Falsche "Festungsstrategie" gegenüber Afrika

Moderation: Nana Brink · 22.10.2013
Der Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Dirk Messner, ruft dazu auf, mehr Flüchtlinge in Europa aufzunehmen und zeitweise Arbeitsmigration zu ermöglichen. Er kritisierte es als zynisch zu glauben, die EU könne sich vor humanitären Krisen wegducken.
Nana Brink: Das Flüchtlingscamp vor dem Brandenburger Tor ist vorerst aufgelöst, der Hungerstreik vieler Flüchtlinge beendet. Aber die Frage wird immer drängender: Wie geht nicht nur Deutschland, sondern Europa insgesamt mit den Flüchtlingen um, die aus den Krisenregionen dieser Welt zu uns kommen? Die Toten vor Lampedusa haben die Diskussion aufgeheizt, und reflexartig sehen wir zwei Reaktionen: den Ruf nach einer anderen Flüchtlingspolitik und den Ruf nach mehr Entwicklungshilfe.

Letzteres ist Thema für das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik, das ist eine Denkfabrik, und Professor Dirk Messner leitet das Institut in Bonn. Schönen guten Morgen, Herr Messner.

Dirk Messner: Schönen guten Morgen.

Brink: Was ist denn die Aufgabe einer europäischen Entwicklungspolitik?

Messner: Ja, ich glaube, zunächst mal ist es sehr wichtig, dass wir einen Grundsatz klären. Ich habe in den letzten Tagen sehr viel gehört, dass wir natürlich als Europa nicht alle humanitären Probleme dieser Welt lösen können – und das ist natürlich richtig. Das können wir nicht. Aber zugleich ist es natürlich zynisch und unredlich, wenn wir uns vor den humanitären Krisenherden dieser Welt – und in Afrika haben wir eine ganze Reihe davon –, uns sozusagen wegducken. Und da kommt ja das Bild der Festung Europa ins Spiel.

Wir haben in Afrika im Augenblick 15 Millionen Flüchtlinge, die aus unterschiedlichsten Gründen ihre Länder verlassen. 95 Prozent von diesen Flüchtlingen halten sich innerhalb von Afrika auf, nur ein ganz geringer Teil kommt überhaupt noch nach Europa. Das irritiert uns sehr, wir würden gerne das Problem insgesamt ignorieren, aber wir können es nicht ignorieren, weil Menschen fliehen, wenn sie in existenzielle Not geraten, und wir müssen uns diesem Problem stellen.

Brink: Also habe ich Sie dann richtig verstanden: Wir müssen uns diesem Problem stellen – inwiefern, also dass wir die Ursachen von Flucht verhindern?

Messner: Ja, wir müssen unterschiedliche Ansätze fahren. Einmal können wir versuchen, die Ursachen von Flucht zu verhindern. Menschen fliehen ja nicht in sehr schwierigen Situationen über die Meere, um mit hohen Risiken dort ihr Leben zu verlieren, wenn es keine Gründe für diese Flucht gibt. Kriegsgründe sind beispielsweise häufig ein wichtiger Hintergrund, große Armut kann ein Hintergrund sein, politische Verfolgung kann ein Hintergrund sein. Wir können mit der Entwicklungspolitik versuchen, Beiträge dazu zu leisten, in den Ländern, um die es dort geht, die Bedingungen zu verändern, die Lebensgrundlagen der Menschen zu verbessern, um damit die Anreize zur Flucht auch zu reduzieren. Das ist die eine Seite, mit der wir uns beschäftigen müssen.

Dirk Messner
Dirk Messner© dpa / picture alliance / Britta Pedersen
"Viele Länder entwickeln sich wirtschaftlich gut"
Brink: Und wie können wir das tun? Was sind Ihre Vorschläge?

Messner: Na ja, in Bezug auf arme Länder und Flucht, die mit sozialen Problemen zu tun hat, wissen wir ja, wie Armutsbekämpfung unterstützt werden kann durch Entwicklungspolitik: Investitionen im Bildungsbereich, Investitionen im Gesundheitsbereich, Verbesserung der Infrastruktur – all solche Maßnahmen können dazu beitragen, dass Länder eine interessantere wirtschaftliche Entwicklung nehmen, und wenn das der Fall ist, dann sinkt auch die Zahl der Flüchtlinge. Wir haben übrigens in Afrika sehr viele Länder, die sich wirtschaftlich gut entwickeln, 20, 30 afrikanische Länder wachsen seit zehn Jahren über fünf Prozent. Das sind Länder, aus denen kaum Flüchtlinge kommen. Also die wirtschaftliche Lage in Ländern zu verbessern, hilft, das Flüchtlingsproblem zu reduzieren.

Brink: Sie haben das jetzt aufgedröselt, ganz unterschiedliche Maßnahmen gibt es ja dafür. Handelt denn die EU nach diesen Kriterien, die Sie gerade genannt haben, also als europäische Gemeinschaft?

Messner: Na, zunächst mal versuchen wir, das Flüchtlingsproblem durch unsere Festungsstrategie zu lösen und die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten – und auch das ist eine falsche Strategie, weil neben den Ansätzen, in den Ländern selbst dafür zu sorgen, dass die Bedingungen besser werden, sodass die Menschen gar nicht erst flüchten, müssen wir ja sehen: Es gibt Flüchtlinge, und dieses Problem werden wir nicht aus der Welt schaffen können. Auch mit noch so guter Entwicklungszusammenarbeit werden Menschen ihre Länder verlassen, wenn sie in existenzielle Schwierigkeiten geraten. Bisher wandern diese Menschen von einem armen afrikanischen Land ins andere arme afrikanische Land. Wir werden in Zukunft also neben den entwicklungspolitischen Maßnahmen auch uns dazu durchringen müssen, mehr Flüchtlinge in Europa aufzunehmen, wenn es zu humanitären Katastrophen – wie jetzt im Augenblick zum Beispiel in Syrien – kommt.

Brink: Und trotzdem, sagen Sie auch, müssen wir die Situation in den Ländern ändern, um ihnen auch zu helfen, alleine zurechtzukommen, und wenn ich mir jetzt die EU-Politik zum Beispiel gegenüber Afrika anschaue, dann ist die ja sehr widersprüchlich. Frankreich handelt ganz anders als Deutschland. Also ist doch alles, ja, was Sie dann sagen, wirkungslos im EU-Rahmen?

Messner: Ja, wirkungslos würde ich nicht sagen, aber wir haben die Dimension des Problems bisher nicht richtig erkannt. Ich will auf den letzten Punkt noch mal zurück, dass wir Flüchtlingen auch hier eine Chance geben, nach Europa einzureisen – zeitweise Arbeitsmigration wäre zum Beispiel ein solches Instrument. Wenn man an die nordafrikanischen Länder denkt, die im Augenblick unter großen politischen und sozialen Spannungen leiden … Wir haben weltweit etwa 100 Millionen Menschen aus Entwicklungsländern, die in anderen Ländern arbeiten, die überweisen 400 Milliarden Euro pro Jahr zurück an ihre Familien. Das ist im Grunde genommen eine wunderbare Entwicklungspolitik … Diese 400 Milliarden sind vier Mal so hoch wie die entwicklungspolitischen Leistungen, die weltweit getätigt werden.

Also wir können vor Ort durch Entwicklungszusammenarbeit viel verbessern, aber dieser Typus von zeitweiser Arbeitsmigration könnte auch dazu beitragen, dass wir die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen, dadurch, dass wir ihnen eine Chance geben, auf unseren Arbeitsmärkten zeitweise tätig zu sein.

"Wir müssen unsere Bevölkerung überzeugen"
Brink: Das wäre ja ein positives Signal – aber wir können es nicht als solches sehen.

Messner: Ja, das wäre ein positives Signal, von dem wir auch unsere Bevölkerung natürlich überzeugen müssen. Die Festungs-Europa-Strategie, die basiert ja aus der Perspektive der Politiker darauf, dass Arbeitsmigration aus afrikanischen Ländern unbeliebt ist. Aber wir können dieses Problem nicht ignorieren, dann werden wir permanent die Bilder sehen und immer wieder sehen, die wir jetzt gerade von Lampedusa haben uns vor Augen führen lassen müssen. So können wir das Problem eben letztendlich auch nicht lösen.

Brink: Es ist also ein sehr komplexes, was Nachdenken auf unterschiedlichen Ebenen erfordert. Ich will noch mal auf die EU-Ebene zurück und auch auf die Möglichkeit, ja in den Ländern dort selbst etwas auszurichten. Warum zum Beispiel gibt es keine europäisch-afrikanischen Wirtschaftsgespräche?

Messner: Na, die gibt es. Wir haben im nächsten Frühjahr einen afrikanisch-europäischen Gipfel, da geht es um soziale Fragen, da geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit, da geht es um die Flüchtlingsproblematik und Klimapolitik. Aber wir handeln häufig in der Entwicklungspolitik und in den Außenpolitiken noch sehr national. Die europäische Perspektive ist leider noch unterentwickelt.

Brink: Und die Festung Europa – das wird auch wieder die Staats- und Regierungschefs wahrscheinlich der Europäischen Union am kommenden Donnerstag und Freitag beschäftigen. Wäre es nicht sinnvoll, das zum Beispiel um solche Wirtschaftsgespräche zu erweitern? Glauben Sie daran?

Messner: Ja, wir müssen sehen, dass Afrika nicht nur ein Krisenkontinent ist. Wir reden jetzt gerade über die Krisenseite. Wir haben auch Interessen in Afrika, die wir versuchen müssen zu realisieren. Und die andere Seite wäre dann die humanitäre Hilfe: 20, 30 Länder, habe ich eben gesagt, in Afrika wachsen schnell, dass sind Wirtschaftspartner für uns. Afrika ist ein ressourcenstarker Kontinent. Deutschland und Europa, wir sind ressourcenarme Länder, wir brauchen die Ressourcen der Afrikaner, um unsere wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren.

In den Vereinten Nationen, wenn es um Klimaverhandlungen und andere Verhandlungen geht, sind die Stimmen der über 50 afrikanischen Länder wichtig. Also Afrika ist für uns ein wichtiger Partner. Und die andere Seite dieser Partnerschaft, von der wir etwas haben, muss eben auch eine verstärkte humanitäre und entwicklungspolitische Zusammenarbeit sein.

Brink: Professor Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn. Schönen Dank für das Gespräch, Herr Messner.

Messner: Bitte sehr.

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