Fahrverbote, Homo-Ehe, Endlager

Wie viel Politik dürfen Gerichte machen?

29:41 Minuten
Der Erste Senat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Baden-Württemberg), v.l. Susanne Baer , Johannes Masing , Michael Eichberger, Gabriele Britz, Ferdinand Kirchhof (Vorsitz), Reinhard Gaier , Wilhelm Schluckebier und Andreas Paulus, am 19.04.2016
Durch strategische Verbandsklagen wie die der Umwelthilfe hat der Vorwurf der Verrechtlichung der Politik eine neue Dimension bekommen (Symbolbild Bundesverfassungsgericht). © picture alliance / dpa / Uli Deck
Von Günther Wessel · 13.05.2019
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Klagen statt diskutieren: Immer häufiger werden politische Konflikte von Gerichten entschieden. Zum Beispiel hat die Deutsche Umwelthilfe Fahrverbote in mehreren Städten erstritten. Eine gute Sache? Oder ist uns das Verständnis für Demokratie verlorengegangen?
Berlin. Jeden Freitag versammeln sich im Invalidenpark vor dem Wirtschaftsministerium Schüler. Sie demonstrieren. Fridays for Future: Selten ist eine Bewegung so schnell gewachsen und hat so viel Aufmerksamkeit erfahren wie der internationale Schülerstreik zum Thema Klimawandel. Die Hauptforderung der Schüler ist simpel: Wir wollen, dass die Politiker endlich handeln. Es geht um unsere Zukunft, wir sind die Generation, die vom Klimawandel betroffen sein wird. Sehr konkrete Anliegen gibt es nur wenige: einen schnelleren Kohleausstieg als bisher geplant, eine Verkehrswende.
Doch wie bringt man Politiker zum Handeln? Über Proteste? Demonstrationen? Oder durch Gerichtsverfahren?
"In den letzten 10, 15 Jahren hat sich, was Umweltpolitik angeht, so ein bisschen Mehltau übers Land gelegt, es gibt ein Riesenhandlungsdefizit. Also, völlig egal, welche konkrete Lösungen man jetzt ins Auge fasst: Es wird einfach gar nichts mehr entschieden. Und deswegen haben wir uns auch entschieden, wir nutzen da jetzt den Rechtsstaat", sagt Sascha Müller-Kraenner, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe – und schränkt gleichzeitig ein:
"Find ich das jetzt gut? Nein, nicht zwangsläufig. Ich fänd's schon auch besser, wenn die Parlamente und natürlich auch die Bundesregierung und die Landesregierungen selber wieder aktiver wären und nicht nur reagieren würden."

Politiker beurteilen den Trend zur Klage unterschiedlich

"Wenn es um politisch motivierte Klagen mit dem Ziel einer Fortentwicklung des Rechts geht, bin ich sehr, sehr skeptisch", meint Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium und Vorsitzender der Juristenvereinigung der CDU Deutschlands: "Weil das, glaube ich, der Versuch ist, einem politischen Diskurs auszuweichen."
Die Grünen-Politikerin Manuela Rottmann sieht das anders:
"Diese Behauptung, ich habe nicht nur eine politische Forderung, sondern ich habe auch ein Recht, das ist etwas, was ich nie grundsätzlich diskreditieren würde", sagt die Bundestagsabgeordnete, die Mitglied im Rechtsausschuss ist:
"Solange ich nur eine politische Forderung hab, bin ich auch nicht so wichtig. Kann man mich auch runterbeamen. Bin ich ja nur eine Minderheit. Aber der Moment, wo ich sage: Aber das, was ihr entscheidet, betrifft mein Recht, greift in meine Rechte ein, das ist der Anfang von Emanzipation immer gewesen."

Ist Klagen besser als Demonstrieren?

In seinem Büro am Hackeschen Markt, nur wenige hundert Meter Luftlinie von den Demonstranten entfernt, sitzt Sascha Müller-Kraenner. Er ist einer der beiden Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe und leitet das Berliner Büro des Vereins, der seinen Stammsitz in Ravensburg am Bodensee hat. Die Schülerproteste findet er wunderbar. Lang vermisst habe er solche Bewegungen. Und doch stelle sich für sie als Umweltverband die ganz pragmatische Frage: "Wo erzielt man denn am wahrscheinlichsten die notwendigen Fortschritte?"
Feinstaubmessstation an der Schwarzwaldstrasse in Freiburg
Zu viel Feinstaub in den Innenstädten: Mit den meisten Klagen hatte die Deutsche Umwelthilfe Erfolg.© picture alliance / dpa / Winfried Rothermel
Und das Ergebnis dieser Überlegungen sei in seinem Verband in den letzten Jahren oft gewesen: auf dem Klageweg. Denn die politischen Institutionen würden sich gegenseitig blockieren. Und so reichte die Umwelthilfe in den letzten Jahren mehrere Dutzend Klagen vor Verwaltungsgerichten ein.
"Was wir machen, ist eine Mischung aus: auf der einen Seite natürlich vorhandene Defizite in der Umsetzung von Gesetzen über Gerichte zu adressieren. Und das zweite ist aber auch eine ganz nüchterne Analyse, dass oft die Gerichte der einzige Weg sind, auf dem wir mit den Themen, die uns besonders interessieren – Naturschutz, Klimaschutz, saubere Luft in den Städten, sauberes Wasser, Reduzierung der Nitrat- oder Pestizidbelastung durch die Landwirtschaft –, Fortschritte erzielen können."
Die meisten dieser Klagen richteten sich gegen einzelne Bundesländer, da diese für die Luftreinhalteplanung zuständig und dafür verantwortlich sind, dass beispielsweise die EU-Grenzwerte für Stickstoffdioxid nicht überschritten werden. Das tun sie aber und zwar schon lange. Ohne Aussicht auf direkte Besserung. Und so wundert es nicht, dass die Umwelthilfe die meisten Verfahren gewann, und seither müssen Politiker und Verwaltungen über Dieselfahrverbote in zahlreichen deutschen Innenstädten nachdenken.

Missbraucht die Umwelthilfe ihr Klagerecht?

Dass die Umwelthilfe klagen kann, liegt am sogenannten Verbandsklagerecht. Das räumt anerkannten Verbänden das Recht ein, stellvertretend die Einhaltung bestimmter Normen einzufordern. Zwar wachen zunächst und theoretisch auch Ämter wie die Kommunalaufsicht darüber, dass solche Vorschriften eingehalten werden, aber offensichtlich nicht immer erfolgreich. Und juristisch gibt es an den Verbandsklagen der Umwelthilfe nichts zu rütteln, meint die Hamburger Rechtsanwältin Roda Verheyen:
"Ich glaube, dass wir zunächst einmal konstatieren müssen, dass wir in einem funktionierenden Rechtsstaat leben. Dafür müssen wir dankbar sein. Wir haben einen Artikel 20 Grundgesetz, da steht drin: es gibt drei Gewalten."
Wörtlich heißt es: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."
Der peruanische Kleinbauer Saul Luciano Lliuya(r) sitzt mit seiner Anwältin Roda Verheyen am 13.11.2017 im Oberlandesgericht in Hamm (Nordrhein-Westfalen).
Die Anwältin Roda Verheyen hat auch den peruanischen Kleinbauer Saul Luciano Lliuya(r) 2017 bei dessen Klage gegen RWE vertreten. © picture alliance / Guido Kirchner/dpa
Die Gerichte in Deutschland seien nicht nur dazu da, Konflikte zwischen Nachbarn zu lösen, sondern auch eben Konflikte zwischen der zweiten Gewalt, also der Exekutive, und den Bürgern", sagt Verheyen. "Das sind die grundgesetzlich festgelegten Aufgaben der Gerichte. Und zunächst einmal halte ich es für völlig unproblematisch, wenn man sich auf diese Aufgaben beruft. Und auch mit Nachdruck. Das tut die Deutsche Umwelthilfe, wenn sie sagt, es gibt einen gesetzlichen Standard der Luftreinhaltung und der wird durch die Behörden nicht vollzogen."
So weit, so einfach: Roda Verheyen, die in Deutschland im Namen einiger Familien schon Klagen auf besseren Klimaschutz gegen die Bundesrepublik angestrengt hat, fügt noch hinzu, dass sie die aktuelle politische Diskussion, ob die Umwelthilfe ihr Klagerecht missbrauche, für völlig überzogen und schädlich halte. Auch was die Gewaltenteilung angeht: Denn es gebe schließlich ein massives Versäumnis auf exekutiver Seite:
"Seit wann ist es entschuldbar, gegen das Gesetz zu verstoßen? Nur, weil man eine Stadt ist? Eine Stadt Hamburg oder eine Stadt Stuttgart? Wenn Sie bei Ihrer Baugenehmigung gegen Abstandsregelungen der hamburgischen Bauordnung verstoßen wollen, dann erhalten Sie die Genehmigung nicht."

Streitfall Verbandsklagerecht

Das Bundesinnenministerium in Berlin ist ein verwirrender Bau, in dem man Franz Kafkas "Prozess", ohne viele architektonische Details zu ändern, problemlos verfilmen könnte. Dort sitzt in einem Eckbüro im fünften Stock der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krings. Der CDU-Bundestagsabgeordnete ist Jurist und Vorsitzender der Juristenvereinigung der CDU. Er sieht das Verbandsklagerecht genau wie seine Bundestagsfraktion eher kritisch. Für ihn stellt sich die Frage, ob "ein Verband für andere klagt, die vielleicht gar nicht wollen, das geklagt wird".
Das Foto zeigt Günter Krings, CDU, parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren.
"Ein schwieriger Fremdkörper in unserer Rechtsordnung", sagt Günter Krings, CDU, parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, über das Verbandsklagerecht.© picture-alliance / dpa / Henning Schoon
Müsse man nicht erst einmal diejenigen befragen, die durch die Grenzwerte geschützt werden sollen, ob sie solch eine Klage überhaupt wollten? Sein Hauptargument ist allerdings juristisch: Die Einhaltung von Gesetzen, die nicht Individualrechte schützen, sondern die der Allgemeinheit, sei normalerweise im staatlichen Bereich zu verorten.
"Das sollten wir auch nicht als Prinzip aufgeben, es wird ergänzt durch so etwas wie Verbandsklagerechte, aber die sind sozusagen eine Ergänzung, darauf kann nicht unsere Rechtsordnung beruhen."
So sei das Verbandsklagerecht ein schwieriger Fremdkörper in unserer Rechtsordnung, der nur in Teilbereichen zu akzeptieren sei.
Aber abgesehen von der Frage der rechtlichen Legitimation der Verbandsklagen, die auch Krings natürlich nicht bestreitet, stellen sich andere Fragen. Wie sinnvoll und wie demokratisch ist es, Politik über Gerichte anzutreiben? Und vor allem: Warum passiert es?

Gesine Schwan: Das Verständnis für Politik ist verlorengegangen

Gesine Schwan ist eine durch und durch politische Denkerin. Als Wissenschaftlerin ist sie spezialisiert auf politische Theorie und Kultur, lehrte unter anderem am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und war jahrelang Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Als Parteipolitikerin trat sie zweimal für die SPD als Kandidatin zur Bundespräsidentenwahl an und ist heute Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei.
"Ich glaube, dass in den letzten 30 Jahren das Verständnis für Politik nicht nur in Deutschland insofern verloren gegangen ist, als hier die herrschende Kultur sehr stark auf Markt und Ökonomisierung setzte. Und man auch viele traditionell als politisch betrachtete Fragen und Probleme als eher über den Markt lösbar angesehen hat", sagt sie. "Während das Typische von Politik ja ist, das es sich dabei um Fragen handelt, die strittig sind oder deren Antworten strittig sind, die aber im Gemeinwesen alle betreffen. So definiere ich das mal: also konflikthafte Fragen, verbindliche Antworten und Aushandeln dieser Antworten."
Gesine Schwan auf der Frankfurter Buchmesse 2017
Für die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan ist die Diskreditierung des Politischen eine Folge der zunehmenden Marktgläubigkeit.© imago
Diese Marktgläubigkeit und damit verbunden das fehlende Nachdenken über Alternativen habe dazu geführt, dass Politik langsam diskreditiert worden sei. Sie sei oft nicht als notwendige Debatte über gesellschaftliche Richtungsentscheidungen angesehen worden, sondern als Parteiengezänk, Postengeschacher, als kleinliche, ja vielleicht sogar korrupte Parteipolitik. Die wirklichen Debatten hätten sich aus dem Parlament heraus verlagert, aus dem öffentlichen Raum heraus in Parteisitzungen und Hinterzimmergespräche.
"Und dann ist die Frage, was geschieht eigentlich, wenn es doch weiterhin umstrittene Themen und Problem gibt? Die auch verbindlich entschieden werden müssen? Wie macht man das dann?", fragt Schwan.

Strategische Klagen: ein Trend aus den USA

"Strategische Klageführung umfasst die Fallauswahl und anschließende Klageführung vor Gericht mit dem Ziel, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Interessierte Parteien, die eine strategische Klage führen, nutzen das Gesetz dahingehend, einen bleibenden Einfluss zu hinterlassen, der über die gewonnene Einzelklage hinausgeht." So heißt es in einem Beitrag Stefan Prystawiks in derZeitschrift für für Arbeits- und Antidiskriminierungsrecht (1/2009)
"In Deutschland ist es eine relativ späte Entwicklung, es ist eigentlich ein Trend, der aus den USA kommt", sagt Sascha Müller-Kraenner. "Da gibt es schon seit Jahren diese Kultur der strategic litigation, also auch der strategischen Klagen. "
In den USA sind sogenannte strategische Klagen gang und gäbe. Was vor allem an den komplizierten Gesetzgebungsverfahren liegt, da dort die Staatsgewalt stärker noch als bei der klassischen europäischen Gewaltenteilung auf verschiedene, voneinander unabhängige und vor allem einander kontrollierende Gewaltenträger verteilt ist. Deshalb muss man sich im politischen Prozess immer wieder neue Mehrheiten suchen – und das kann zu lang anhaltender Lähmung in politischen Fragen führen.
Die Lösung besteht für viele Politiker, aber auch für Nichtregierungsorganisationen darin, zu klagen. Und so spielen Gerichtsverfahren eine wichtige Rolle in der amerikanischen Politik. Gerichte haben die Rassentrennung bestätigt und später auch wieder abgeschafft, die Machtbalance zwischen Staaten, Gemeinden und dem Kongress immer wieder neu geregelt, das Wahlrecht für Minderheiten durchgesetzt und auch die Geburtenkontrolle oder Abtreibungen legalisiert.

"Wenn man so will, ein antidemokratischer Prozess"

"Das ist eigentlich, wenn man so will, ein antidemokratischer Prozess", findet der Staatssekretär im Innenministerium, Günter Krings. Er lehnt strategische Klagen strikt ab, beispielsweise den Versuch aus der Staatszielbestimmung Umweltschutz konkrete Verpflichtungen zum Klimaschutz abzuleiten:
"Weil ich dann umgehen möchte, dass ich vielleicht in einem Parlament, in einem ordentlichen Verfahren die Mehrheit nicht habe, um solche scharfen Grenzwerte oder scharfen Anforderungen zu formulieren und dann versuche ich es anders. Und das finde ich nicht nur aus der Sicht eines Parlamentariers, sondern generell im Lichte einer Demokratie kann man das nicht hinnehmen. Da würden auch Gerichte, wenn die da mitmachen, teilweise machen sie sogar mit, ihre Kompetenzen überschreiten."
Schließlich seien die dafür zuständig, dass die Regeln eingehalten würden. Die Kläger hingegen dürften natürlich klagen:
"Hohen Respekt für die Kläger, die dürfen dann nur nicht Recht bekommen, wenn sie nicht auf ein existierendes Recht pochen können, sondern eigentlich auf ein Recht, was geschaffen werden müsste. Dann müssen sie halt den Prozess verlieren, aber dass sie ihn führen, halte ich für total legitim. Die Kläger müssen also nicht sozusagen die Schere im Kopf haben, die dürfen auch mal was versuchen. Aber die Richter müssen sehr aufpassen, wie weit sie gehen. Und in aller Regel tun sie das auch. Aber es gibt einzelne Fälle, wo man sagen muss: Na, kann man das noch mit den Wortlaut und mit der Bedeutung eines Gesetzes vereinbaren?"
Krings führt ein Beispiel an, bei dem er zumindest – er ist auch Honorarprofessor für Staatsrecht – Zweifel an der letztinstanzlichen Regelung anmeldet:
"Ich glaube, dass nicht alle Entscheidungen des Verfassungsgerichts dogmatisch wirklich gut begründbar waren. Man hat z.B. gesagt, es gibt zwar ein besonderes Schutzrecht der Ehe, aber es gibt einen Allgemeinen Gleichheitssatz. Und der Allgemeine Gleichheitssatz geht über das besondere Schutzrecht hinweg. Hätte man vor 20 Jahren in einer Klausur im Staatsrecht wahrscheinlich als problematisch angesehen. Also, man hat die Dogmatik schon sehr gedehnt, aus einem vielleicht gut nachvollziehbaren politischen Wunsch heraus."

Klagen im Namen des Gemeinwohls

Manuela Rottmann sitzt für die Grünen im Bundestag und ist dort Mitglied im Rechtsausschuss. Die Politikerin spricht nicht von politischen Wünschen, sondern davon, dass und wie sich Rechtsauffassungen generell ändern:
"Eigentlich seit den Auseinandersetzungen um die Atomwirtschaft ist die Frage, muss nicht etwas, was Menschen betrifft, die überhaupt keine Chance haben, am politischen Prozess teilzunehmen, an der Entscheidung, weil sie noch nicht geboren sind oder weil sie in anderen Ländern leben und betroffen sind, muss das nicht in eine Rechtsposition gegossen werden?"
Es gehe darum, globale Verantwortung auch im Recht wahrzunehmen, anzuerkennen, dass die Welt zusammengewachsen sei, dass Handlungen heute in Deutschland Folgen für nachgeborene Generationen und Menschen anderswo auf der Welt hätten.
Manuela Rottmann mit einem Stapel Flyer.
Plädiert für mehr Einklagbarkeit beim Klimaschutz: Grünen-Politikerin Manuela Rottmann.© H. Kiesel
Das Ergebnis dieser Überlegungen sei im Umwelt- und Naturschutz das Verbandsklagerecht für die Naturschutzverbände, die ja kein individuelles Recht einklagen, sondern ein Gemeinwohl. Hierdurch seien Rechtspositionen, die bislang eher unterbewertet waren, aufgewertet worden. Und natürlich hätten sich deshalb auch die Klagen vermehrt. Gesellschaftliche Debatten spiegelten sich im Recht wider, und das Recht nehme auch die veränderten Lebensbedingungen in den Blick.
Konkret meint Rottmann beispielsweise:
"Beim Klimaschutz sind wir eigentlich dafür, die Einklagbarkeit zu erleichtern. Status quo: keine Chance."
Obwohl gleichzeitig natürlich die Bedingungen dafür besser würden, weil die Bedrohungslage durch den Klimawandel klarer sei:
"Vor 40 Jahren hätte man bei Club of Rome gesagt: Also, wie schnell das überhaupt gehen muss, ob der überhaupt kommt, also, das ist überhaupt nicht greifbar. Das ist gut, wenn das eine Regierung macht, aber ob sie es macht, wie sie es macht und mit welche Mitteln oder sowas, alles offen. Je enger das Zeitfenster wird, je klarer die Folgen sind, je genauer man sie sich vorstellen kann, und auch zuordnen kann zu einzelnen Personen - desto mehr kommen wir auch durch die tatsächliche Entwicklung daran, dass wir sagen können, da werden die Rechte einzelner Menschen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen beschnitten."

Gerichte müssen Politiker kontrollieren

Genauso argumentiert auch Roda Verheyen: Dass sich eben Rechtspositionen änderten, weil das Leben und die Gesellschaft sich ändern würden. Dass Klagen aufgrund von Klimaproblemen zunähmen, weil die Bedrohungslage immer konkreter würde. Mehr und mehr gäbe es Einzelklagen von Bürgern. Und natürlich sei es nicht das Ziel, einen konkreten Grenzwert zu verankern, betont die Anwältin.
"Wir sagen: Du Gesetzgeber hast eine Norm erlassen, die willkürlich letztlich ist und die meine Rechte nicht ausreichend schützt. Und was ist der Antrag? Der Antrag ist nicht: mach genau 60 Prozent Reduktion. Der Antrag ist: Setz ein ordentliches Ziel. In einem ordentlichen, gesetzgeberischen Prozess."
Und aus ihrer Sicht sei es genau der Job der Gerichte, auch die Regierungen zu kontrollieren. Während sie spricht, malt Verheyen auf der Tischplatte vor sich mit den Händen ein Rechteck auf:
"Alle Klagen, die sich damit befassen, dass Gesetze ungenügenden Schutz bieten, alle diese Klagen beziehen sich darauf, dass auch Politik nicht in einem luftleeren Raum steht. Nämlich in Deutschland im Rahmen des Grundgesetzes zu erlassen sind die Gesetze, und im Europäischen Rahmen eben auf Grundlage und im Rahmen der Primärverträge und der europäischen Grundrechtecharta."
Wieder bewegen sich ihre Hände und bilden erneut einen Rahmen:
"Man befindet sich in einem sehr großen Bilderrahmen. Der Gesetzgeber kann ganz viel tun, nur in dem Bilderrahmen. Und er kann nicht unter den Bilderrahmen gehen und auch nicht zur Seite. Und zur Seite geht der Gesetzgeber in meinem Bild eigentlich immer, wenn er sich gar nicht wirklich damit auseinandersetzt, was er eigentlich zu tun hat."

Verstärkt die Verrechtlichung die Spaltung der Gesellschaft?

Der CDU-Staatssekretär Günter Krings sieht das zwar prinzipiell ähnlich. Doch seine Rechtsauffassung ist deutlich konservativer. Was sei durch einen Gesetzestext wirklich gedeckt? Was sei daraus ableitbar, was nicht? Natürlich entwickle sich die Rechtsprechung, aber dennoch müsse jede Entscheidung auf einen konkreten Gesetzestext rückführbar sein. Was gibt die Verfassung konkret vom Text her?
"Verfassungsstaat heißt, dass die Verfassung und der Verfassungstext ernst genommen werden muss und man keinen Wunschkatalog mental hinzufügen darf."
Für Krings besteht auch die Gefahr, dass Gerichtsverfahren mit klaren Entscheidungen die Gesellschaft spalten. Denn Gerichte können nicht zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Meinungen vermitteln, sie müssen eindeutig entscheiden.
Ist das so? Grenzt Politik durch Gerichte Gruppen aus, polarisiert das nicht die Gesellschaft?
Die Gefahr sei da, konstatiert Manuela Rottmann, aber sie sei nicht sehr groß. Natürlich würden in Gerichtsverfahren wenige für viele entscheiden. Natürlich müssten Gerichte nicht auf Vermittlung achten. Aber man müsse auch sehen: die Gerichte existieren nicht außerhalb der Gesellschaft. Rottmann führt ein Beispiel die Auseinandersetzungen um das sogenannte dritte Geschlecht an, die auch vor Gericht geführt werden:
"Man kann sagen, die einen sind zu ungeduldig, um auf diesen politischen Prozess zu warten, die sagen: ich hab die Schnauze voll, ich will nicht mehr warten, bis ich akzeptiert bin. Ich will es jetzt rechtlich durchsetzen. Das ist aber aus unser Rechtstradition eigentlich völlig legitim. Weil sozusagen mein individuelles Recht nicht zur Disposition der Mehrheit steht Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Boah, mich überfordert das. Jeder will irgendwas, jeder hat sein Spezialproblem und die Gerichte verhelfen dem auch noch zum Durchbruch."

Gesellschaftliche Diskurse brauchen Zeit

Aber Minderheitenrechte seien eben Rechte. Die man auch einfordern dürfe und müsse, um etwas zu verändern. Was sich auch in der Historie zeige: Weil Rosa Parks ihren für Weiße reservierten Sitzplatz im Bus nicht geräumt habe, folgten daraus auch viele juristische – und politische – Debatten und schließlich die offizielle Aufhebung der Rassentrennung in den USA. Es sei eine Gratwanderung. Wenn man immer mit allem warte, bis die Mehrheit eine Meinung gefunden habe, gleichzeitig aber die Machtverhältnisse zementiert seien, käme der gesellschaftliche Fortschritt schnell an sein Ende.
Und gleichzeitig sei es natürlich nicht so, als würde die juristische Auseinandersetzung die politische beenden, betont Rottmann:
"Es muss immer beides parallel laufen. Es ist auch nicht so, dass ein Gerichtsurteil aufheben kann, was in der Gesellschaft an Diskriminierung passiert. Die Frage: was ist Norm, was Ausnahme, worüber darf ich spotten, was ist tabu, ist ein Aushandlungsprozess. Das nimmt mir kein Gerichtsurteil ab."
Schließlich brauchten gesellschaftliche Diskurse Zeit und Raum. Man brauche nur auf Artikel 3 des Grundgesetzes schauen: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Manuela Rottmann sagt, dass Gerichtsverfahren und Urteile vielleicht sogar den Diskurs beschleunigen würden. Aber eben niemals komplett beenden:
"Mir geht es manchmal auch so, dass ich keine Lust habe zum zehnmillionsten Mal zu erklären, warum ein bestimmter Spruch in einer bestimmten Situation Frauen gegenüber schlecht ist. Oder sexistisch ist. Aber ich weiß auch: ich muss es tun. Da hilft mir kein Artikel 3, der ja nicht ganz so neu ist wie andere, sondern ich muss mich da durchquälen."

Auch die Sprache "verrechtlicht"

Auch Sascha Müller-Kraenner von der Deutschen Umwelthilfe spricht von langem Atem, quälend langsamen Verfahren, Debatten und endloser Geduld. Es sei ja nicht so, dass sein Verband einfach munter drauflos klage. Die Klagen stünden oft am Ende eines langwierigen Versuches, Politik zu bewegen. Er bringt ein Beispiel:
"Wir haben seit dem Jahr 1991 in Europa die sogenannte Nitratrichtlinie. Da geht es darum, die Nitratbelastung in der Regel aus der Landwirtschaft, aus der landwirtschaftlichen Düngung im Grundwasser und damit im Trinkwasser zu reduzieren. Da gibt's einen Grenzwert, die Richtlinie gilt seit 91, sie wird seit 91 in Deutschland nicht eingehalten. Und das ist ein sehr sehr konkretes Problem, das ist auch bekannt", betont Müller-Kraenner.
"Wir haben jetzt fast seit drei Jahrzehnten die Verpflichtung der Bundesregierung, hier ein Programm aufzulegen, was auch wirkt. Sie hat es nicht gemacht. Wir haben jetzt im letzten Jahr die Bundesregierung verklagt, ein solches Aktionsprogramm zu erlassen, was dann einen rechtskonformen Zustand herstellt. Das hat dann natürlich sofort genau zu dieser Gegenreaktion geführt: Warum sprecht ihr nicht erst mal mit uns? Und: Muss es den gleich auf dem Rechtsweg sein? Aber nein, das kam ja am Ende einer ganz, ganz langen Entwicklung."
Müller-Kraenner findet das nicht unbedingt gut. Auch weil ein zusätzliches Problem entsteht, wenn der Rechtsweg beschritten wird: ein sprachliches. Denn die Verrechtlichung bringt natürlich mit sich, dass sich am Ende nur noch Spezialisten Paragraphen, Vergleichsfälle und Gesetzesableitungen um die Ohren schlagen und damit den Normalbürger ausgrenzen.

Aus Bürgern wurden Kunden

Und so sind sich am Ende alle einig: Der parlamentarische Prozess, die öffentliche Erörterung von Argumenten, das Aushandeln und die friedliche Lösung von Konflikten – all das ist der Königsweg der Demokratie.
Doch wie kommt man dahin? Gesine Schwan will klarer unterscheidbare politische Positionen, mehr politischen Streit, mehr Debatte:
"Wenn man bedenkt, dass Demokratie eben nicht nur aus einer Verfassung, aus einem Institutionengefüge und aus organisierten Akteuren besteht, sondern auch aus dem, was man politische Kultur nennt, die Grundeinstellungen, Gewohnheiten, die Wertpräferenzen, auch die psychischen Fähigkeiten, die Bürgeraktivitäten usw., dann muss man darauf achten, glaube ich, dass eben diese kulturelle Seite nicht zu kurz kommt, sondern dass das dann durch öffentlichen Streit bestärkt wird."
Sie weiß aber auch, dass in Deutschland Konflikte, vor allem politischer Art, traditionellerweise oft nicht als Ausdruck politischer Kultur, sondern als etwas, was nur die Ordnung stört, angesehen werden. Das rühre daher, "dass Bürger im Zuge der Ökonomisierung des Denkens zu Kunden umformuliert wurden. In vieler Hinsicht. Dass sie den Parteien auf dem Markt der Angebote etwas abkaufen oder nicht."
Kunden und Käufer politischer Vorstellungen, nicht verantwortliche Bürger und Wähler.
Demonstrierende junge Menschen stehen in Hannover hinter einem Transparent mit der Aufschrift: "Wir streiken bis ihr handelt".
Bringt die "Fridays for Future"-Bewegung das Politische zurück?© picture alliance / Geisler-Fotopress / Patrick Graf
Gesine Schwan beobachtet aber in letzter Zeit – und sie hofft auch darauf – dass die politische Auseinandersetzung wieder Fahrt aufnimmt: die Klima-Demonstrationen der Schüler seien ein Beispiel.
"Dieses Grundverständnis des verantwortlichen Bürgers, der verantwortlichen Bürgerin kommt wieder in die Köpfe. Das war aber lange Zeit weg. Das war einfach Privatisierung. Das private Leben galt als zureichend und es war im Grunde der Bürger als Bourgeois, der vorherrschte. Und nicht als Citoyen. Und jetzt kommt, glaube ich, das andere wieder mehr nach vorne."
Anmerkung: Der Autor hat im Jahr 2018 den (undotierten) Umwelt-Medienpreis von der Deutschen Umwelthilfe verliehen bekommen.
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