Familie als Hort der Gewalt

17.04.2013
Der Roman "Dreck" des US-amerikanischen Autor David Vann zeigt die tiefen Abgründe des Menschlichen, verpackt in eine Familiengeschichte. In der Familienhölle der Literatur ist es dank Vann wieder richtig schaurig geworden, meint unser Kritiker Daniel Haas.
Zum Elend der Verwandtschaft hat uns Tolstoi das Entscheidende gesagt, ein einziger Satz reichte ihm dafür: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Die nachfolgende Weltliteratur hat sich dieses Verdikt aus "Anna Karenina" in den verschiedensten Konstellationen ausgemalt, und die amerikanische Erzählliteratur der Moderne steht streckenweise ganz im Zeichen solch unglücklicher Individualität.

Dass immer wieder Autoren auftreten, die dem Fluch eine neue, faszinierende Bosheit abgewinnen, ist das Glück der literarischen Innovation. David Vann ist so ein Schriftsteller. Bereits in seinem Debüt "Im Schatten des Vaters" hat er die Familie als Hort der Gewalt dargestellt. Aber mit "Dreck" wird die Genealogie endgültig zum Schuldverhältnis: ein Sohn, eine Mutter – aus dieser Dyade formt Vann das Drama einer erschreckenden Pathologie.

Es beginnt eigentlich ganz harmlos: Galen, 22 Jahre alt, fährt mit seiner Mutter, der Tante und der 17-jährigen Cousine ins Wochenendhaus. Das Milieu: Reiche Grundbesitzer; die Familie betreibt in Kalifornien eine Walnussplantage. Es wird gestichelt und getriezt, wie es so üblich ist in Familienklüngeln mit viel Geld und wenig Empathie. Aber der Ton ist von Anfang an verschärft: Die Tante hat pekuniäre und auch sonst einige Rechnungen mit der Schwester offen; die Cousine ist eine verstörte Göre, die Lust mit Sadismus verwechselt.

Gemeinheiten, Versöhnungen und alles wieder von vorn, so geht das die erste Hälfte des Buches lang. Man wähnt sich in einem John-Irving Text, dem das Schrullig-Liebenswürdige abhanden gekommen ist. Und dann: Abreise von Tante und Cousine. Galen und Suzie-Q, so der Name der Mutter, allein zu Haus.

Was nun in Gang kommt, ist ein dreckiges Kammerspiel, wobei der Schmutz wörtlich und metaphorisch zu nehmen ist. Die Mutter eingesperrt in einen Schuppen, der Sohn ein Gefängniswärter, der seinem Opfer Geständnisse abzupressen versucht. Was hier genau zur Verhandlung steht, darf nicht verraten werden, nur soviel: Für Familienaufstellungen und ähnlich freundliche Verfahren aus dem Klärungsfundus der Therapie ist es im Fall von Galen eindeutig zu spät.

"Galen mochte keine Umarmungen", heißt es im Roman.

"Seine Familie bestand nur aus Frauen, und dauernd umarmten sie ihn, viele Male am Tag. Er hätte es vorgezogen, in seinem ganzen Leben nie wieder umarmt zu werden."

Der zweite Teil von "Dreck" ist dem Projekt der Abstoßung gewidmet, nur dass der Held den Klammergriff der Familie nicht nur lockern, sondern diese gleich ganz vernichten will.

Für den "Guardian" beschrieb Vann seinen Schreibtisch, sprach über Projekte und erwähnte eine geplante Essayreihe. Er wolle anhand von Dante, Blake und Vergil untersuchen, wie große Dichter die Hölle konzipierten. Der Autor kann sich nun selbst in diese Reihe aufnehmen. In der Familienhölle der Literatur ist es dank Vann wieder richtig schaurig geworden. Der Leser schmort zugleich ängstlich und dankbar mit.

Besprochen von Daniel Haas

David Vann: Dreck Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
298 Seiten, 19,95 Euro.
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