F. Böckelmann, D. Leube: "Entkommen"

Kalenderweisheiten in aufgeblasenem Deutsch

Buchcover: "Entkommen oder Not macht erfinderisch" von Frank Böckelmann und Dietrich Leube. Im Hintergrund aufsteigende Luftblasen
Buchcover: "Entkommen oder Not macht erfinderisch" von Frank Böckelmann und Dietrich Leube © Die Andere Bibliothek / imago / Combo: Deutschlandradio
Von Pieke Biermann · 25.04.2017
Die Autoren Frank Böckelmann und Dietrich Leube wollten mit "Entkommen" ein "Brevier" für alle Notlagen verfassen. Das ist zwar edel aufgemacht, doch die Mischung aus unscharfen Begriffen und reaktionärer Botschaft sei einfach nur ärgerlich, urteilt unsere Rezensentin.
Die Titelwörter locken mit Denk-Stoff von aktueller Dringlichkeit: Entkommen – Not – Auswege. Der Rücken verspricht "eine Katastrophenerkundung", nicht durch ein investigatives Reporter-Duo, sondern zwei "originelle Kulturforscher", die ein "Brevier für alle Notlagen" zusammengestellt haben.
Knapp 400 Seiten, in der verlagstypisch edlen Aufmachung: gebunden, mit Lesebändchen und Schuber. Die schwarz-rot-goldene Farbgebung setzt sich innen fort. Das Inhaltsverzeichnis bietet sieben Kapitel mit überraschenden Titeln, zum Beispiel "Warten auf das Glück" und "In der Falle".
Auch die Unterkapitel klingen nach einem unkoventionellen, scheinbar Disparates verbindenden Zugriff: Die "Notlagen" sind nicht nur Naturkatastrophen oder menschengemacht wie Krieg, Seuchen und Flugzeugabstürze, auch "Exhibitionisten", "Hochstapler", "Unglücklich Liebende" kommen vor. Das klingt nach fröhlicher Wissenschaft, womöglich elegantem Witz.

Getarnte reaktionäre Botschaft

Sinnenfreuden auch beim Blättern: Alte Druckerfarbe duftet betörend, und die Nase liest ja mit. Die Augen freuen sich über keck gemischte Namen unter den Motti, nicht nur auf den goldenen Kapiteltrenner-Seiten – Kafka, Ungaretti, Schiller, Malthus, Kleist, Botho Strauß ... Moment? Doch, Frauen gibt's auch, im Kleingedruckten.
Gespannt stürzt man sich aufs Vorwort und – kommt aus dem Augenreiben nicht mehr raus. Da wuselt unkonturierte Begrifflichkeit durcheinander mit biederer Bauernkalenderweisheit, da raunt es in aufgeblasenem Deutsch von "der Katastrophe" und ihrem Pendant, dem "Wunder", von einer "Sehnsucht nach Überwältigung, die uns die Unschuld zurückbringt".
Das erzählende Plural-"Wir" oszilliert zwischen "maiestatis" und "modestiae". Und bald ahnt man, dass die ganze Unschärfe Absicht ist, um die klar reaktionäre Schärfe der Botschaft zu tarnen.
Nämlich, kurz und knapp: Wir haben keine Wahl, aber genau das versetzt uns in einen "Zustand der Gnade", das reine Glück ist "Enthobensein" durch Ausweglosigkeit. Alle Prävention ist bloß Abwehrzauber, schlimmer:
"Gerade die Zurüstung zur Rettung mit ihrer globalpolitischen Logistik hintertreibt die Rettung".

Eine ärgerliche Collage

Der Rest ist eine Collage aus originalen oder paraphrasierten "fremden Federn", allesamt inszeniert zum "Quod Erat Demonstrandum", das die Botschaft dummerweise oft konterkariert, zum Beispiel: Katastrophen sind unerwartbar. Beweis? Ursula von Kardoffs Berliner Aufzeichnungen 1942-45, als kaum etwas so erwartbar war wie Bombennächte. Entkommene, heißt es apodiktisch, erfuhren "dass ihnen Hausrezepte, Mutterwitz, Geduld und gutes Zureden nicht weiterhalfen". Sondern? Eine "wunsch- und albtraumartige Einfalt".
Ein seltsames Rezept angesichts der "Zeugin" Marie Jalowicz, die jahrelang mit Mutterwitz im Untergrund dem Holocaust getrotzt hat. Der übrigens kommt gar nicht erst vor als "Notlage", Jalowicz "QED"-iert unter "Alltag im Krieg".
Alles in allem: ein Ärgernis. Und dabei sind die einer wirklich stolzen Buchkunst unwürdigen Lektoratsschwächen und Korrekturfehler noch gar nicht mitgezählt.

Frank Böckelmann/Dietrich Leube: Entkommen oder Not macht erfinderisch. Auswege in Wort und Bild
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017
392 Seiten, 42 Euro

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