräsidenten und sehr viele Architekten und Künstler mit armenischem Hintergrund. Und dieses Massaker ist eine Schande für die türkische Geschichte.

Hanselmann: Warum tut sich die türkische Regierung damit so schwer, das zuzugeben?

Sen: Jetzt müssen wir bei einem Begriff bleiben. Die türkische Regierung, aber auch die türkischen Wissenschaftler mit sehr vielen internationalen Wissenschaftlern distanzieren sich von dem Begriff Völkermord. Im Jahre 1948 ist die UNO gegründet worden. Und die UNO hat einen Beschluss gefasst, sie haben sie gesagt, rückwirkend erkennen wir nur einen Völkermord: Was die Deutschen, das heißt die Nationalsozialisten gegen die Juden gemacht haben. Und der Beschluss der UNO ist ganz eindeutig, dass man rückwirkend noch von keinem Völkermord gesprochen hat. Jetzt, um einen Völkermordbegriff richtig zu etablieren, hat doch die armenische Regierung zweierlei Wege: A, ich würde mich an die UNO wenden, und bei der UNO würde ich eine Schiedskommission einrichten lassen, und diese Schiedskommission muss eine Entscheidung treffen.

Der zweite Weg ist: Es gibt den Europäischen Gerichtshof in Den Haag. Wenn wirklich ein Staat davon ausgeht, dass seine Anhänger oder seine Nationalität umgekommen sind, und dass es ein Völkermord ist, kann man auch juristische Schritte in die Wege leiten. Von der armenischen Regierung und von armenischen Organisationen in USA oder in anderen Staaten ist dieser Schritt nie getan worden. Und es kann nicht sein, dass man irgendwie mit Beschlüssen in einem Parlament - ob es in Frankreich ist oder irgendwo -, dass man die Türkei mit Völkermord beschuldigt. Denn kein Staat würde diesen Begriff nach den Beschlüssen von einigen Parlamenten oder nach den Erklärungen einiger Historiker akzeptieren. Denn der türkische Staat, meiner Ansicht nach, ist zwei Schritte weiter gegangen. Sie haben gesagt, es soll eine gemischte Kommission geben, eine Historikerkommission - fünf türkische Wissenschaftler, Historiker, fünf armenische und fünf Unabhängige - sollen all die Archive einmal überprüfen und ein Urteil bilden. Das ist von der armenischen Seite abgelehnt worden. Warum lassen die Armenier ihre Archive in Syrien oder in Eriwan nicht öffnen? Die Türkei hat alle Archive öffnet. In der Türkei leugnet keiner, dass so viele Menschen umgekommen sind. Und jeder vernünftige türkischstämmige Mensch wie ich sagte, das ist ein Massaker, das sind die Leute, die in Deportation umgebracht sind.

Hanselmann: Herr Sen, mir war natürlich klar, dass Sie viele Argumente jetzt anführen werden, warum der Begriff Völkermord in diesem Fall Ihrer Meinung nach falsch ist. Sagen Sie mir ganz persönlich von Ihnen aus, ist dieser Begriff für Sie persönlich falsch? Sie haben gesprochen von Massakern, sie haben von Massenermordungen gesprochen. Warum kann man da nicht von Völkermord sprechen?

Sen: Einen Moment, dann sollen wir den Völkermordbegriff einmal definieren.

Hanselmann: Ich möchte dazu sagen, der Begriff Genozid ist 1943 eingeführt worden vom polnischen Rechtsanwalt Rafael Lemkin, und zwar um die Verbrechen der Nazis an den europäischen Juden zu bezeichnen. Jetzt kommt es aber: Lemkin bezog sich schon damals auf den Völkermord an den Armeniern, explizit hat er das sogar gesagt.

Sen: Aber was er sagt, bindet nicht einen Staat. Gestatten Sie mir, dass ich zwei Sätze sage: Unter Völkermord verstehe ich, wenn in einem Staat, wie in Deutschland der Fall ist, eine Menschengruppe wegen ihrer Rasse umgebracht werden soll. Innerhalb des Osmanischen Reiches lebten sehr viele Armenier, auch in Istanbul, Izmir, aber auch in der Westtürkei. Kein Armenier ist in der Westtürkei umgebracht worden, nur diejenigen an der russischen Grenze und Osttürkei. Das heißt, man hat nicht, wollte nicht eine Rasse vernichten, sonst hätte man in Istanbul die Armenier ermordet. Wir haben in Istanbul Gott sei Dank 60.000 Armenier. Man hat nur an der russischen Grenze diese Deportationen gemacht. Das heißt der Begriff, den wir für Deutschland verwenden, stimmt für das Osmanische Reich nicht. Deswegen würde ich sagen, Völkermord nach dieser Definition stimmt nicht.

Hanselmann: Vielen Dank. Soweit die Standpunkte von Professor Faruk Sen, Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien in Essen. … Dankeschön, Herr Sen.

Sen: Ich bedanke mich auch. Tschüss.
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