Familienroman im Verlagswesen

Rezensiert von Rainer Moritz · 09.11.2005
In seinem neuen Roman "Die geheimen Stunden der Nacht" erzählt Hanns-Josef Ortheil die Geschichte eines großen Kölner Verlagshauses. Reinhard von Heuken leitet es, 80 Jahre alt, ein Mann von Stil und Bildung, aber auch ein hemdsärmeliger Patriarch, der niemanden neben sich bestehen lässt, auch keines seiner insgesamt drei Kinder. Ein Einblick in die alte westdeutsche Verlagswelt.
Hanns-Josef Ortheil kennt die Buchbranche bestens, als Autor, Rezensent oder Dozent für kreatives Schreiben, und so ist er prädestiniert dafür, einen Roman, seine breit angelegte Generationen- und Familiengeschichte "Die geheimen Stunden der Nacht", in der Verlagsszene anzusiedeln. Einen planen Schlüsselroman hat Ortheil zum Glück allerdings nicht geschrieben: Natürlich lädt sein Figurenarsenal zu Spekulationen ein; natürlich lassen sich Parallelen ziehen zu dem, was in den vergangenen Jahren Verlage wie DuMont, Holtzbrinck oder Suhrkamp bewegte, und natürlich erkennt man, dass vieles in der Figur des alternden, frauenaffinen Großschriftstellers Wilhelm Hanggartner auf Ortheils Kollegen Martin Walser gemünzt ist.

So amüsant und informativ solche Interna sein mögen: "Die geheimen Stunden der Nacht" ist vor allem ein psychologisch dichter, traditionell erzählter, unterhaltsamer Roman, der einen Vater-Sohn-Konflikt ins Zentrum rückt und Lebensentwürfe der jüngeren deutschen Vergangenheit miteinander vergleicht.

Georg von Heuken, Anfang Fünfzig, leitet den Kölner Verlag Caspar & Cuypers, Teil der mächtigen Heuken-Gruppe. An deren Spitze thront Altverleger Reinhard von Heuken, der eine Nachfolgeregelung hinausschiebt – und eines Tages im Kölner Dom-Hotel zusammenbricht und dem Tod nur knapp entrinnt. Als Sohn Georg mit dieser Nachricht konfrontiert wird, wähnt er seine Chance gekommen und ist sicher, dass er – und nicht seine Geschwister – bald die Geschicke des Imperiums leiten wird.

Hanns-Josef Ortheil ist ein erfahrener Romancier, der weiß, wie man Handlungsstränge zusammenführt. Während Vater Richard auf der Intensivstation liegt, versucht Sohn Georg das Heft in die Hand zu nehmen. Doch wie es sich für einen gut gestrickten Familienroman gehört, bleiben Konflikte nicht aus: Sowohl sein alerter Bruder als auch seine soignierte Schwester melden Ansprüche an, und der Letzteren obliegt es schließlich, das Zünglein an der Waage zu spielen.

Und schließlich geht es Georg auch darum, dem Geheimnis seines Vaters auf die Spur zu kommen. Was trieb ihn dazu, eine Hotelsuite anzumieten? Was führte ihn nächstens in "Sir Peter Ustinovs Bar"?

Manches in Ortheils Saga nähert sich der Kolportage, insbesondere wenn es um die schönen weiblichen Wesen geht, die zu mächtigen Verlegergestalten emporblicken. Dass Vater und Sohn sich um dieselbe Frau bemühen, soll – nicht nur in der Buchbranche – vorkommen, doch diesen Hahnenkampf zur Schlusspointe zu machen, ist nicht der stärkste Part des Romans. Reizvoller ist es, wenn Ortheil die Charaktere seiner Protagonisten aus ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen erklärt. Während Reinhard seine Energie daraus schöpft, den Krieg überstanden zu haben, leidet sein Sohn darunter, dass er sich nie beweisen durfte:

"Eine so starke Rolle wie Vater kann er nicht spielen, er ist ein ganz anderer Typ, vor allem aber ist er ein Mann, dem man noch keine Gelegenheit gegeben hat, zu seiner Höchstform aufzulaufen."

Was mit dem Heuken-Konzern geschehen wird, bleibt am Ende offen. Hanns-Josef Ortheil zeichnet ein Bild seiner Branche, das auf sympathisch altväterliche Weise an die gute alte Zeit erinnert, als es nicht zuerst um "Zielkundenwerbung" ging und als in den Büros nach Gutsherrenart getrunken und regiert wurde. So gesehen, ist "Die geheimen Stunden der Nacht" auch ein Abgesang, ja vielleicht ein Schwanengesang.


Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht
Luchterhand Verlag 2005
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