Familienklassen

Wenn Oma dabei ist, benimmt sich der Junge

Stuhlkreis in der Familienklasse in Wetzler. stehend: Förderschullehrerin Kerstin Gerlach-Haus
Aggressivität auf dem Schulhof oder Lernschwächen - darüber wird im Stuhlkreis der Familienklasse gesprochen. © Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Von Ludger Fittkau · 06.12.2018
Eine Möglichkeit, sozial auffälligen Schülern zu helfen, sind sogenannte "Familienklassen". Dort werden einmal pro Woche die Kinder gemeinsam mit einem (Groß-)Elternteil unterrichtet - betreut von einem Familientherapeuten. Das tut nicht nur den Kindern gut.
"Als ich Ihre Tochter kennengelernt habe, war die Angst so groß. Und heute ist die viel, viel kleiner gewesen", sagt Familientherapeut Jörg Haul und reicht einer Mutter in einem Stuhlkreis einen kleinen Spielzeugpokal. Es geht um das Lob für ihre Tochter, die häufig Angstzustände hat.
Heute hat das Mädchen, der Name tut nichts zur Sache, in der Familienklasse gut mitgemacht, findet Jörg Haul: "Ich finde, Ihre Tochter ist heute total mutig."
Neun Mütter sprechen gemeinsam mit ihren Kindern in einem Stuhlkreis über ihre Kinder und Enkelkinder, die etwa auf dem Schulhof zu aggressiv sind:
"Am Anfang war es ganz schlimm", sagt Ulrike, die Oma des Viertklässlers Jerry. "Da haben wir das große Problem gehabt mit Aggressivität und mit dem Lernpensum und mit den Hausaufgaben. Aber jetzt kommt so allmählich alles."
Seit einem Jahr begleitet Ulrike ihren Enkel jeden Mittwoch für fünf Stunden in die sogenannte Familienklasse in Wetzlar.

Acht Familienklassen gibt es inzwischen

Davon gibt es in der Region zurzeit acht. Die Familienklasse ist ein Angebot für Eltern oder Großeltern mit Schülerinnen und Schülern, die soziale oder emotionale Auffälligkeiten zeigen – wie Jerry auf dem Schulhof. Dem gefällt es, dass seine Oma nun immer mittwochs im Unterricht dabei ist: "Ja, tut gut. Da benehme ich mich auch immer, in der Pause und so."
Jerry und die anderen Kinder der Familienklasse beim "Bewegungsspiel".
Jerry und die anderen Kinder der Familienklasse beim "Bewegungsspiel".© Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Gemeinsam mit der Sonderpädagogin Kerstin Gerlach-Haus hat Familientherapeut Jörg Haul im Unterrichtsraum drei Aktionsflächen eingerichtet. Ein Bereich ist für ein Bewegungsspiel reserviert, das auch der Vertrauensbildung in der Gruppe dient. Neben dem Stuhlkreis als zweiter Station befindet sich ein kleiner klassischer Schulbereich mit Tischen und Stühlen. Dort gibt es immer wieder Phasen, in denen Mütter oder Großmütter - in jedem fünften Fall auch Väter - sehr konzentriert mit den Kindern in Zweier-Situationen Matheaufgaben lösen oder kleine Schreibaufgaben abarbeiten. Für Christian Scharfe ist dies die wichtigste Situation in der Familienklasse:
"Weil das Team hier in der Familienklasse ganz viel beobachten kann und bestimmte Dinge dann im Einzelgespräch oder in der großen Runde dann wieder aufgreift."

Familienklasse statt Heimunterbringung

Christian Scharfe hat mit seinem Team vom Albert-Schweitzer-Kinderdorf Hessen die für die Eltern kostenlosen "Familienklassen" im Raum Wetzlar etabliert. An der Dalheim-Schule wird das Projekt aktuell zu zwei Dritteln von der Stadt Wetzlar und zu einem Drittel vom hessischen Kultusministerium finanziert. Es dient insbesondere auch dazu, einem Herausnehmen verhaltensauffälliger Kinder aus Familien und möglicher Heimunterbringung vorzubeugen. Christian Scharfe sagt:
"Jetzt ist es so, dass in der Familienklasse natürlich nicht jedes Kind von der Herausnahme bedroht ist. Aber wir glauben, dadurch dass es an der Grundschule angelegt ist, die Hilfe, und als Präventionsprojekt angesiedelt ist, dass durch eine frühzeitige Intervention vielleicht schwierige Entwicklungen schon frühzeitig angewendet werden können und die Kinder wieder eine positive Schul- und Verhaltenslaufbahn haben werden."
So wie bei Jerry. Während die anderen Familien-Duos noch an ihren individuellen Aufgaben sitzen, hat Jerry den Therapeuten Jörg Haul gefragt, wie sein Lernfortschritt eigentlich aktuell aussieht. Auf dem Laptop, der auf dem Lehrertisch steht, deutet Haul auf drei statistische Linien, die alle deutlich nach oben zeigen. Die positiven Linien stehen bei Jerry für seine Verbesserungen bei der Mitarbeit im Unterricht, beim Benehmen in der Pause und der Sorgfalt mit dem Arbeitsmaterial:
"Und die Statistik gehe ich jedes Mal mit den Familien durch. Und jetzt gucken wir uns mal so ein bisschen Jerry an. Das bedeutet, ich habe Jerry bekommen mit einer Einschätzung der Lehrer von 20 Prozent bei den drei Zielen. Und jetzt gucken wir uns diese Woche an, das ist der Durchschnitt der verschiedenen Ziele, die wir haben. Wir liegen jetzt bei 78 Prozent ungefähr, und die Tendenz ist aufsteigend."

Eine Anregung, sich weitere Hilfe zu suchen

Nicht immer können die Familienklassen mit schulexternen Therapeuten wie Jörg Haul alleine helfen. Doch in vielen Fällen sorgen sie dafür, dass die Angehörigen der sozial auffälligen Schüler stärker als zuvor zu anderen Unterstützungsangeboten greifen, etwa zur sozialpädagogischen Familienhilfe oder psychiatrischer Beratung.
Dass zum Teil bis zu vier Pädagogen gleichzeitig im Projekt an der Grundschule aktiv sein können, liegt auch am sogenannten "Regionalen Beratungs- und Förderzentrum". Das ist eine Förderschule ohne eigenes Schulgebäude, das Lehrer zur Unterstützung in die Regelschulen schickt. Leiter dieser Einrichtung in Mittelhessen ist Baldur Drolsbach:
"Und in diesen Zusammenhang gehört eben auch die präventive Arbeit in den Familienklassen. Und zur Rolle des externen Therapeuten wäre vielleicht noch zu sagen, dass gerade die Tatsache, dass er von außen kommt und von einem externen professionellem Anbieter kommt, dass das natürlich insgesamt für die Schule auch sehr bereichernd ist. Da gibt es eben auch das Tür- und Angelgespräch mit den Lehrkräften der allgemeinen Schule. Und die Wirkungen in das Kollegium hinein weit über die Familienklasse hinaus."

Eltern knüpfen Kontakt untereinander

Während der Pausengong ertönt und die Kinder zum Toben auf den Schulhof verschwinden, bleiben einige ihrer Mütter und Großmütter weiter an den Schultischen sitzen und unterhalten sich. Die "Familienklasse" hat die Kontakte vieler Eltern auch im Stadtteil deutlich verbessert. Darüber freut sich auch Jerrys Oma Ulrike, die nebenbei für die nächste Woche eine Weihnachtsfeier in der Klasse organsiert. Sie legt eine Liste an, wer was mitzubringen hat:
"Hier, die Herrschaften, Namensangabe. Dass Sie nicht doppelt einkaufen, das macht es ja nicht besser. Und die Brötchen werden wir, wenn die Anzahl da ist, hier entsprechend einkaufen, hier unten beim Bäcker."
Eine Mutter mit russischen Wurzeln wird sich um die Wurst kümmern. Sie schildert am Ende des Vormittags, wie sehr es ihr auch zuhause mit ihrem oft aufbrausenden Jungen hilft, dass es jeden Mittwoch die Familienklasse gibt:
"Der weiß ganz genau, dass mittwochs der Tag ist, wo Mutter in die Schule kommt und das alles hochkommt. Er hat Respekt vor dem Mittwoch, dass ich dann wieder in der Schule bin und werde ich alles erfahren, was er die ganze Woche hier gemacht hat. Das hilft schon."
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